Bewertet am 16. Januar 2023
Veröffentlicht von: Hannoversche Allgemeine Zeitung

Ob sich das neue Medikament Semaglutid als Lifestyle-Medikament gegen Übergewicht eignet, wird im vorliegenden journalistischen Beitrag des Redaktionsnetzwerks Deutschland (RND) in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung diskutiert. Im Artikel werden zwei wissenschaftliche Studien erwähnt und die Therapie von zwei Experten eingeordnet, die nicht an den Studien beteiligt waren. Der Artikel ist attraktiv geschrieben, gut verständlich, allein der Nutzen etwas irreführend dargestellt. Der Aspekt der Interessenkonflikte wird leider nicht hinreichend dargestellt.

Zusammenfassung

Im journalistischen Beitrag der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung wird das wichtige Thema „Übergewicht“ aufgegriffen. Im Einstieg wird mit Elon Musk sogleich eine Reizfigur erwähnt, die das Thema auch auf der Lifestyle-Ebene interessant macht. Verkürzte Aussagen wie „Spritz dich schlank“ und „Gamechanger“ werden im Text elegant eingesetzt und eingeordnet. Nach dem eher lockeren Einstieg folgt ein vor allem sachlicher Text, in dem das bereits zur Therapie von Typ-2-Diabetes zugelassene Medikament Semaglutid in seiner neuen Indikation zur Gewichtsreduktion bei Menschen mit Adipositas vorgestellt wird. Dabei bezieht sich der Beitrag auf zwei hochwertige wissenschaftliche Studien. Allerdings geht der journalistische Beitrag nur sehr kurz auf den genauen Nutzen der Therapie und die Aussagekraft dieser Untersuchungen ein. Immerhin werden zur Einordnung der Thematik Zahlen zu Übergewicht weltweit genannt, und es kommen zwei Experten zu Wort, die nicht an den Studien beteiligt waren. Der Artikel geht im Weiteren auch auf die Risiken, Nebenwirkungen und Unsicherheiten von Semaglutid sowie Alternativen ein. Interessenkonflikte werden leider nicht angesprochen: Beide Studien wurden vom Hersteller des Medikaments finanziert (Novo Nordisk), und beide Experten haben in der Vergangenheit Honorare von Novo Nordisk erhalten.

Title

Die Kriterien

1. Die POSITIVEN EFFEKTE sind ausreichend und verständlich dargestellt (NUTZEN).

Der positive Nutzen einer Semaglutid-Therapie wird zwar benannt und quantifiziert: Es handelt sich um eine relativ neue medikamentöse Therapie, die einer bestimmten Gruppe von Menschen mit Adipositas helfen könnte. Allerdings hätte der Autor zur Einordnung des Nutzens die beiden Studien deutlicher voneinander unterscheiden sollen. In der Studie von 2021 wurden Erwachsene mit Adipositas untersucht, in der aktuellen Studie hingegen Jugendliche, im Alter von 12 bis 18 Jahren. Deren Ergebnisse lassen sich nicht uneingeschränkt auf die erwachsene Bevölkerung übertragen – das hätte erwähnt werden müssen. Zudem wurde für den journalistischen Beitrag eine Gruppe von Jugendlichen aus der Studie ausgewählt, die einen besonders hohen Gewichtsverlust hatte: ein Drittel der Probanden hatte eine Gewichtsreduktion von „mindestens 20 Prozent“. Besser wäre gewesen, die Ergebnisse der zwei Studienziele separat zu beschreiben und die Ergebnisse in absoluten Zahlen (auch durch konkrete Kilogrammangaben des Gewichtsverlustes) darzustellen und nicht nur mit relativen Angaben als Prozentwerte. Zum einen die BMI-Reduktion nach 68 Wochen in der Semaglutid- und der Placebogruppe. Das Ergebnis: Der BMI in der Semaglutid-Gruppe war im Mittel um 16 Prozent zurückgegangen und in der Placebogruppe um 0,6 Prozent gestiegen. Zum anderen die Frage, wie viele Probanden in den zwei zu vergleichenden Gruppen mindestens fünf Prozent an Körpergewicht verloren hatten. Das Ergebnis: In der Semaglutid-Gruppe waren es 73 Prozent (95 von 131 Teilnehmenden) und in der Placebo-Gruppe 18 Prozent (11 von 62 Teilnehmenden). Daher werten wir insgesamt nur knapp „NICHT ERFÜLLT“.

