Bewertet am 3. Juli 2024
Veröffentlicht von: Bild-Zeitung (online)

Der journalistische Beitrag in der Bild-Zeitung (online) greift eine aktuelle Studie der Universität Bonn auf, um über das relevante Thema Einsamkeit zu berichten. Doch bleiben wesentliche Informationen über die Studie unerwähnt, etwa, wer untersucht wurde und wie oft oder was die genauen Studienergebnisse waren. All diese Fragen werden im Text leider nicht oder nicht korrekt beantwortet. Daher lässt der Artikel den Lesenden ratlos zurück.

Zusammenfassung

In dem Artikel der Bild-Zeitung (online) geht es um eine im Mai in der Fachzeitschrift Psychotherapy and Psychosomatics publizierte Studie zur Wirksamkeit von Gruppentherapie gegen Einsamkeit, in Kombination mit einem Oxytocin-haltigen Nasenspray. Untersucht wurde, ob Oxytocin die erwartete Wirkung der psychotherapeutischen Behandlung verstärken würde. Das sogenannte Kuschelhormon wird vom Körper bei Berührung ausgeschüttet. Doch übertreibt der journalistische Text die Ergebnisse der Untersuchung bereits in der Überschrift: „Hoffnung für Millionen: Forscher entwickeln Nasenspray gegen Einsamkeit“. Tatsächlich hatte das Nasenspray in der kontrollierten Studie mit insgesamt 78 Probandinnen und Probanden längerfristig, nach drei Monaten, weder die Wirksamkeit der Gruppentherapie gegen Einsamkeit verstärkt noch den Stress durch die Einsamkeit gelindert. Lediglich kurzfristig, während der Therapiesitzungen, verbesserte das Nasenspray akute Einsamkeitsgefühle und die Bindung der Gruppenmitglieder untereinander. Das wird im journalistischen Beitrag jedoch nicht deutlich, auch Risiken und Nebenwirkungen oder die möglichen Kosten der Therapie werden nicht genannt.

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Die Kriterien

1. Die POSITIVEN EFFEKTE sind ausreichend und verständlich dargestellt (NUTZEN).

Die möglicherweise positiven Effekte einer Oxytocin-Therapie sind übertrieben und ungenau dargestellt: „Hoffnung für Millionen: Forscher entwickeln Nasenspray gegen Einsamkeit“.  Sowohl im Paper als auch in der Pressemitteilung schreiben die Autoren und die Universität deutlich, dass sich das Oxytocin-haltige Nasenspray nicht auf das allgemeine Einsamkeitsgefühl auswirkt und auch nicht auf das Stressempfinden.

Vielmehr war es die Gruppentherapie, die in beiden Gruppen signifikant den Stress verringerte und längerfristig, auch nach drei Monaten, das Einsamkeitsgefühl minderte. Oxytocin verbesserte nachweislich lediglich das akute Einsamkeitsgefühl während der Therapiesitzungen und stärkte den Kontakt zwischen den Gruppenmitgliedern. Daher werten wir „NICHT ERFÜLLT“.

2. Die RISIKEN & NEBENWIRKUNGEN werden angemessen berücksichtigt.

Zwar kamen in der Studie keine schweren Nebenwirkungen vor, doch wäre es dennoch interessant gewesen, auf mögliche Nebenwirkungen einzugehen, wie etwa Kopfschmerzen, Blutdruckanstieg und Herzrhythmusstörungen. Im journalistischen Beitrag wird der Aspekt möglicher Risiken oder Nebenwirkungen nicht erwähnt.

3. Es wird klar, ob eine Therapie/ein Produkt/ein Test VERFÜGBAR ist.

Erst am Ende des Artikels wird erwähnt, dass das Spray „noch“ nicht im Handel ist, man müsse sich noch gedulden. Die Frage, ob es überhaupt so weit kommen wird, wird allerdings nicht aufgeworfen.

