Praxisberichte 7 – Magazin-Medizin: Eine Art Bauanleitung

Medizinjournalist*innen haben den Platz für ihre Geschichten, den sich andere Autor*innen oft wünschen. Doch der Raum will gut genutzt werden, auch für medizinjournalistische Storys. Planung und intensive Recherche sind ebenso wichtig wie das richtige Verhältnis von medizinischen Fakten und emotionalen Patientengeschichten. Astrid Viciano gibt Tipps wie man den Raum, den ein*e Medizinjournalist*in bekommt, angeht und bewältigt.

Von Astrid Viciano

Magazinjournalist*innen erzählen Geschichten. Ob wir über Oskar Lafontaines Liebesleben oder über medizinische Themen berichten – das Erzählerische sollte stets im Vordergrund stehen. Mal fällt uns das Schreiben leicht, wenn wir etwa über die „Octomom“ berichten dürfen, die acht Mehrlinge zur Welt brachte, oder über Isabelle Dinoire, die erste Patientin mit einer Gesichtstransplantation. Viel häufiger aber müssen wir über Volkskrankheiten wie Bluthochdruck oder Allergien schreiben und diese eher sperrigen Themen irgendwie mit Leben füllen.

Locker und mitreißend sollen die Texte geschrieben sein und zugleich die nötige Tiefe haben, um neue Erkenntnisse aus Wissenschaft und Medizin zu vermitteln. Das gelingt nur, wenn Fachwissen und menschliche Schicksale geschickt miteinander verwoben werden.

Was vermeintlich mühelos daher kommt, ist das Resultat intensiver Recherche und genauer Planung. Wie viele Zahlen und Fakten kann ich der Leserin und dem Leser zumuten? Wo im Text muss ich wieder eine Szene einflechten, um die Leserin und den Leser bei der Stange zu halten? Mit welchen Sprachbildern kann ich arbeiten, um in den Köpfen der Leser*innen neue Welten entstehen zu lassen und ihnen zugleich die Scheu vor komplexen Zusammenhängen zu nehmen? Welche Anekdoten können den Text auflockern oder gar den Schluss des Artikels bilden? Schließlich soll sich am Besten ein Aspekt der Geschichte zum anderen fügen als wäre der Text aus einem Guss entstanden.

Recherche-Ablauf

Im Idealfall kann man die Recherche für einen Magazinartikel in zwei Teilrecherchen erledigen. Zunächst erfolgt die Fachrecherche mit Fachlektüre und Interviews. Wenn wir die Ergebnisse unserer Fachrecherche kennen, können wir am Besten planen, welches Beiwerk (Szenen, Anekdoten, Sprachbilder) wir zur lebendigen Schilderung der Thematik brauchen. So können wir beispielsweise nach der abgeschlossenen Recherche über die Therapie von Depressionen einen Patienten mit einer effektiven Behandlung (oder einer fehlerhaften Therapie) suchen.

Expertensuche

Kompetente Interviewpartner*innen finden wir bei den Fachgesellschaften, den Kompetenznetzen (zum Beispiel den Kompetenznetzen Depressionen oder Schizophrenie), und auch Selbsthilfegruppen können hilfreich sein – wenngleich man bei diesen (wie bei allen anderen Quellen) immer auch mögliche Abhängigkeiten und Interessenkonflikte im Blick haben muss (1). Vor allem aber lohnt sich der Blick in verschiedene Datenbanken (Medline, Trip Database, Eurekalert, Cochrane Collaboration), in denen Studien aus renommierten (begutachteten, also „peer-reviewed“) Fachzeitschriften zu finden sind. Die Autor*innen der Publikationen sind üblicherweise Spezialist*innen auf dem jeweiligen Gebiet und können mögliche Interviewpartner*innen sein. Auch die Archive des Deutschen Ärzteblatts sind ergiebige Quellen für die Expert*innensuche. Ebenso finden wir in den Programme der Fachtagungen (zu finden zum Beispiel auf idw-online.de oder den Webseiten der Fachgesellschaften) anhand von Vortragsthemen oder Podiumsdiskussionen Ansprechpartner*innen für aktuelle Aspekte eines Themas. Expert*innen durch Lektüre der Laienpresse auszuwählen, kann dagegen zu unkritischem „Experten-Recycling“ führen. Nur weil jemand oft in den Medien präsent ist, muss er nicht einer der führenden Spezialisten in seinem Fachgebiet sein.