2. Die RISIKEN & NEBENWIRKUNGEN werden angemessen berücksichtigt

Der journalistische Beitrag geht ausführlich auf Risiken und Nebenwirkungen, ebenso wie auf offene Fragen dazu, auch wenn eine Aussage Leserinnen und Leser in die Irre führen kann. So werden Nebenwirkungen aufgezählt wie Übelkeit und Erbrechen, ebenso wie Erkrankungen der Bauchspeicheldrüse und Gallenblase. Auch eine mögliche Tumorbildung in der Schilddrüse, die sich in Tierversuchen gezeigt habe, wird benannt. Zudem stellt der Beitrag klar, dass bislang nicht genug über die Langzeitwirkung bekannt ist. Zur zusätzlichen Einordnung kommt als Experte Harald Schneider von der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie zu Wort: „Die unkontrollierte Anwendung ohne Indikation ist mit Risiken und Nebenwirkungen verbunden.“ Problematisch ist, dass der Artikel den Eindruck erweckt, dass diese Nebenwirkungen nur bei unkontrollierter Anwendung auftreten könnten, obwohl sie auch bei kontrollierter Anwendung auftreten können. Wichtig ist indes folgender Hinweis: „Diese Medikamente sollten nur spezialisierte Ärztinnen und Ärzte verschreiben – und auch nur, wenn die medizinische Notwendigkeit besteht und die Anwendung in der Folge sorgfältig überwacht wird.“ Allerdings wäre es noch hilfreich gewesen zu erfahren, wie oft die verschiedenen Nebenwirkungen auftreten. Daher werten wir nur knapp „ERFÜLLT“.

3. Es wird klar, ob eine Therapie/ein Produkt/ein Test VERFÜGBAR ist.

Die letzte Zwischenzeile des Artikels lautet: „Adipositasmedikament noch nicht in Deutschland erhältlich“. Damit ist klar, dass die Arznei für die Indikation Gewichtsverlust bei Adipositas zwar in den USA verfügbar ist, nicht aber in Deutschland. Auch werden Leserinnen und Leser, wenn auch nur vage darüber informiert, dass Semaglutid bereits seit Anfang 2022 auch in Deutschland für die Therapie der Adipositas zugelassen ist: „Seit zwei Jahren ist es in den USA für Menschen mit Adipositas zugelassen – und hat seinen Weg mittlerweile auch nach Europa gefunden, wo es unter der Bezeichnung „Ozempic“ bekannt ist.“ Doch wird auch erwähnt, dass es den Patienten in Deutschland noch nicht zur Verfügung steht: „Doch wie es aussieht, müssen sie sich noch weiter in Geduld üben.“ Es wird also nicht klar, dass die Arznei zwar in der EU zugelassen, aber in Deutschland noch nicht erhältlich ist, vermutlich weil das Pharmaunternehmen zunächst den lukrativen US-Markt versorgen möchte. Da diese Information, gerade angesichts der hohen Kosten der Therapie, für Patientinnen und Patienten sehr relevant ist, werten wir knapp „NICHT ERFÜLLT“.

4. Es werden ALTERNATIVE Behandlungsarten/Produkte/Tests vorgestellt.

Im journalistischen Beitrag kommt der Adipositas-Experte Matthias Blüher von der Universität Leipzig zu Wort. Er schildert das Problem, dass es nur wenige medikamentöse Therapien für Adipositas-Erkrankte gibt, die zudem oft starke Nebenwirkungen haben. Auch wird im Artikel auf das Problem eingegangen, dass sich manche Betroffene aufgrund ihres starken Übergewichts operieren lassen. Weniger ausführlich wird allerdings auf die Ernährung und Bewegung sowie Psycho- oder Verhaltenstherapie eingegangen, Themen, die in diesem Kontext eine wichtige Rolle spielen. Daher werten wir nur knapp „ERFÜLLT“.

5. Die KOSTEN werden im journalistischen Beitrag in angemessener Weise berücksichtigt.

Der Beitrag benennt konkret den Preis der Therapie (1000 US-Dollar), kann allerdings nur auf die Höhe der Kosten in den USA eingehen, da das Medikament in Deutschland für die Indikation nicht verfügbar ist. Auch wird erwähnt, dass das Medikament womöglich ein Leben lang genommen werden muss. Denn die Patientinnen und Patienten nehmen vermutlich wieder an Gewicht zu, wenn sie die Therapie beenden (wobei hierzu noch die Langzeitergebnisse fehlen, wie auch im Text erklärt wird). Ob der Preis in Deutschland ähnlich hoch sein wird wie in den USA, ist unklar, auch das thematisiert der Artikel ebenso wie den Aspekt, dass die Patienten die Kosten voraussichtlich selbst tragen müssen.