4. Es werden ALTERNATIVE Behandlungsarten/Produkte/Tests vorgestellt.

Alternativen zu einer Oxytocin-Behandlung in Form von Nasenspray werden nicht benannt. Obwohl alle Studienteilnehmer an Gruppentherapiesitzungen teilnehmen, wird dieser relevante Teil der Intervention nicht benannt. Dabei hätten vor allem alltägliche Maßnahmen gegen Einsamkeit erwähnt werden können, wie zum Beispiel Freizeitaktivitäten, soziales Engagement, Hilfstelefone, Selbsthilfegruppen, Musik oder Haustiere.

5. Die KOSTEN werden im journalistischen Beitrag in angemessener Weise berücksichtigt.

Die Kosten der Behandlung werden nicht thematisiert. Das Nasenspray ist zwar noch nicht auf dem Markt, aber es wäre sicher möglich gewesen, eine der Studienautor*innen um eine Schätzung zu bitten. Zudem sind im Internet offenbar Oxytocin-Fläschchen erhältlich, zu teils immensen Preisen, vor deren Gebrauch Fachleute warnen. Dies wäre eine wichtige Information für die Leser*innen gewesen. Damit sie nicht auf die Idee kommen, ihre Einsamkeit in Eigenregie mit einem Produkt aus dem Netz zu behandeln. Daher werten wir insgesamt „NICHT ERFÜLLT“.

6. Es sind keine Anzeichen von Krankheitserfindungen/-übertreibungen zu finden (DISEASE MONGERING).

Einsamkeit ist ein großes, relevantes Thema in Deutschland und weltweit. Da es unterschiedliche Erhebungen und Befragungen dazu gibt, wäre es wünschenswert gewesen, die Quelle für die Zahl zu nennen, dass 20 Prozent der erwachsenen Bevölkerung über 45 Jahren sich einsam fühlt. Leider geht der Artikel nicht darauf an, dass unterschiedliche Altersgruppen unterschiedlich stark betroffen sind (vor allem die jungen Erwachsenen und die Alten). Dass sich Einsamkeit auf die körperliche und psychische Gesundheit auswirkt, ist bekannt, dazu zählen, wie im Artikel benannt, etwa Depressionen, Herzerkrankungen und eine reduzierte Immunabwehr. Die Quelle zu der Aussage, Einsamkeit könne so gesundheitsschädlich sein wie 15 Zigaretten, wird nicht zitiert, ist aber in vielen Publikationen zu finden (siehe etwa auch vom Surgeon General der USA hier).  Diese Aussage wurde von US-Medien vielfach zitiert, u.a. in der Washington Post, der New York Times und der Daily Mail. Zwei Forscherinnen und ein Forscher der Sheffield Hallam University setzten sich in der Online-Publikation theconversation.com kritisch mit diesem Vergleich auseinander. Demnach zitiert der Surgeon General aus einer Meta-Analyse von 2010, die 300.000 Teilnehmer im Schnitt über siebeneinhalb Jahre beobachtete.

Fazit: Einsame Menschen haben gegenüber Menschen mit starken sozialen Bindungen ein deutlich erhöhtes Risiko vorzeitig zu sterben. Weiter verglich die Meta-Analyse dieses Risiko mit bekannten Gesundheitsgefahren wie Rauchen, Alkoholmissbrauch, körperliche Inaktivität oder Übergewicht. Die Analogie zum Rauchen ist aus Sicht der Autor*innen der Sheffield Hallam University sensationsheischend und könnte die Last von Menschen, die sich einsam fühlen, sowie das mit Einsamkeit verbundene Stigma vergrößern. Daher werten wir insgesamt nur knapp „ERFÜLLT“.

7. Der journalistische Beitrag ordnet die QUALITÄT der Belege/der Evidenz ein.

Der Beitrag ordnet die Qualität der Evidenz nicht ein. In dem Artikel wird weder auf das Studiendesign, die Teilnehmerzahl und die genaue Fragestellung eingegangen, noch auf die detaillierten Ergebnisse. Nur damit wäre aber eine Einordnung möglich, könnten auch Limitationen der Studie benannt werden. Insbesondere von der Gruppentherapie-Intervention, die alle Teilnehmer gemacht haben, wird nicht berichtet, obwohl diese einen messbaren Effekt sowohl auf das allgemeine Einsamkeitsgefühl als auch auf das Stressempfinden hatte.

