Praxisberichte 9 – Eminenz, Evidenz und Ehrlichkeit: Medizinthemen in den Redaktionen verkaufen

Wie schafft man es, Themen in Redaktionen unterzubringen? Worauf sollten Autoren mit Medizin und Gesundheitsthemen achten? Volker Stollorz gibt Tipps, was gute Medizinjournalisten ausmacht. Ein Plädoyer für kompetenten, einordnenden Journalismus abseits der oberflächlichen, zu schnellen, mehr auf Gerüchten, Spekulationen und Hypes basierenden Berichterstattung.

Von Volker Stollorz

Das ABC – und damit die Kunst des Journalismus’ – bestehe im Kern darin, A wie Auflage, B wie Bedeutung und das alltägliche C wie Chaos in einer Redaktion in eine vernünftige Balance zu bringen, sagte der ehemalige Chefredakteur der 2001 leider eingestellten Zeitung „Die Woche“ gerne. Auf den Medizinjournalismus übertragen bedeutet das für die wenigen Journalisten in diesem Metier den Versuch einer Quadratur des Kreises, gilt es doch mit möglichst relevanten Themen ein Publikum zu fesseln, das nicht nur aus Patienten besteht.

Wer Krebs für geheilt erklärt oder eine Wunderdiät anpreist, der weckt damit zwar zuverlässig Aufmerksamkeit für die ewige Wunderkammer Wissenschaft, kann aber kaum alle Qualitätskriterien wie die des Medien-Doktors beherzigen. Krebs wirklich heilen konnte bis heute keine Zeitung, voreilige Hoffnungsmeldungen können aber das Vertrauen in Journalismus dauerhaft untergraben. Es ist ein schmaler Grad zwischen Schlagzeilen wie „Schockdiagnose: Mein Bierbauch war ein Tumor“ (1)(A, aber kein B, weil absoluter Einzelfall) und dem nüchternen Text mit dem Titel „Gefährliche Therapie“ (2), hinter dem sich eine für Frauen in den Wechseljahren unerhörte Botschaft über die Risiken einer langjährigen Hormontherapie verbarg (B, aber weniger A). Die fehlende Dramatik der Überschrift mag ein Grund gewesen sein, warum der damalige Spätdienst der Zeitung die „Gefährliche Therapie“ flugs zum Titel „Tödliche Therapie“ umtextete (A und B, aber Chaos im Kopf von Leserinnen in den Wechseljahren). Noch kniffliger wird es bei Berichten über strukturelle Qualitätsprobleme in der medizinischen Versorgung: Wer darüber schreiben will und dabei nicht ein Wort wie Ärztepfusch im Titel führt, wird es mit der Verknüpfung von A und B schwerer haben.

Ein Thema zu skandalisieren, zu personalisieren und darüber zu moralisieren sind erprobte journalistische Routinen, die leider einer wahrhaftigen Einordnung (Kontextualisierung) wichtiger Themen im Weg stehen können. Das doppelte Dilemma des Medizinjournalismus’ bleibt, einerseits das Medizinsystem kritisch zu beobachten, etwa mit Blick auf Missstände und Versorgungsdefizite (B); andererseits aber konkrete Orientierungshilfen für Patienten liefern zu müssen. Für Patienten, die zunehmend wissen wollen, wo sie ihrem Arzt (noch) vertrauen können in Zeiten der zunehmenden Ökonomisierung der Medizin (A) und natürlich frühzeitig von echten Fortschritten erfahren wollen.

Timing, Relevanz und Kompetenz

Wie kann ein Autor die mediale Logik der Aufmerksamkeitssteuerung für seine Geschichten nutzen? Ein Weg ist, das C, also das Chaos in den knapp besetzten Redaktionen, durch perfektes Timing auszunutzen. Wichtige Themen zeitlich genau dann zu platzieren, wenn sie eher auffallen im Nachrichtenstrom. Wer beim rechten Timing zudem darauf achtet, seine Thesen mit der Lebenswirklichkeit der Bürger rückzukoppeln, erhält leichter Zugang. Aber Achtung: Nicht alles, was aktuell verkündet wird, ist wirklich neu oder auch nur relevant.