6. Es sind keine Anzeichen von Krankheitserfindungen/-übertreibungen zu finden (DISEASE MONGERING).

In dem Beitrag werden die gesundheitlichen Risiken von Übergewicht und Adipositas anhand von WHO-Zahlen dargestellt. Hier hätte man allerdings noch mehr zwischen Übergewicht und Adipositas unterscheiden und somit die Risiken relativieren können. Auch wäre es interessant gewesen, zu sehen, wie die Zahlen für Deutschland aussehen. Daher werten wir nur knapp „ERFÜLLT“.

7. Der journalistische Beitrag ordnet die QUALITÄT der Belege/der Evidenz ein.

Die Studienlage wird so zusammengefasst: „Dass sich so tatsächlich Gewicht abnehmen lässt, hatte Mitte Dezember vergangenen Jahres eine Studie im ‚New England Journal of Medicine´ gezeigt: Bei einem Drittel der 12- bis 18‑jährigen Teilnehmenden, die das Medikament mehr als ein Jahr lang verwendet hatten, verringerte sich das Körpergewicht um mindestens 20 Prozent – wenn zusätzlich der Lebensstil geändert wurde. Ähnliche Ergebnisse hatte vor zwei Jahren eine Studie mit Erwachsenen geliefert.“ Der journalistische Beitrag geht dabei nicht darauf ein, dass die beiden zitierten Studien als doppelverblindete, randomisierte, Placebo-kontrollierte Untersuchungen einem hohen Standard entsprechen und eine hohe Aussagekraft besitzen, erläutert die Qualität der Studien also nicht. Daher werten wir insgesamt „NICHT ERFÜLLT“.

8. Es werden UNABHÄNGIGE EXPERTEN oder QUELLEN genannt.

Im journalistischen Beitrag kommen zwei deutsche Experten zu Wort, die nicht an den Originalstudien beteiligt sind: Harald J. Schneider ist Sprecher der Sektion Angewandte Endokrinologie von der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie, Matthias Blüher ist Leiter der Adipositas-Ambulanz für Erwachsene an der Uniklinik Leipzig.

9. Es werden, falls vorhanden, INTERESSENKONFLIKTE im Beitrag thematisiert.

Der Artikel thematisiert nicht, dass es sich bei beiden Studien um Hersteller-finanzierte Untersuchungen handelt, obwohl das in den wissenschaftlichen Publikationen nachzulesen ist: „Funded by Novo Nordisk; STEP TEENS ClinicalTrials.gov number, NCT04102189″ (Studie mit Jugendlichen 2022) und „Funded by Novo Nordisk; STEP 1 ClinicalTrials.gov number NCT03548935″ (Studie mit Erwachsenen, 2021). Auch auf die Interessenkonflikte der zu Wort kommenden Experten geht der Beitrag nicht ein. Harald Schneider hat in der Vergangenheit Vortragshonorare von Novo Nordisk erhalten (siehe hier) und auch Matthias Blüher hat Honorare von Novo Nordisk erhalten (siehe hier). Das hätte im Artikel erwähnt werden sollen. Daher werten wir insgesamt „NICHT ERFÜLLT“.

10. Der Beitrag liefert Informationen zur EINORDNUNG der Thematik in einen Kontext (Neuheit, Ethik).

Gleich zu Beginn des Textes wird deutlich, dass Semaglutid bereits seit längerem zur Behandlung von Diabetes Typ 2 eingesetzt wird. Auch wird klar, dass die Anwendung als Arzneimittel gegen Übergewicht relativ neu ist, nämlich erst seit zwei Jahren in den USA so zugelassen ist und „seinen Weg“ „mittlerweile“ auch nach Europa gefunden habe. Der Experte Blüher betont in seinem Statement, dass die medikamentöse Therapie von Adipositas „lange Zeit sehr schwierig in Deutschland“ war und man „dringend nach Medikamenten gesucht“ habe, „die besser verträglich und wirksamer sind“. Auch ethische Fragestellungen, nämlich die Nutzung aus Lifestyle-Gründen, werden angerissen: „(…) doch warnte die Deutsche Gesellschaft für Endokrinologie (DGE) zuletzt davor, es als Lifestylemedikament anzusehen und unkontrolliert zu nutzen.“

