Bewertet am 16. Februar 2023
Veröffentlicht von: Berliner Morgenpost

Der journalistische Beitrag der „Berliner Morgenpost“ berichtet über den Wirkstoff Semaglutid, der zur Behandlung für krankhaftes Übergewicht – Adipositas – zum Einsatz kommen soll. Es werden Daten aus der Zulassungsstudie genannt, außerdem kommen zwei unabhängige Experten zu Wort. Die neueste Studie, in der der Wirkstoff an übergewichtigen Jugendlichen getestet wurde, bezieht der Beitrag allerdings nicht ein. Nebenwirkungen sind nur unzureichend beschrieben. Und es fehlt der Hinweise darauf, dass die im Text vorgestellte klinische Studie vom Hersteller des Medikaments finanziert worden war, auch Interessenkonflikte einiger Studienautoren bleiben leider unerwähnt.

Zusammenfassung

Ein neues Medikament zur Behandlung krankhaften Übergewichts, der Adipositas, wird in einem Artikel der „Berliner Morgenpost“ vorgestellt. Dabei werden die positiven Effekte der Gewichtsreduktion zwar ansatzweise deutlich, ohne jedoch zu erklären, was die Gewichtsabnahme für die gesundheitlichen Folgen von Adipositas bedeutet. Auch wird nicht ausreichend über Risiken und Nebenwirkungen der Therapie berichtet. Es wird deutlich, dass das Präparat lediglich als Ergänzung zu einem geänderten Lebensstil sinnvoll zu einer Gewichtsabnahme führt. Auch wird klar, dass es sich um ein in Europa zugelassenes, recht neues Medikament handelt. Auf die Qualität der Belege wird allerdings nur kurz eingegangen. Insgesamt ist der Artikel interessant geschrieben, er dürfte Leserinnen und Leser durch den Verweis auf Prominente neugierig machen. Zudem geht der Text deutlich über die Pressemitteilung hinaus, zwei unabhängige Experten ordnen die Effekte des Medikaments ein.

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Die Kriterien

1. Die POSITIVEN EFFEKTE sind ausreichend und verständlich dargestellt (NUTZEN).

Der Gewichtsverlust wird erklärt, wenn es etwa heißt: „(…)verloren die Teilnehmenden unter Semaglutid in 15 Monaten fast 15 Prozent ihres Gewichts.“ Anschaulicher wären allerdings konkrete Kilogramm-Angaben gewesen. Zuvor heißt es im Text recht allgemein: „Wenn wir Patientinnen und Patienten mit Typ-2-Diabetes zusätzlich zu einer Diät und körperlicher Bewegung Semaglutid verschreiben, sehen wir, dass diese merklich abnehmen.“ Es wird indes nicht deutlich, welche Patientengruppen davon profitieren.  Interessant wäre noch die Streubreite der Ergebnisse gewesen: Haben einige Patienten sehr viel abgenommen, andere gar nicht, oder haben die allermeisten Patienten deutlich abgenommen? Es fehlt auch der Hinweis, dass der Wirkstoff bislang nicht an Menschen getestet wurde, die nicht an starkem Übergewicht leiden (BMI unter 27). Zumindest bei Mäusen war der Gewichtsverlust bei sehr fetten Nagern am größten (siehe hier). Möglicherweise ist der Nutzen also bei leicht übergewichtigen Menschen geringer. Leider geht der journalistische Beitrag auch nicht darauf ein, was der Gewichtsverlust für das Risiko von Folgeerkrankungen des krankhaften Übergewichts bedeuten, Herz-Kreislauf-Erkrankungen zum Beispiel oder Typ-2-Diabetes. Dies wäre noch eine hilfreiche Information für die Leserinnen und Leser gewesen. Daher werten wir insgesamt knapp „nicht erfüllt“.

2. Die RISIKEN & NEBENWIRKUNGEN werden angemessen berücksichtigt

Im Text wird zwar kurz auf das Thema eingegangen: „Das Medikament sollte nur unter ärztlicher Aufsicht und nach sorgfältiger Nutzen-Risiko-Abwägung eingesetzt werden. ‚Jeder, der das Medikament nimmt, hat anfangs mit starker Übelkeit zu kämpfen‘, betont Aberle, der auch Präsident der Deutschen Adipositas-Gesellschaft ist.“ Doch sind in der Fachpublikation zur STEP-1-Studie noch weitere Nebenwirkungen genannt: Durchfall und Verstopfung zum Beispiel, auch Gallensteine kamen öfter vor als in der Kontrollgruppe. Und drei Probanden erkrankten an einer leichten Bauchspeicheldrüsenentzündung.

