Praxisberichte 3 – Nebensache Nebenwirkung?

Als wollten Medizinjournalisten immer nur die Überbringer der guten Botschaft sein, vernachlässigen sie häufig Risiken und Nebenwirkungen in ihren Beiträgen. Wiebke Rögener berichtet über mangelnde journalistische Sorgfalt im Umgang mit dem Unerwünschten und gibt Tipps, worauf Journalisten achten sollten. 

Von Wiebke Rögener 

„Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie die Packungsbeilage und fragen Sie …“ – wer kann diesen Satz nicht flugs vervollständigen. Kleingedruckt unter Pharmaanzeigen, schnell heruntergerasselt nach jedem TV-Werbespot für Kopfschmerztabletten und andere rezeptfreie Arzneimittel, ist er vom Heilmittelwerbegesetz vorgeschrieben und als Floskel vielfach persifliert („Eurorettung? Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie die Kanzlerin“). Die tatsächliche Wirkung der pflichtgemäßen Warnung blieb bislang unerforscht; doch erinnert die Phrase immerhin daran, dass bei jedem medizinischen Heilsversprechen auch mit unerwünschten Effekten gerechnet werden muss. Eine Binsenweisheit, so scheint es. Doch im Medizinjournalismus ist es bis heute keineswegs selbstverständlich, auf Nebenwirkungen hinzuweisen.

Das jedenfalls ergab auch die Auswertung unserer ersten 120 Medien-Doktor-Gutachten: Nicht genau genug dargestellte oder gleich ganz „vergessene“ Nebenwirkungen gehören zu den drei häufigsten Mängeln (neben unzureichender Darstellung des Nutzens und der Evidenz). In 89 (also mehr als 70
Prozent) von 120 bewerteten Beiträgen waren die Nebenwirkungen nach Einschätzung der Gutachter nicht angemessen berücksichtigt. In den USA sieht es ähnlich aus, in Australien werden Nebenwirkungen sogar noch seltener von den Medien erwähnt, zeigen die dortigen Monitoring-Projekte.

“Doch Herr Medien-Doktor, wo bleibt das Positive?” könnte man frei nach Erich Kästner fragen. Ist es wirklich nötig, immer und überall auf den Risiken herumzureiten? Hoffen wir doch, dass der Nutzen der Behandlung normalerweise überwiegt. Im Raum steht der Vorwurf, Patienten würden durch das „Aufbauschen“ von Nebenwirkungen geängstigt und verunsichert – womöglich sogar so sehr, dass ein Medikament nicht mehr zuverlässig eingenommen wird, die „Compliance“ also sinkt. Vor allem betroffene Pharmafirmen kritisieren gern „unverantwortliche Panikmache“, wenn eines ihrer Produkte in den Medien schlecht weg kommt. Was dran sein könnte an solcher Einrede, untersuchte die Diplom-Journalistin Eva Prost in Ihrer Abschlussarbeit am Institut für Journalistik der TU Dortmund (1).

Prost widerspricht der Vorstellung, der Journalist müsse sich den Leser vor allem als ein ängstliches und schutzbedürftiges Wesen vorstellen, das mit der harten Realität – etwa, dass eine neue Therapie nur um den Preis erheblicher Nebenwirkungen zu haben ist – nicht konfrontiert werden dürfe. Für Horst Pöttker, Professor für Journalistik an der TU Dortmund, würde das sogar journalistischen Grundsätzen widersprechen: „Die Grundnorm des Journalistenberufes lautet nicht: Drucke oder sende, was dem Publikum frommt und gut tut“. Der Journalist müsse „Vertrauen in die Mündigkeit des Publikums haben, dass er mit der ungeschminkten Wahrheit konfrontieren darf.“ (2)

Anhand deutscher und internationaler Kodizes medizinjournalistischer Berufsverbände und u.a. anhand der Spruchpraxis des Deutschen Presserates ging Eva Prost aber auch der Frage nach, ob im Medizinjournalismus womöglich doch noch andere Regeln als im übrigen Journalismus gelten. Ist der Leser, der an der im Beitrag beschriebenen Erkrankung leidet, oder ist die Patientin, die auf einen in den Medien bejubelten medizinischen Durchbruch hofft, nicht doch in einem besonderen Maße verletzlich? Hat der Journalist eine spezielle Fürsorgepflicht, wenn er die negativen Seiten einer Therapie beschreibt?