11. Der Beitrag gibt die wesentlichen Daten und Fakten korrekt wieder (FAKTENTREUE).

Die wesentlichen Fakten sind in dem Beitrag richtig, ausführlich und verständlich wiedergegeben. Im Konkreten: Die ursprüngliche Zulassung als Diabetes-Medikament, die neue Zulassung zur Therapie von Adipositas, hier werden im Artikel auch die konkreten Einschränkungen angegeben („Die Anwendung setze entweder einen Body-Mass-Index (BMI) von 27 oder höher mit mindestens einer gewichtsbedingten Begleiterkrankung wie Bluthochdruck voraus oder einen BMI von 30 oder höher, jeweils in Verbindung mit einer kalorienreduzierten Diät und erhöhter körperlicher Aktivität“. Allerdings greift der journalistische Beitrag eine Gruppe aus der Studie an Jugendlichen, die 20 Prozent ihres Körpergewichts im Rahmen der Studie verlor, also besonders viel. Das verfälscht den Gesamteindruck der Studienergebnisse und lässt eine höhere Wirksamkeit der Therapie vermuten als sie im Durchschnitt tatsächlich beobachtet wurde. Daher werten wir nur knapp „ERFÜLLT“.

12. Der Beitrag geht über eine Pressemitteilung/das Pressematerial hinaus (JOURNALISTISCHE EIGENLEISTUNG).

Der Artikel geht deutlich über die Pressemitteilung von der University of Pittsburgh hinaus: etwa im Einstieg mit der breiten Nutzung in den USA wie etwa von Elon Musk und der Einordnung durch WHO-Zahlen, mit der Diskussion um den BMI und die Zitate von Experten, die nicht an den Originalstudien beteiligt waren.

13. Ein Beitrag vermittelt ein Thema interessant und attraktiv (ATTRAKTIVITÄT DER DARSTELLUNG).

Das Thema ist interessant und gut verständlich dargestellt. Insbesondere der Einstieg mit Elon Musk als Reizfigur könnte auch Leser*innen in den Text ziehen, die sich ansonsten möglicherweise weniger für Übergewicht oder Adipositas interessieren. Schön wäre am Ende noch eine Klammer mit Elon Musk gewesen, für den 1000 Dollar pro Spritze kein Problem darstellen, der aber scheinbar die Arznei eben doch als Lifestyle-Medikament einsetzt, also genau das tut, wovor die Experten warnen. Auch mit der provokativen Kurzzusammenfassung „Spritz dich schlank“ wählt der Beitrag eine griffige Formel. Im weiteren Verlauf ist der Text sehr sachlich gehalten, was dem Thema allerdings angemessen erscheint.

14. Der Beitrag ist für ein Laienpublikum verständlich (VERSTÄNDLICHKEIT).

Der Beitrag ist sehr klar und verständlich geschrieben, die Wirkweise der Arznei wird nachvollziehbar beschrieben, medizinische Begriffe bei der Einführung erläutert. Der Artikel ist klar strukturiert durch einen eher leichten Einstieg, eine provokante These und die nachfolgende Erklärung des Problems, der neuen Erkenntnisse, der Vor- und Nachteile. Auch die Überschrift macht deutlich, dass es sich nicht um ein neues Wundermittel handelt, wenn es in der Themenzeile heißt „Kein Lifestylemedikament“ und die Überschrift die Frage aufwirft: „Semaglutid: Ist dieses Medikament der ersehnte ‚Gamechanger` bei Adipositas?“

15. Das THEMA ist aktuell, relevant oder ungewöhnlich. (THEMENAUSWAHL).

Das Thema ist sowohl durch die Ende 2022 im Fachblatt New England Journal of Medicine veröffentlichte Studie aktuell. Die Empfehlung von Elon Musk, das Medikament einzunehmen, stellt ebenfalls einen Anlass für eine Berichterstattung dar. Relevant ist die Thematik vor allem vor dem Hintergrund der Milliarden Menschen mit Übergewicht weltweit, auch in Deutschland ist dieses Problem gewaltig. Ungewöhnlich hingegen ist das Thema nicht, zahlreiche Medien haben es nach der Studie und vor allem nach Musks Äußerungen aufgenommen.

Medizinjournalistische Kriterien: 10 von 15 erfüllt

Title

Kriterium erfüllt

Kriterium nicht erfüllt

Kriterium nicht anwendbar