Der journalistische Beitrag der Tageszeitung Der Standard (online) beleuchtet ein für viele Menschen relevantes und aktuelles Thema verständlich und routiniert: den Einsatz eines Cannabis-Extrakts gegen chronische Rückenschmerzen. Die Ergebnisse der vorgestellten Studie werden nicht übertrieben dargestellt, allerdings fehlt der direkte Vergleich mit den Alternativen, und auch die Nebenwirkungen im Vergleich zu Placebo werden nicht ausreichend genannt.
Zusammenfassung
Ein Artikel der österreichischen Tageszeitung Der Standard (online) berichtet über eine Studie, die die Wirksamkeit eines Cannabisextrakts gegen chronische Rückenschmerzen untersucht hat. Wesentliche Daten zur Studie werden genannt, auch der Nutzen wird ausreichend im Text beschrieben. Es fehlen allerdings quantitative Angaben zu den Risiken und Nebenwirkungen des Wirkstoffs. Die Studienergebnisse werden von mehreren ExpertInnen eingeordnet, die nicht an der Studie beteiligt waren. Mögliche Interessenkonflikte der Autoren werden dagegen nicht angesprochen; die Leserinnen und Leser erfahren nicht, dass es sich um eine Studie handelt, die vom Hersteller des noch nicht zugelassenen Medikaments finanziert wurde.
Die Kriterien
1. Die POSITIVEN EFFEKTE sind ausreichend und verständlich dargestellt (NUTZEN).
Es wird berichtet, dass das Schmerzempfinden in der Gruppe, die das Cannabis-Präparat erhielt, durchschnittlich um 0,5 Punkte stärker zurückging als in der Gruppe, die ein Placebo einnahm. (Wobei es sich um eine 11-stufige Skala handelt, nicht, wie im Artikel berichtet um eine 10-stufige – siehe dazu Kriterium 11, Faktentreue). Ob eine Schmerzreduktion um 0,5 Punkte klinisch relevant ist, ist offenbar strittig, wie die verschiedenen Statements von Expert*innen deutlich machen. Außerdem wird – ohne konkrete Zahlenangaben – über eine verbesserte Schlafqualität berichtet. Als wichtige Information fehlt allerdings der Hinweis, dass in der Studie Patient*innen eingeschlossen waren, denen herkömmliche Schmerzmittel nicht geholfen hatten (siehe https://www.nature.com/articles/s41591-025-03977-0). Dies waren vermutlich besonders schwer zu behandelnde Proband*innen, was eher für einen Effekt des Cannabis-Extrakts spricht.
2. Die RISIKEN & NEBENWIRKUNGEN werden angemessen berücksichtigt.
Der journalistische Artikel nennt als Nebenwirkungen Schwindel, Schläfrigkeit und Übelkeit. Es fehlen jedoch Angaben dazu, wie häufig diese negativen Effekte auftraten. Möglicherweise trugen sie dazu bei, dass in jener Gruppe, die das Cannabis-Präparat erhielt, weitaus mehr Probanden vorzeitig aus der Studie ausschieden als in der Placebogruppe. Diese Information fehlt im Beitrag.
Ebenso wird im Text darauf eingegangen, dass der Cannabis-Extrakt im Gegensatz zur Droge kein High auslöst und auch keine Abhängigkeit erzeugt. Warum das trotz identischer Inhaltsstoffe so ist, wird nicht ausgeführt.
Aus einer holprigen Formulierung könnten Lesende zudem den Schluss ziehen, dass nicht nur Opioide, sondern auch nichtsteroidale Antirheumatika süchtig machen können, was nicht korrekt ist, siehe Kriterium 11, Faktentreue.
3. Es wird klar, ob eine Therapie/ein Produkt/ein Test VERFÜGBAR ist.
Dazu heißt es im Text: „Zugelassen ist das Medikament übrigens noch nicht. VER-01 befindet sich seit gut einem Jahr im dezentralen Zulassungsverfahren des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM).“ Es wird also klar, dass der Cannabis-Extrakt noch nicht zugelassen ist.