Ein zweiter seriöser Weg ist die Suche nach echten „A plus B“-Geschichten, die in allen Redaktionen Anklang finden. Leider gleichen solche Themen einem scheuen Reh, bei dem der Journalist für die Jagd Erfahrung, Zeit und Ressourcen mitbringen muss. Beispiele wären etwa Geschichten über Behandlungsfehler, in denen nach den systemischen Ursachen und Fehlanreizen im Medizinbetrieb gesucht wird. Oder Berichte, in denen der meist überschätzte Nutzen von Früherkennungsuntersuchungen relativiert wird, oder in denen dokumentiert wird, warum ihn selbst Ärzte regelmäßig überschätzen.

Bleibt drittens das wichtigste Pfund, mit dem Medizinjournalisten bei Redaktionen wuchern können: Es ist ihre eigene Kompetenz in der Sache selbst, über die sie schreiben. Selbst vergleichsweise sicheres Wissen wird im Informationszeitalter auch in der Medizin paradoxerweise zu einer knappen Ressource, weil Gerüchte und Nichtwissen durch weite Verbreitung Anerkennung erlangen können. Glauben kann Wissen schlagen. Hinzu kommt, dass Experten und Institutionen manchmal Unsinn verbreiten und damit die Wahrheitsinflation anheizen. Es ist ein bisschen so wie bei einer Geldentwertung, wenn zu viele Geldscheine gedruckt werden. Je häufiger sich widersprechende Wahrheitsbehauptungen von Institutionen in Umlauf gebracht werden, desto weniger wertvoll erscheint die einzelne Wahrheit, Vertrauen geht verloren. Schon rein logisch kann nicht alles über Alzheimer wahr sein, was in den Fachzeitschriften und Pressemitteilungen Woche für Woche vermeldet wird.

Das Vertrauen in die Themenselektion, also die Fähigkeit das ABC im Nachrichtenstrom in Einklang zu bringen, müssen sich Journalisten und Redaktionen mühsam durch Erfahrung erarbeiten – bei Medizinthemen am besten durch den Einsatz von Werkzeugen zur Überprüfung von Evidenz. Vertrauen in Journalismus ist letztlich das Ergebnis professioneller Routinen, bei denen die darstellbare Komplexität am Ende von der Größe des Publikums abhängt, das man erreichen will.

Wie Journalisten Vertrauen aufbauen

Wie aber entsteht dauerhaftes Vertrauen in guten Medizinjournalismus? Ich sehe frei nach dem Kommunikationswissenschaftler Matthias Kohring (3) vier entscheidende Dimensionen: Da wäre als erste Dimension zunächst das Vertrauen in die Themenselektivität, die Frage also, ob ein Autor und die Redaktion die für das Publikum relevanten Medizingeschichten auswählt. Beim Faktor Relevanz müssen freie Autoren oft hartnäckig werben, wenn A und B auseinanderklaffen. Ein gutes Beispiel sind Geschichten über Fälschung in der Forschung, die für Redaktionen extrem riskant sind und für Autoren erheblichen Rechercheaufwand bedeuteten, aber beim Publikum kaum Aufmerksamkeit erregen. Gerade diese kritische Berichterstattung ist aber für die Gesellschaft besonders relevant, wenn sich das System Wissenschaft selber nicht in der Lage sieht, Konsequenzen zu ziehen und Fälscher weiter forschen können, in der Medizin sogar manchmal an Patienten.