Interviews

Bei der Reihenfolge der Expert*innen hat sich die Recherche von „außen nach innen“ bewährt (2). Die Koryphäe in seinem Fachgebiet oder auch die Studienautoren heben wir uns gern für das Ende der Recherche auf. Dann fühlen wir uns am Besten gewappnet, vor allem auch um strittige Aspekte einer Studie oder eines Fachgebiets kompetent zu diskutieren.

In einem einzigen Interview das gesamte Spektrum eines Themas abzuhandeln, lässt oft zu wenig Zeit, um wichtige Teilaspekte zu diskutieren. Es empfiehlt sich daher, unterschiedliche Themenaspekte mit verschiedenen Expert*innen zu besprechen. Bei einem Artikel über Allergien kann die Reporterin oder der Reporter den einen Spezialisten nach neuen Methoden der Diagnostik, den anderen nach neuen Möglichkeiten der Therapie und einen dritten zu aktuellen Forschungsansätzen befragen. Vor allem mit bekannten Spezialist*innen eines Fachgebiets lohnt es sich dann später, den großen Bogen (Was ist neu? Wo geht es hin? Was ist besonders vielversprechend?) zu spannen.

Interview-Vorbereitung

Jenseits der allgemeinen Vorbereitung sollten wir vor jedem Interview wissen, woran der Experte selbst arbeitet, sollten seine Website und seine Publikationen studieren und möglichst auch nachsehen, ob und wie er sich zum Thema in der Fach- oder Laienpresse geäußert hat.

Manchmal verhindern zu Beginn des Gesprächs allgemeine Fragen zum Thema, dass die Gesprächspartner*innen sich in Details verheddern – vor allem, wenn die Expert*innen den Umgang mit Journalist*innen nicht gewöhnt sind. Auch zeigen ein paar grundsätzliche Fragen schnell, ob der Experte in dem Themengebiet auf dem neuesten Stand ist. Zum Abschluss eines Interviews stellen wir gern die Frage, ob wir noch einen wesentlichen Aspekt vergessen haben. Auch nach Ende des Interviews sollten wir uns Zeit lassen, denn manche Expert*innen erzählen beim Hinausgehen noch ein brisantes Detail oder eine schöne Anekdote.

Patient*innensuche/Szenen

Oft helfen befragte Mediziner*innen oder Psycholog*innen gern bei der Suche nach Patient*innen, mit der sich die Geschichte „personalisieren“ lässt – natürlich unter der Voraussetzung, dass wir schon genau wissen, was oder wen wir suchen (jung oder alt, Frau oder Mann, akut oder chronisch erkrankt etc.). Bei sensiblen Themen wie Depression oder Schizophrenie lohnt es sich, Selbsthilfegruppen zu kontaktieren. Sollte auch da die Suche vergeblich sein, kann die Journalistin oder der Journalist unter den Buchveröffentlichungen der vergangenen Jahre nach Erfahrungsberichten von Patienten stöbern. Da sich die Autor*innen bereits in ihrem Buch „geoutet“ haben, dürfte die Hemmschwelle für ein Interview niedrig sein. Auch ein Aufruf in Social Media wie Facebook oder Twitter kann erfolgreich sein – natürlich nur, wenn die Redaktion dies erlaubt.