Medizinische Nebenwirkungen, so ergab die Literaturrecherche, sind auch im Bereich der journalistischen Normen ein eher vernachlässigtes Thema, es fehlt an einheitlichen Standards. Immerhin tendieren journalistische Organisationen aber weit überwiegend dazu, Informationspflicht und korrekte Berichterstattung in den Vordergrund zu stellen, nicht die paternalistische Fürsorge für die Rezipienten. Einzig die (inzwischen aufgelöste) amerikanische National Association of Medical Communicators (NAMC), betonte in ihrem Code of Ethics, es sei ihr Ziel, das Wohlbefinden der Leser zu fördern. Ob diese Fürsorge auch das Verschweigen schlechter Nachrichten umfasst, bleibt offen. Dieser Verband ist indes stark von Medizinern geprägt, und versteht sich als Teil des Gesundheitssystems. Andere Medizinjournalisten-Verbände betonen dagegen die Pflicht zu umfassender Information, die Lesern ein eigenes Urteil ermöglicht. Nebenwirkungen sollten vollständig genannt und auch quantifiziert werden, verlangt etwa die US-amerikanische Association of Health Care Journalists (AHCJ). Besondere Skepsis sei bei der Behauptung angebracht, eine Therapie habe keine Nebenwirkungen.

In Deutschland hat der Arbeitskreis der Medizinjournalisten (AKMed) formuliert (Link nicht mehr abrufbar), die Berichterstattung über medizinische Themen dürfe „keine ungerechtfertigten Ängste wecken“. Ähnlich heißt es im Pressekodex des Deutschen Presserates (Ziffer 14), es sei eine „unangemessen sensationelle Darstellung zu vermeiden, die unbegründete Befürchtungen oder Hoffnungen beim Leser erwecken könnten“. Daraus folgt umgekehrt: Gerechtfertigte und begründete Befürchtungen beim Leser oder Zuschauer zu vermeiden, gehört nicht zu den Pflichten des Journalisten. Wenn die sachlich korrekte Berichterstattung dazu führt, dass Medienkonsumenten sich Sorgen machen, müssen sie dies aushalten. Auch die Berichterstattung über andere Themen gibt schließlich nicht immer Grund zur Unbekümmertheit – ohne dass bislang jemand ernsthaft gefordert hätte, Beiträge über die Finanzkrise, die Gewalt in Nahost, oder die Mordtaten von Neonazis zu unterlassen, weil dies Befürchtungen und Ängste bei Lesern, Zuschauern und Zuhörern auslösen könnte.

Der Deutsche Presserat, der kein spezielles Regelwerk für medizinjournalistische Beiträge (sondern nur einen speziellen Paragraphen) formuliert hat, fordert aber auch nicht zwingend, dass über Nebenwirkungen berichtet werden muss. Schwerwiegende Risiken allerdings seien zu nennen, so die Spruchpraxis und niemals dürften Medikamente als „risikofrei“ bezeichnet werden. Eine korrekte Darstellung der Nebenwirkung kann Medizinjournalisten auch vor einem gravierenden Vorwurf bewahren: So hat der Presserat die genannten oder nicht genannten Nebenwirkungen für Entscheidungen herangezogen, ob ein gar zu optimistischer Medizin-Beitrag die Grenze zur Schleichwerbung überschreitet oder nicht.

Aus Sicht der evidenzbasierten Medizin fordert Ray Moynihan, Nebenwirkungen müssten in journalistischen Beiträgen zwar nicht vollständig aufgezählt werden. Auch dürften Risiken nicht übertrieben werden. Doch die schwersten und häufigsten Nebenwirkungen müssten auf jeden Fall genannt und möglichst durch absolute Angaben quantifiziert werden (3). Eine Forderung, der sich die Projekte Media Doctor Australia und Health News Review anschließen – Risiken müssen quantifiziert werden. Und im Grundsatz gilt das auch für den deutschen Medien-Doktor.