Ebenso wichtig ist das Vertrauen in die Faktenselektivität, die zweite Dimension: Stellt ein Bericht die entscheidenden Tatsachen in aller Kürze dar? Oder besteht er bloß aus Spekulationen und Hypothesen, die im Labor erhobene Daten zu klinischen Weisheiten am Krankenbett aufblasen? Ein Blick auf die Leitlinien der Behandlung einer Krankheit kann helfen, ein neues Studienergebnis fachlich korrekt einzuordnen, etwa mit Blick auf den zusätzlichen Nutzen oder unerwartete Risiken. Gerade bei der Überzeugungsarbeit für Medizinthemen in Chefredaktionen kann der Medien-Doktor – neben dem Ausweis der eigenen Kompetenz – als ein Qualitätssiegel wirken. Weil hier Kriterien sichtbar werden, die für eine gute Medizinberichterstattung im Interesse des Publikums unerlässlich sind. Wer auf unglückliche journalistische Beispiele aus dem Medien-Doktor-Fundus verweist, kann zum Beispiel in Lokalredaktionen punkten, für die es eher peinlich ist, wenn sich selbst lokale Chefärzte über irreführende Berichterstattung erregen. Oder auffällt, dass eine Pressemitteilung der lokalen Klinik als journalistischer Beitrag verkauft wurde.

Als dritte Dimension entsteht Vertrauen durch zutreffende Beschreibungen, einen Sachverhalt für das Publikum so zu beschreiben, wie er ist. So war es für Wissenschaftsjournalisten in der EHEC-Krise zu einem bestimmten Zeitpunkt anhand der vorliegenden Daten klar absehbar, dass die Zahl der Neuinfizierten nicht länger ansteigt, die Zahl der Erkrankten aber sehr wohl. Aus den weiter steigenden absoluten Fallzahlen auf eine weitere Ausbreitung der Seuche herzuleiten, war also schlicht keine zutreffende Beschreibung der Seuchenlage, weil dabei ignoriert wird, dass zwischen Ansteckung und Krankheit einige Tage vergehen. Das kann man wissen. Vereinfacht ausgedrückt bedeutet das: Schreibe als Journalist nichts, von dem du schon vor Abdruck weist, dass es nicht stimmen kann.

Am schwierigsten zu erreichen ist als vierte Dimension das Vertrauen in die eigenen Bewertungen, die Journalismus liefern sollte. Im Medizinjournalismus hilft es hier oft kaum weiter, sich durch Eminenzen oder das beliebte Format der Gegenüberstellung verschiedener Expertenaussagen nach dem Motto „Er sagt, sie sagt“ neutral aus der Affäre zu ziehen. Wo Evidenz und sicheres Wissen verfügbar sind, greift der beliebte „View from Nowhere“ – die journalistische Objektivitätsnorm – zu kurz. Ein guter Medizinjournalist nutzt den Schatz der Objektivität im Kern selbst für eine Bewegung, bei der er oder sie im Grunde wie ein Kameramann von einer Szene in die Totale zoomt, um den Kontext der Geschichte sichtbar zu machen: „Ich bin hier vor Ort, Du nicht, lass mich Dir davon eine Geschichte erzählen, die zu lesen lohnt.“ Autorität beginnt mit Wahrhaftigkeit, nicht mit der Obsession, stets der erste sein zu wollen, der Unsinn verbreitet.

Mehr Wissen, den Nachrichtenstrom bewerten, korrekte Fakten zeitnah sammeln, unter der Oberfläche der Propaganda nach erzählenswerten Geschichten zu schürfen, Datenbanken anzapfen und Quellen anrufen, überprüfen, was man hört oder gelesen hat: Wer diese Grundsätze beherzigt, wird öfter mal Medizinthemen mit Evidenz in Redaktionen unterbringen, solange in deren Brust noch das Herz von Journalisten schlägt.

QUELLEN:

1. Monika Kennedy: “Schockdiagnose: Mein Bierbauch war ein Tumor“, Bild.de, 19.6.2012

2. Klaus Koch: “Gefährliche Therapie”, Süddeutsche Zeitung, 09.08.2000, Ausg. Deutschland, S. 12

3. Matthias Kohring (2004): “Vetrauen in Journalismus. Theorie und Empirie.”, Uvk Verlag, 302 S.


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