Auswahl der Patient*innen

Wir können Patient*innen als Extrembeispiele nehmen – etwa einen Diabetes-Patienten, der durch seine Krankheit beide Beine verloren hat. Solche Beschreibungen verleihen dem Artikel allerdings schnell eine unseriöse Note. Viel interessanter erscheint uns, einen Patienten mit einer spannenden Lebensgeschichte zu nehmen, der das Leben mit seiner Krankheit auf vielseitige Art gemeistert hat. Der nämlich kann uns an vielen Stellen im Text (bei der Beschreibung der Krankheitssymptome, der Diagnose, der Therapie) als lebendige Beschreibung und Auflockerung trockener Fakten dienen.

Manchmal sind die Geschichten der Patient*innen so außergewöhnlich oder anrührend, dass sie sogar der Anlass sein können für einen Artikel – wie etwa die Geschichte der kleinen Lenie, die als erste Patientin in Deutschland durch eine Transplantation einen neuen Darm erhielt – im Alter von drei Jahren. (4) Allerdings muss man sich auch klar machen, dass die dargestellten Fallbeispiele von Patienten für die Leser sehr einprägsam sind – und wenn der Einzelfall ein absoluter „Sonderfall“ ist, bleibt ohne Einordnung schnell ein falscher Eindruck vom typischen Verlauf einer Erkrankung oder Therapie übrig.

In jedem Fall empfiehlt es sich, vorab ein Telefonat mit dem Betroffenen zu führen, um etwas über dessen Vorgeschichte, aber auch über dessen Eignung als Interviewpartner zu erfahren. Menschen, die nicht offen über ihre Erfahrungen und Emotionen sprechen können, sind für eine lebendige Magazingeschichte eher ungeeignet.

Manche Patient*innen möchten, dass man sie für das Interview zu Hause besucht. Ein Hausbesuch hat viele Vorteile – wir können den Menschen in seiner vertrauten Umgebung erleben. Von der Farbe der Hausschuhe, den Büchern im Regal bis zum Namen des Goldfisches sollten wir uns so viele Details wie möglich notieren – als müssten wir die Wohnung des Patienten später in einem Roman beschreiben. Oft stellt sich erst beim Schreiben heraus, welche unserer Beobachtungen sich eignen, um den Patienten und seine Lebenssituation treffend zu skizzieren.

Manche Patient*innen treffen sich mit ihrem Gesprächspartner allerdings lieber an einem neutralen Ort – zum Beispiel einem Café. Wenn möglich, sollten wir Reporter*innen das Lokal aussuchen, um sicher zu gehen, dass es erstens nicht zu laut und zweitens nicht zu hellhörig ist. Im Laufe des Gesprächs sollten wir dann viele Details aus dem Alltag unseres Interviewpartners erfragen (Hobbys, Lieblingsbücher, Haustiere, Hoffnungen, Träume). Diese können wir dann als spannende Details, die den Patienten ausmachen, im Text beschreiben.

Dass zum Beispiel Liese Müller ihre Blutdrucktabletten regelmäßig einnehmen muss, wird kaum das Interesse des Lesers wecken. Solch ein Einstieg in den Text wirkt schablonenhaft, sie steht stereotyp für den „typischen“ Bluthochdruck-Patienten, ohne für den Leser als interessante Person wirklich greifbar zu sein. Magazinjournalisten sollten daher nach Szenen suchen, die origineller sind: Wo zum Beispiel bewahrt Frau Müller ihre Tabletten auf? Vielleicht in einem Kästchen auf dem Nachttisch, gleich neben dem Foto ihres Mannes, der im vergangenen Jahr verstorben ist. Das Bild sieht sie sich jeden Morgen an und erinnert sich dann auch an die Einnahme ihrer Pillen.

Andere Szenen

Nicht immer ist die Schilderung von Patientenschicksalen der interessanteste Zugang zu einer Geschichte. Auch eine Ausstellung oder ein Blick in die Medizingeschichte, der Besuch eines Hightech-Labors oder das Porträt eines ausgefallenen Forschers können hervorragendes Beiwerk für eine Medizingeschichte liefern.