Eva Prost hat aus den verstreuten Hinweisen in der Literatur, wie mit dem Thema Nebenwirkungen umzugehen sei, einen Praxisleitfaden entwickelt. In Anlehnung daran hier einige Checkpunkte für die Praxis:

  • Risiken eines Medikaments, aber auch anderer medizinischer Verfahren, einschließlich der Diagnostik, sind stets zu nennen. Dabei ist keine vollständige Auflistung erforderlich – ein Zeitungsartikel ist kein Beipackzettel. Doch je schwerer oder häufiger eine Nebenwirkung ist, desto wichtiger wird es, sie zu erwähnen. Ziel ist, dass Leser, Zuschauer und Hörer sich ein realistisches Bild von Vor- und Nachteilen eines Verfahrens machen können. Der Journalist ist zunächst aber in erster Linie Berichterstatter, nicht Gesundheitsberater.
  • Nebenwirkungen müssen quantifiziert werden, und zwar so, dass das Verhältnis von möglichem Nutzen und Schaden deutlich wird (Etwa: Von 1000 Behandelten besserten sich die Symptome bei 300 Patienten, 200 litten zeitweilig an Kopfschmerzen, 50 mussten aufgrund schwerer Kreislaufprobleme ins Krankenhaus eingewiesen werden.)
  • Nebenwirkungen dürfen niemals als „leicht“ oder „unbedeutend“ verharmlost werden. Hier hilft die konkrete Beschreibung (Schwindelgefühle, Übelkeit, …). Ob Rezipienten diese möglichen Begleiterscheinungen / Risiken für vertretbar halten, sollte ihnen selbst überlassen bleiben.
  • Höchste Skepsis ist geboten, wenn eine Therapie als „frei von Nebenwirkungen“ gepriesen wird. Zutreffen kann dies eigentlich nur bei Verfahren, die auch keine nachweisbare Wirkung haben. Selbst bei Handauflegen oder Homöopathie muss als Risiko beachtet, werden, dass Patienten womöglich eine wirksame(re) Behandlung versäumen oder verzögern.
  • Bei neuen Therapien ist darauf hinzuweisen, dass negative Ereignisse oft erst nach längerer Behandlungsdauer auftreten. Oder erst dann wenn viele Patienten behandelt wurden. (Beispiel: Wenn in den Studien zur Zulassung eines Medikaments 5000 Patienten behandelt wurden, ist es sehr unwahrscheinlich, dass eine sehr seltene Nebenwirkung bereits beobachtet wurde, die nur bei jedem 10 000sten Patienten auftritt.)
  • Ist eine neu entdeckte Nebenwirkung der Anlass einer Berichterstattung, muss deren Bedeutung – auch im Verhältnis zum Nutzen – klar herausgearbeitet werden. Insbesondere sollten Behandlungsalternativen und deren jeweilige Risiken erwähnt werden. Bei Kontroversen sind die unterschiedlichen Argumente darzustellen und auf ihre Validität zu prüfen.

Besondere Pflichten für den Umgang mit Risiken und Nebenwirkungen gibt es also durchaus. Doch sie umfassen vor allem Sorgfalt und Wahrhaftigkeit der Berichterstattung, nicht aber das Verschweigen unerfreulicher Tatsachen. Verlorene Illusionen über die Allmacht der Medizin gehören zu den Risiken und Nebenwirkungen des Medienkonsums. Den Rezipienten bleibt, um mit Erich Kästner zu schließen, nur „gescheit und trotzdem tapfer zu sein“.

QUELLEN:

1. Prost, Eva, (2010): Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie… die Tageszeitung?, (unveröffentlichte) Diplomarbeit am Lehrstuhl Wissenschaftsjournalismus der Technischen Universität Dortmund

2. Pöttker, Horst, (1999) Öffentlichkeit als gesellschaftlicher Auftrag. Zum Verhältnis von Berufsethos und universaler Moral im Journalismus. Ion : Funiok, R. Schmälzle, U.F., , Werth, C.H., Medienethik – die Frage der Verantwortung. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, S. 215 – 232

3. Moynihan, Ray (2004): Tipsheet for reporting on drugs, devices and medical technologies. The Commonwealth Fund. (Direktlink zum PDF)


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