Der journalistische Beitrag der „Berliner Morgenpost“ berichtet über den Wirkstoff Semaglutid, der zur Behandlung für krankhaftes Übergewicht – Adipositas – zum Einsatz kommen soll. Es werden Daten aus der Zulassungsstudie genannt, außerdem kommen zwei unabhängige Experten zu Wort. Die neueste Studie, in der der Wirkstoff an übergewichtigen Jugendlichen getestet wurde, bezieht der Beitrag allerdings nicht ein. Nebenwirkungen sind nur unzureichend beschrieben. Und es fehlt der Hinweise darauf, dass die im Text vorgestellte klinische Studie vom Hersteller des Medikaments finanziert worden war, auch Interessenkonflikte einiger Studienautoren bleiben leider unerwähnt.
Zusammenfassung
Ein neues Medikament zur Behandlung krankhaften Übergewichts, der Adipositas, wird in einem Artikel der „Berliner Morgenpost“ vorgestellt. Dabei werden die positiven Effekte der Gewichtsreduktion zwar ansatzweise deutlich, ohne jedoch zu erklären, was die Gewichtsabnahme für die gesundheitlichen Folgen von Adipositas bedeutet. Auch wird nicht ausreichend über Risiken und Nebenwirkungen der Therapie berichtet. Es wird deutlich, dass das Präparat lediglich als Ergänzung zu einem geänderten Lebensstil sinnvoll zu einer Gewichtsabnahme führt. Auch wird klar, dass es sich um ein in Europa zugelassenes, recht neues Medikament handelt. Auf die Qualität der Belege wird allerdings nur kurz eingegangen. Insgesamt ist der Artikel interessant geschrieben, er dürfte Leserinnen und Leser durch den Verweis auf Prominente neugierig machen. Zudem geht der Text deutlich über die Pressemitteilung hinaus, zwei unabhängige Experten ordnen die Effekte des Medikaments ein.
Die Kriterien
1. Die POSITIVEN EFFEKTE sind ausreichend und verständlich dargestellt (NUTZEN).
Der Gewichtsverlust wird erklärt, wenn es etwa heißt: „(…)verloren die Teilnehmenden unter Semaglutid in 15 Monaten fast 15 Prozent ihres Gewichts.“ Anschaulicher wären allerdings konkrete Kilogramm-Angaben gewesen. Zuvor heißt es im Text recht allgemein: „Wenn wir Patientinnen und Patienten mit Typ-2-Diabetes zusätzlich zu einer Diät und körperlicher Bewegung Semaglutid verschreiben, sehen wir, dass diese merklich abnehmen.“ Es wird indes nicht deutlich, welche Patientengruppen davon profitieren. Interessant wäre noch die Streubreite der Ergebnisse gewesen: Haben einige Patienten sehr viel abgenommen, andere gar nicht, oder haben die allermeisten Patienten deutlich abgenommen? Es fehlt auch der Hinweis, dass der Wirkstoff bislang nicht an Menschen getestet wurde, die nicht an starkem Übergewicht leiden (BMI unter 27). Zumindest bei Mäusen war der Gewichtsverlust bei sehr fetten Nagern am größten (siehe hier). Möglicherweise ist der Nutzen also bei leicht übergewichtigen Menschen geringer. Leider geht der journalistische Beitrag auch nicht darauf ein, was der Gewichtsverlust für das Risiko von Folgeerkrankungen des krankhaften Übergewichts bedeuten, Herz-Kreislauf-Erkrankungen zum Beispiel oder Typ-2-Diabetes. Dies wäre noch eine hilfreiche Information für die Leserinnen und Leser gewesen. Daher werten wir insgesamt knapp „nicht erfüllt“.
2. Die RISIKEN & NEBENWIRKUNGEN werden angemessen berücksichtigt
Im Text wird zwar kurz auf das Thema eingegangen: „Das Medikament sollte nur unter ärztlicher Aufsicht und nach sorgfältiger Nutzen-Risiko-Abwägung eingesetzt werden. ‚Jeder, der das Medikament nimmt, hat anfangs mit starker Übelkeit zu kämpfen‘, betont Aberle, der auch Präsident der Deutschen Adipositas-Gesellschaft ist.“ Doch sind in der Fachpublikation zur STEP-1-Studie noch weitere Nebenwirkungen genannt: Durchfall und Verstopfung zum Beispiel, auch Gallensteine kamen öfter vor als in der Kontrollgruppe. Und drei Probanden erkrankten an einer leichten Bauchspeicheldrüsenentzündung.
Gerade weil auch im Text darauf hingewiesen wird, dass das Medikament „dauerhaft“ eingenommen werden muss, hätte man den möglichen Nebenwirkungen mehr Platz einräumen müssen, zumal noch völlig offen sein dürfte, was eine Einnahme über Jahre und Jahrzehnte an möglichen Risiken mit sich bringt. Wir werten daher insgesamt „nicht erfüllt“.