Die Autor*innen der wissenschaftlichen Fachpublikation selbst ordnen ihre Untersuchung als proof-of-concept-Studie ein, die zunächst gezeigt hat, dass Oxytocin als Zusatz zu einer Kurzzeit-Gruppentherapie gegeben werden kann, akzeptiert wird und akute Einsamkeitsgefühle mindern und die Bindung in der Gruppe verstärken kann. Der einzige Hinweis auf die Begrenztheit der Ergebnisse findet sich im letzten Satz des Artikels: „Die Forscher betonen, dass weitere Studien notwendig sind, bevor das Mittel gegen Einsamkeit auf den Markt kommt.“

8. Es werden UNABHÄNGIGE EXPERTEN oder QUELLEN genannt.

Unabhängige Expert*innen werden nicht zitiert. Das einzige Zitat im Text stammt von dem Forscherteam um Jana Lieberz im Uni-Klinikum Bonn (NRW), das an der Studie beteiligt war: „Depression, Herzerkrankungen oder Demenz – wer dauerhaft einsam ist, hat ein höheres Risiko krank zu werden“.

9. Es werden, falls vorhanden, INTERESSENKONFLIKTE im Beitrag thematisiert.

Die Autor*innen der Studie haben laut der Angaben in der Fachpublikation keine Interessenkonflikte. Einige Autor*innen geben an, durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft gefördert worden zu sein, einige bekamen Unterstützung von der German-Israel Foundation for Scientific Research and Development. Insofern ist es angemessen, das Thema Interessenkonflikte im Text nicht zu erwähnen. Wir werten insgesamt „ERFÜLLT“.

10. Der Beitrag liefert Informationen zur EINORDNUNG der Thematik in einen Kontext (Neuheit, Ethik).

Die Leser*innen erfahren lediglich, dass ein Nasenspray mit Oxytocin noch nicht auf dem Markt ist. Dass der Wirkstoff in der Geburtsmedizin seit Jahrzehnten als Wehenmittel und Stillhormon bekannt und teils zugelassen ist, erwähnt der Text nicht. Zudem wird nicht über die zahlreichen Studien berichtet, in denen seit etwa 20 Jahren die psychoaktive Wirkung von Oxytocin untersucht wird. Im Off-Label-Use, außerhalb einer Zulassung, wird der Wirkstoff mitunter bei Autismus oder anderen Verhaltensstörungen eingesetzt. Daher werten wir insgesamt „NICHT ERFÜLLT“.

11. Der Beitrag gibt die wesentlichen Daten und Fakten korrekt wieder (FAKTENTREUE).

In dem Artikel fehlt die konkrete Beschreibung der Studie. Im Text hätte erwähnt werden können, dass 78 Teilnehmende zufällig in zwei Gruppen eingeteilt wurden, beide Gruppen nahmen wöchentlich fünf Wochen lang an einer Gruppensitzung teil und gaben vor der Intervention, nach jeder Sitzung und zu zwei weiteren Zeitpunkten nach der Intervention über standardisierte Fragebögen Auskunft über ihr Einsamkeitsgefühl und Stresslevel. Während die eine Gruppe zusätzlich Oxytocin-Nasenspray bekam, erhielt die Kontrollgruppe ein Placebopräparat. Das Ergebnis war, dass die Gruppensitzungen das Einsamkeitsgefühl insgesamt reduzieren konnten, in beiden Gruppen, ebenso wie den Stress. Oxytocin hatte darauf keinen Einfluss. Die Arznei veränderte der Studie zufolge aber die Einsamkeitsgefühle während einer Gruppensitzung und verstärkte das Bindungsgefühl unter den Teilnehmenden.