Gerade weil auch im Text darauf hingewiesen wird, dass das Medikament „dauerhaft“ eingenommen werden muss, hätte man den möglichen Nebenwirkungen mehr Platz einräumen müssen, zumal noch völlig offen sein dürfte, was eine Einnahme über Jahre und Jahrzehnte an möglichen Risiken mit sich bringt. Wir werten daher insgesamt „nicht erfüllt“.

3. Es wird klar, ob eine Therapie/ein Produkt/ein Test VERFÜGBAR ist.

Der Text erklärt recht ausführlich, dass das Mittel in den USA und auch der EU zugelassen ist, es derzeit aber zu Lieferengpässen kommt: „Auch die Markteinführung in Deutschland lässt auf sich warten, da das Pharmaunternehmen auch durch die Promiwerbung kaum noch mit der Produktion hinterherkommt.“ Zur Verfügbarkeit in Deutschland heißt es: „Laut Aberle soll Wegovy zur unterstützenden Behandlung von Adipositas in Deutschland ab Mai oder Juni erhältlich sein.“

4. Es werden ALTERNATIVE Behandlungsarten/Produkte/Tests vorgestellt.

Der Artikel macht deutlich, dass das Mittel eine Ergänzung zur etablierten Therapie von krankhafter Adipositas, um Gewicht zu verlieren – und auch, dass es dazu bisher kein vergleichbares Medikament gibt. Deutlich wird, dass Sport und Ernährungsumstellung allein kaum solche Gewichtsverluste erzeugen. Über andere Ansätze, die beim Abnehmen helfen sollen, deren Wirksamkeit oder Nichtwirksamkeit, erfährt man aber nichts. Hier wäre ein Exkurs zu früheren Hypes um Wundermittel zum Abnehmen (z.B. Leptin) interessant gewesen. Bei stark übergewichtigen Menschen werden auch Operationen zur Verkleinerung des Magens vorgenommen – eine Alternative, die hier ebenfalls nicht angesprochen wird. Allerdings findet sich zu Beginn des Artikels ein eingebettetes Video, das gesundes Abnehmen ab 40 verspricht. Wir werten alles in allem „knapp“ erfüllt.

5. Die KOSTEN werden im journalistischen Beitrag in angemessener Weise berücksichtigt.

Die Kosten werden gut erklärt: „Laut Aberle soll Wegovy zur unterstützenden Behandlung von Adipositas in Deutschland ab Mai oder Juni erhältlich sein. Kostenfaktor: vermutlich etwa 80 Euro pro Monat. Diese werden zwar von den Krankenkassen nicht übernommen, sind aber vergleichsweise niedrig. In der USA kostet Wegovy etwa das Zehnfache.“ Allerdings wäre es noch hilfreich gewesen, die Kosten von Ozempic, des Medikaments mit dem gleichen Wirkstoff für Typ-2-Diabetiker, zu erfahren. Daher werten wir nur knapp „erfüllt“.

6. Es sind keine Anzeichen von Krankheitserfindungen/-übertreibungen zu finden (DISEASE MONGERING).

Die gesundheitlichen Folgen von Adipositas werden nicht dargestellt, daher auch nicht dramatisiert. Etwas übertrieben wirkt die Aussage, Semaglutid sei für Diabetespatienten „lebenswichtig“. Insgesamt werten wir jedoch „erfüllt“.

7. Der journalistische Beitrag ordnet die QUALITÄT der Belege/der Evidenz ein.

Der Beitrag informiert nicht über die Qualität der Studie, auf die er sich bezieht. Weder wird die Zahl der Teilnehmenden genannt, noch gibt es Angaben zum Studiendesign (Placebo-kontrolliert, Verblindung…) Es findet sich nur der Hinweis, dass es sich um eine „Zulassungsstudie“ handelt, das immerhin weist daraufhin, dass die Untersuchung qualitativ hochwertig war. Dass die Studie im renommierten „New England Journal of Medicine“ veröffentlicht wurde, dürfte nur medizinisch vorgebildeten Leserinnen und Lesern weiterhelfen. Laien dagegen werden mit dieser Information nichts anfangen können.  Daher werten wir insgesamt „nicht erfüllt“.

8. Es werden UNABHÄNGIGE EXPERTEN oder QUELLEN genannt.

Mit Jens Aberle und Andreas Pfeiffer bezieht der Artikel zwei Experten ein, die nicht an der Studie beteiligt waren. Außerdem wird aus der Produktinformation der Arzneimittelzulassungsbehörde EMA zu Wegovy zitiert. Allerdings wäre es hilfreich gewesen, neben der Zulassungsstudie auch neuere Studien wie die STEP TEENS-Studie zu erwähnen.