4. Es werden ALTERNATIVE Behandlungsarten/Produkte/Tests vorgestellt.
Die bisher üblichen Medikamente zur Behandlung von Rückenschmerzen – nichtsteroidale Antirheumatika und Opioide – werden genannt, deren Wirkung jedoch nicht weiter erläutert. Vorteile des Cannabispräparats werden angedeutet („weniger Nebenwirkungen“); es fehlt allerdings der Hinweis, dass es keine Studien gibt, die die verschiedenen Medikamente direkt miteinander vergleichen. Weitere Behandlungsmethoden wie etwa eine Physiotherapie spricht der journalistische Beitrag nicht an. Daher werten wir insgesamt nur knapp „ERFÜLLT“.
5. Die KOSTEN werden im journalistischen Beitrag in angemessener Weise berücksichtigt.
Die genauen Kosten für das noch nicht zugelassene Medikament können naturgemäß nicht genannt werden. Doch sollten die ungefähren Kosten abschätzbar sein, da es ja bereits andere Cannabispräparate auf dem Markt gibt. Hierzu gibt der journalistische Beitrag leider keine Hinweise. Da es sich bei chronischen Rückenschmerzen jedoch um ein sehr häufiges Leiden handelt und daher die Kosten einer solchen Therapie durchaus relevant sein werden, werten wir „NICHT ERFÜLLT“.
6. Es sind keine Anzeichen von Krankheitserfindungen/-übertreibungen zu finden (DISEASE MONGERING).
Der Artikel macht Angaben zur Häufigkeit chronischer Rückenschmerzen und bezeichnet diese als „zermürbend“. Auch wird beschrieben, dass sie für „ziemlich viel Ungemütlichkeit“ sorgen, was fast ein wenig lapidar klingt. Eine übertriebene Darstellung der Beschwerden ist damit nicht gegeben.
7. Der journalistische Beitrag ordnet die QUALITÄT der Belege/der Evidenz ein.
Es wird klar, dass es sich um eine (im ersten Teil) placebokontrollierte Studie handelt; auch die Zahl der Teilnehmenden ist genannt. Positiv ist zu bewerten, dass die unterschiedlichen Einschätzungen zur Relevanz der Ergebnisse in den Statements der zitierten Expert*innen deutlich werden.
8. Es werden UNABHÄNGIGE EXPERTEN oder QUELLEN genannt.
Der journalistische Beitrag zitiert Einschätzungen von drei nicht an der Studie beteiligten Forschenden (aus dem Material des deutschen und des britischen Science Media Centre).
9. Es werden, falls vorhanden, INTERESSENKONFLIKTE im Beitrag thematisiert.
Die im Artikel beschriebene Studie wurde vom Hersteller des untersuchten Cannabispräparats gesponsort, dem Unternehmen Vertanical. Die Firma war auch am Design der Studie und dem Verfassen der Fachpublikation beteiligt. Zwei der Autoren des Fachartikels haben in der Vergangenheit Honorare von Vertanical erhalten, der Erstautor Matthias Karst hat zusätzlich unter anderem vom Branchenverband der Cannabiswirtschaft, der „Federal Association of Pharmaceutical Cannabinoid Companies (BPC)“ Geld erhalten, von der Patientenvereinigung „Cannabis Social Club Bolzano“ und dem Pharmaunternehmen „Cannamedical“. Diese Information ist im Fachartikel zu finden, fehlt aber im journalistischen Beitrag.
10. Der Beitrag liefert Informationen zur EINORDNUNG der Thematik in einen Kontext (Neuheit, Ethik).
Der journalistische Beitrag berichtet darüber, dass chronische Rückenschmerzen weit verbreitet sind und die bisherigen Schmerzmedikamente mit erheblichen Nebenwirkungen bzw. Suchtpotenzial verbunden. Aus den einordnenden Statements der Expert*innen wird zudem deutlich, dass die Studienlage zu Cannabispräparaten für diese Anwendung bislang unbefriedigend ist.
11. Der Beitrag gibt die wesentlichen Daten und Fakten korrekt wieder (FAKTENTREUE).
Fehlerhaft ist folgender Satz im Text: „Nichtsteroidale Antirheumatika und vor allem Opioide helfen zwar gut bei chronischen Schmerzen, haben aber gleichzeitig ein hohes Suchtpotenzial …“. Tatsächlich können nichtsteroidale Antirheumatika teils erhebliche Nebenwirkungen haben, besitzen aber kein Suchpotenzial. Es ist zu vermuten, dass diese fehlerhafte Verknüpfung der holprigen Formulierung des Satzes geschuldet ist. Doch gerade bei so wichtigen Aspekten des Textes wäre eine größere Sorgfalt wünschenswert gewesen. (Zu den nichtsteroidalen Antirheumatika siehe auch: bundesaerztekammer.de ).