Stattdessen wird im journalistischen Beitrag behauptet, dass 78 Frauen und Männer Oxytocin als Nasenspray verabreicht bekamen, was nicht richtig ist. Zudem heißt es im Artikel: „Die Forscher sagen, dass das Nasenspray den Stresspegel und das Gefühl der Einsamkeit verringert.“ Tatsächlich hat Oxytocin den Stresspegel nicht beeinflusst. Und in der Bildunterschrift wird Oxytocin sogar falsch geschrieben: „Das Kuschel-Hormon Oxitocin …“.

12. Der Beitrag geht über eine Pressemitteilung/das Pressematerial hinaus (JOURNALISTISCHE EIGENLEISTUNG).

Der Beitrag geht über das Pressematerial hinaus (siehe auch hier) es werden Informationen etwa über das Einsamkeitsministerium in Großbritannien genannt, auch die gesundheitsschädlichen Auswirkungen von Einsamkeit, die mit 15 Zigaretten verglichen werden, stammen nicht aus der Pressemitteilung. Wie sich Oxytocin auf den Körper auswirkt, stammt ebenfalls nicht aus der PM.

13. Ein Beitrag vermittelt ein Thema interessant und attraktiv (ATTRAKTIVITÄT DER DARSTELLUNG).

Zwar ist das Thema des Artikels interessant, auch das Schlagwort „Kuschelhormon“ regt sicher zum Lesen an. Die Einbettung in Zahlen, die Erwähnung des Einsamkeitsministeriums macht zudem die Relevanz klar. Die eigentliche Neuheit – der Bericht über die Nasenspray-Studie – kommt allerdings spät in dem kurzen Text, da wäre ein anderer Aufbau besser gewesen. Die Gewichtung zwischen der Darstellung des Problems Einsamkeit und dem Bericht über die Studie stimmt nicht; die Studie wird viel zu kurz abgehandelt.

Zudem schon die Überschrift reißerisch, übertrieben und falsch ist. Denn die Forscher entwickeln kein „Nasenspray gegen Einsamkeit“, sie haben untersucht, inwiefern sich das Spray auf die Wahrnehmung von Einsamkeit auswirken könnte (Ergebnis: nur punktuell). Auch gibt die Studie nicht her, dass sich das Stresslevel verändert (das tut es durch Oxytocin den Ergebnissen zufolge gerade nicht). Dass der Leser nicht erfährt, wie, was und wen die Forschenden tatsächlich untersucht haben, was die Ergebnisse waren und welche Schlüsse die Wissenschaftler*innen daraus ziehen, ist (ent-)täuschend.

14. Der Beitrag ist für ein Laienpublikum verständlich (VERSTÄNDLICHKEIT).

Wünschenswert wäre eine Erklärung gewesen, warum es in Bezug auf Einsamkeit hilft, dass Oxytocin die Bindungen innerhalb der Gruppe verbessert. Denn die Studienteilnehmer gehen nach wenigen Behandlungen wieder auseinander und sind erneut allein. Tatsächlich kann aber die bessere Bindung untereinander die Mitarbeit in der Gruppentherapie und damit deren Effekt verbessern. Dies hätte erklärt werden können. Dass Fragestellung und Ergebnisse der Studie falsch dargestellt sind, führt zusammen mit der reißerischen Überschrift zu unrealistischen Hoffnungen bei den Leser*innen. Denkbar ist, dass Menschen auf die Idee kommen, sich Oxytocin im Internet zu besorgen und in Eigenregie anzuwenden.

15. Das THEMA ist aktuell, relevant oder ungewöhnlich. (THEMENAUSWAHL).

Einsamkeit ist ein gesellschaftlich, gesundheitlich und psychologisch relevantes Thema in Deutschland und weltweit. Die aktuelle Studie von der Universität Bonn war ein guter Anlass, darüber zu berichten, auch wenn es in diesem Fall bei der Umsetzung haperte.

Medizinjournalistische Kriterien: 5 von 15 erfüllt

Abwertung um einen Stern (von 2 auf 1 Stern), da zentrale Qualitätskriterien wie Nutzen, Risiken, Qualität der Belege und Einordnung nicht erfüllt sind.

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Kriterium erfüllt

Kriterium nicht erfüllt

Kriterium nicht anwendbar