Aufbau des Textes

Wenn die Fachrecherche und die Suche nach Szenarien abgeschlossen sind, müssen wir trockene Fakten mit lebendigen Details zu einem stimmigen Gesamtbild vereinen. Ein lebendiger Einstieg weckt das Interesse des Lesers, dann müssen bald Fakten folgen, um die Relevanz des Artikels darzustellen. Nach zwei bis drei Absätzen mit Daten und Zahlen sollte jedoch wieder eine Szene folgen, damit der Leser sich nicht überfordert oder gelangweilt fühlt. Nach der Szene können neue Fakten und Zitate von Expert*innen eingebunden werden, auf die wieder eine Szene folgt, so dass sich ein bestimmter Rhythmus entfaltet, der die Leser*innen ganz von alleine weiterträgt.

Allgemeines Interesse wecken

Was aber, wenn der Leser des Artikels weder an Heuschnupfen noch an Bluthochdruck leidet und damit seine Motivation, einen solchen Artikel zu lesen, nicht allzu ausgeprägt sein wird? Wenn ihn also das Thema an sich nicht sonderlich interessiert? Diese, nicht persönlich Betroffenen können wir nur für den Artikel begeistern, wenn wir unsere Recherche völlig neu verpacken, etwa in dem wir einen aktuellen Bezug außerhalb der Medizin als Aufhänger nutzen. So berichtete zum Beispiel ein Journalist in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung über die Multiple-Sklerose-Erkrankung von Ann Romney, der Frau des kommenden republikanischen Präsidentschaftskandidaten Mitt Romney (3). Mitten im Wahlkampf ist das Interesse für das Umfeld der Kandidaten groß – das können auch Medizinjournalist*innen für ihre Themen nutzen. Auch jenseits des Wahlkampfs bergen viele Themen wichtige Aspekte der Medizin – anlässlich eines großen Gerichtsverfahrens etwa berichten Magazinjournalist*innen manchmal über neue Entwicklungen in der forensischen Medizin.

Ganz gleich, ob wir über Diabetes-Patienten oder Ann Romney schreiben: Stets sollten wir Medizinjournalist*innen uns auch als Geschichtenerzähler*innen verstehen – vor allem, wenn wir für ein Magazin arbeiten. Denn nur mit eindrucksvollen Szenen, mit sorgsam dosierten Emotionen im Text werden wir unsere Leser*innen wirklich fesseln und damit auch jene Informationen rüberbringen, die wichtig sind. So zeigen wir, dass der Medizinjournalismus viel mehr sein kann als die Lektüre für ratsuchende Patienten.


Zum Weiterlesen: 

Mark Kramer, Wendy Call: Telling True Stories – A Nonfiction Writer’s Guide, Nieman Foundation at Harvard University

Netzwerk Recherche: Leidenschaft Recherche: Skandal-Geschichten und Enthüllungs-Berichte (pdf)

Erwin Koch: „Sarah“ (pdf) – Reportagen


Quellen:

1. Martina Keller: Geben und einnehmen, ZEIT, 2005, (http://www.zeit.de/2005/21/Pharmafirmen_neu)

2. Netzwerk Recherche: Leidenschaft Recherche: Skandal-Geschichten und Enthüllungs-Berichte (pdf), (2003), http://www.netzwerkrecherche.de/download/leidenschaft_recherche_2aufl.pdfs)

3. “Manchmal ist das Leben fast normal”, FAS, 11.3.2012, Nr. 10, S.78 (kostenpflichtiger Abruf)

4. Hania Luczak: Ein neuer Bauch für Lenie, GEO, 2009, (http://www.geo.de/GEO/mensch/medizin/61822.html)


Alle Folgen unserer Medizinjournalismus-Serie finden sich auf unserer Specials-Seite.