3. Es wird klar, ob eine Therapie/ein Produkt/ein Test VERFÜGBAR ist.
Der Text erklärt recht ausführlich, dass das Mittel in den USA und auch der EU zugelassen ist, es derzeit aber zu Lieferengpässen kommt: „Auch die Markteinführung in Deutschland lässt auf sich warten, da das Pharmaunternehmen auch durch die Promiwerbung kaum noch mit der Produktion hinterherkommt.“ Zur Verfügbarkeit in Deutschland heißt es: „Laut Aberle soll Wegovy zur unterstützenden Behandlung von Adipositas in Deutschland ab Mai oder Juni erhältlich sein.“
4. Es werden ALTERNATIVE Behandlungsarten/Produkte/Tests vorgestellt.
5. Die KOSTEN werden im journalistischen Beitrag in angemessener Weise berücksichtigt.
6. Es sind keine Anzeichen von Krankheitserfindungen/-übertreibungen zu finden (DISEASE MONGERING).
Die gesundheitlichen Folgen von Adipositas werden nicht dargestellt, daher auch nicht dramatisiert. Etwas übertrieben wirkt die Aussage, Semaglutid sei für Diabetespatienten „lebenswichtig“. Insgesamt werten wir jedoch „erfüllt“.
7. Der journalistische Beitrag ordnet die QUALITÄT der Belege/der Evidenz ein.
Der Beitrag informiert nicht über die Qualität der Studie, auf die er sich bezieht. Weder wird die Zahl der Teilnehmenden genannt, noch gibt es Angaben zum Studiendesign (Placebo-kontrolliert, Verblindung…) Es findet sich nur der Hinweis, dass es sich um eine „Zulassungsstudie“ handelt, das immerhin weist daraufhin, dass die Untersuchung qualitativ hochwertig war. Dass die Studie im renommierten „New England Journal of Medicine“ veröffentlicht wurde, dürfte nur medizinisch vorgebildeten Leserinnen und Lesern weiterhelfen. Laien dagegen werden mit dieser Information nichts anfangen können. Daher werten wir insgesamt „nicht erfüllt“.
8. Es werden UNABHÄNGIGE EXPERTEN oder QUELLEN genannt.
Mit Jens Aberle und Andreas Pfeiffer bezieht der Artikel zwei Experten ein, die nicht an der Studie beteiligt waren. Außerdem wird aus der Produktinformation der Arzneimittelzulassungsbehörde EMA zu Wegovy zitiert. Allerdings wäre es hilfreich gewesen, neben der Zulassungsstudie auch neuere Studien wie die STEP TEENS-Studie zu erwähnen.
9. Es werden, falls vorhanden, INTERESSENKONFLIKTE im Beitrag thematisiert.
Die im journalistischen Beitrag erwähnte Studie wurde vom Hersteller Novo Nordisk finanziert, mehrere Studienautoren geben das Unternehmen als Affiliation an. Zwar ist dies bei Zulassungsstudien von Medikamenten üblich, dass sie von den jeweiligen Pharmaunternehmen finanziert werden. Da dies jedoch den Leserinnen und Lesern nicht geläufig sein dürfte, hatte dies im Artikel erwähnt werden müssen.
10. Der Beitrag liefert Informationen zur EINORDNUNG der Thematik in einen Kontext (Neuheit, Ethik).
11. Der Beitrag gibt die wesentlichen Daten und Fakten korrekt wieder (FAKTENTREUE).
Wir haben keine Faktenfehler gefunden.
12. Der Beitrag geht über eine Pressemitteilung/das Pressematerial hinaus (JOURNALISTISCHE EIGENLEISTUNG).
Es werden zwei Experten einbezogen, die in der Pressemitteilung nicht vorkommen. Damit geht der Beitrag deutlich über das Pressematerial hinaus.
13. Ein Beitrag vermittelt ein Thema interessant und attraktiv (ATTRAKTIVITÄT DER DARSTELLUNG).
14. Der Beitrag ist für ein Laienpublikum verständlich (VERSTÄNDLICHKEIT).
15. Das THEMA ist aktuell, relevant oder ungewöhnlich. (THEMENAUSWAHL).
Das Thema ist zwar nicht mehr ganz neu, und es gab schon mehrfach Berichterstattung dazu (siehe auch unser Gutachten vom 16. Januar 2023). Allerdings ist das Interesse am Thema groß, auch angefacht durch den Social Media Hype und die Statements von Prominenten. Daher finden wir es berechtigt, das Thema nochmals aufzugreifen. Indes hätten wir uns gewünscht, dass die im Dezember 2022 publizierte Studie STEP TEENS als Anlass genommen worden wäre. Stattdessen wird sie im Artikel gar nicht erwähnt.