Bei der in der Studie verwendeten Skala zur Schmerzbewertung handelt es sich um eine 11-stufige Skala (0 bis 10), nicht um eine „10-teilige“, wie im journalistischen Beitrag beschrieben. Aufgrund der zwei Fehler werten wir, wenn auch knapp, „nicht erfüllt“.
12. Der Beitrag geht über eine Pressemitteilung/das Pressematerial hinaus (JOURNALISTISCHE EIGENLEISTUNG).
Es werden drei WissenschaftlerInnen zitiert, die nicht an der Studie beteiligt sind und diese mit –durchaus unterschiedlichen Bewertungen – einordnen. Damit geht der Text deutlich über die vorliegende Pressemitteilung (klinikum.uni-heidelberg.de ) hinaus, wenn auch alle Zitate dem Material des deutschen und britischen SMC entstammen.
13. Ein Beitrag vermittelt ein Thema interessant und attraktiv (ATTRAKTIVITÄT DER DARSTELLUNG).
Der Text knüpft zunächst an die Erfahrung sehr vieler Menschen an und benennt, wie häufig chronische Rückenschmerzen sind, und wie schwer sie sich oft behandeln lassen. Etwas unglücklich ist allerdings die Formulierung, Rückenschmerzen sorgten für „Ungemütlichkeit“. Die Statements der externen Fachleute stehen zudem recht unverbunden nebeneinander. Und erst im allerletzten Satz erfahren Leserinnen und Leser, dass das Präparat bislang noch gar nicht erhältlich ist. Diese wichtige Information hätte wesentlich früher kommen müssen. Insgesamt werten wir daher knapp „NICHT ERFÜLLT“.
14. Der Beitrag ist für ein Laienpublikum verständlich (VERSTÄNDLICHKEIT).
Die Darstellung der Studie ist zweifellos eine journalistische Herausforderung. Um so mehr wäre es wichtig gewesen, auf verschlungene Formulierungen zu verzichten, etwa hier: „Nur dann kann man evidenzbasiert sagen, ob der scheele Blick von vielen auf Cannabisarzneien berechtigterweise besteht, beziehungsweise ob umgekehrt die Begeisterung nicht weniger tatsächlich gerechtfertigt ist.“ Fachbegriffe wie „nichtsteroidale Antirheumatika“ oder „evidenzbasiert“ werden im Text nicht erklärt. Unklar dürften auch die Zahlenangaben im Text sein: Zunächst wird die Anzahl der Teilnehmenden mit 820 angegeben, später im Text ist jedoch von 400 Proband*innen die Rede ist, die das Präparat einnahmen, sowie von „Studienteilnehmenden, die das Placebopräparat erhalten hatten“, ohne dass vorher der Aufbau der Studie erklärt worden ist. Manche Formulierungen an sich sind schwer verständlich, etwa hier: „Bei den Probandinnen und Probanden konnte mit Letzteren zuvor keine zufriedenstellende Verbesserung des Zustandes erzielt werden.“
Verwirrend ist schließlich der Gebrauch des Begriffs „relevant“ in den Zitaten der Expertinnen. Ulrike Bingel zum Beispiel bemängelt, dass die klinische Relevanz des beobachteten Unterschieds zwischen Verum- und Placebogruppe zu gering sei. Die positive Äußerung von Andrea Hohmann dagegen bezieht sich auf die Relevanz der Studie selbst, angesichts bisher fehlender Daten. Das sind zwei verschiedene Sachverhalte, was der Artikel aber nicht erläutert. Insgesamt werten wir daher knapp „NICHT ERFÜLLT“.
15. Das THEMA ist aktuell, relevant oder ungewöhnlich. (THEMENAUSWAHL).
Es liegt eine aktuelle Studie zu einem für sehr viele Menschen bedeutsamen Gesundheitsproblem vor – damit ist ein Anlass zur Berichterstattung gegeben.
Medizinjournalistische Kriterien: 9 von 15 erfüllt