9. Es werden, falls vorhanden, INTERESSENKONFLIKTE im Beitrag thematisiert.

Die im journalistischen Beitrag erwähnte Studie wurde vom Hersteller Novo Nordisk finanziert, mehrere Studienautoren geben das Unternehmen als Affiliation an. Zwar ist dies bei Zulassungsstudien von Medikamenten üblich, dass sie von den jeweiligen Pharmaunternehmen finanziert werden. Da dies jedoch den Leserinnen und Lesern nicht geläufig sein dürfte, hatte dies im Artikel erwähnt werden müssen.

10. Der Beitrag liefert Informationen zur EINORDNUNG der Thematik in einen Kontext (Neuheit, Ethik).

Im Artikel wird die Neuheit der Behandlung thematisiert: Der Text informiert über die Zulassungsdaten („Im Februar 2018 hatte der Wirkstoff für die Behandlung von Typ-2-Diabetes die Zulassung erhalten (…). 2021 folgte dann die Zulassung zur Behandlung von krankhaftem Übergewicht. Neuer Medikamentenname: Wegovy mit deutlich erhöhter Dosierung“). Es wird zudem darüber berichtet, dass der Hype um den Wirkstoff die Verfügbarkeit für Diabetiker gefährdet. Damit wird ein ethischer Aspekt des Themas zumindest indirekt angesprochen.

11. Der Beitrag gibt die wesentlichen Daten und Fakten korrekt wieder (FAKTENTREUE).

Wir haben keine Faktenfehler gefunden.

12. Der Beitrag geht über eine Pressemitteilung/das Pressematerial hinaus (JOURNALISTISCHE EIGENLEISTUNG).

Es werden zwei Experten einbezogen, die in der Pressemitteilung nicht vorkommen. Damit geht der Beitrag deutlich über das Pressematerial hinaus.

13. Ein Beitrag vermittelt ein Thema interessant und attraktiv (ATTRAKTIVITÄT DER DARSTELLUNG).

Der Artikel macht gleich zu Anfang neugierig, mit den Verweisen auf Prominente wie Elon Musk und Kim Kardashian. Dass Medikament dann gleich als „Abnehmspritze der Stars“ zu betiteln, unterstützt allerdings zumindest teilweise den Eindruck, es ginge nur um einen Schlankheitswahn, obwohl es eigentlich um die Behandlung von Adipositas und Typ-2-Diabetes geht. Immerhin aber weist der Artikel selbst mehrfach darauf hin, welchen Zweck die Therapie tatsächlich erfüllt. Insgesamt ist der Text flüssig geschrieben und gut lesbar. Daher werten wir insgesamt knapp „erfüllt“.

14. Der Beitrag ist für ein Laienpublikum verständlich (VERSTÄNDLICHKEIT).

Der Beitrag informiert verständlich über den Kenntnisstand zu Semaglutid. Der Wirkmechanismus wird – wenn auch sehr knapp – erklärt, und darauf hingewiesen, dass es sich um ein Medikament handelt, das unter ärztlicher Aufsicht eingenommen werden sollte. Vereinzelt erscheint die Beschreibung des Wirkmechanismus etwas schwer verständlich, wenn es etwa heißt: „Allerdings kann der verschreibungspflichtige GLP-1-Rezeptor-Agonist Semaglutid Adipositas-Erkrankte unterstützen, indem er das Hungergefühl reduziert und die Sättigung erhöht. GLP-1 (Glucagon-like Peptide-1) ist ein Hormon, das im Körper natürlich vorkommt und dort für genau diese Effekte sorgt. GLP-1-Rezeptor-Agonisten ahmen dessen Wirkung im Körper nach.“ Alles in allem werten wir aber noch „knapp“ erfüllt.

15. Das THEMA ist aktuell, relevant oder ungewöhnlich. (THEMENAUSWAHL).

Das Thema ist zwar nicht mehr ganz neu, und es gab schon mehrfach Berichterstattung dazu (siehe auch unser Gutachten vom 16. Januar 2023). Allerdings ist das Interesse am Thema groß, auch angefacht durch den Social Media Hype und die Statements von Prominenten. Daher finden wir es berechtigt, das Thema nochmals aufzugreifen. Indes hätten wir uns gewünscht, dass die im Dezember 2022 publizierte Studie STEP TEENS als Anlass genommen worden wäre. Stattdessen wird sie im Artikel gar nicht erwähnt.

Medizinjournalistische Kriterien: 11 von 15 erfüllt

Abwertung um einen Stern (von 4 auf 3), da fünf Kriterien nur knapp „erfüllt“ gewertet wurden.

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Kriterium erfüllt

Kriterium nicht erfüllt

Kriterium nicht anwendbar