Bewertet am 30. März 2020
Veröffentlicht von: Zeit Online

Kaum ein Thema wird in Zeiten des Corona-Krise so diskutiert wie Ausgangssperren: Können sie die Ausbreitung des Coronavirus so bremsen, dass das deutsche Gesundheitssystem nicht kollabiert? Oder wird die Wirksamkeit dieser Maßnahme überschätzt? Ein langer Artikel auf Zeit online hat sich die Studienlage zu den Auswirkungen von Ausgangssperren sowie auch die möglichen Nebenwirkungen des sich daraus ergebenden „Social Distancing“ angesehen. Auf außergewöhnlich differenzierte und gut verständliche Art und Weise wird die gegenwärtige Evidenzlage zur Thematik dargelegt.

Zusammenfassung

Der Text befasst sich mit der Frage, wie effektiv soziale Maßnahmen wie Kontaktverbote die Ausbreitung der Corona-Infektionen bremsen können. Dabei thematisiert er ausführlich die Nebenwirkungen des „Social Distancing“, die in der Diskussion derzeit oft nicht genügend bedacht werden. Dafür wurden im Beitrag gleich mehrere Untersuchungen zusammengetragen – zur Wirksamkeit von Maßnahmen in China, Taiwan, Singapur und auch eine Meta-Analyse zu Grippe-Ausbrüchen in der Vergangenheit. Positiv ist, wie vorsichtig Ergebnisse vorgestellt werden und wie deutlich der Text macht, dass Entscheidungen der Politik (noch) kaum auf Evidenz beruhen können. Wünschenswert wäre eine noch detailliertere Einordnung gewesen, warum sich die Effizienz der Maßnahmen derzeit so schwer beurteilen lässt. So hätte erwähnt werden können, dass zum Beispiel Modellierungen auf vielen Vorannahmen beruhen. Ebenso spielt hinein, welche Voraussetzungen ein Gesundheitssystem bietet, ob zum Beispiel Tests auf das Coronavirus überhaupt verfügbar sind. Schließlich wäre noch der Hinweis wichtig gewesen, dass autoritäre Staaten wie China Maßnahmen rigider umsetzen als eine freiheitliche Gesellschaft – und dass Eingriffe in die Grundrechte auch aus politik- und rechtswissenschaftlicher Sicht langfristige Nebenwirkungen haben können.

Title

Medizinjournalistische Kriterien

1. Der NUTZEN ist ausreichend und verständlich dargestellt.

Vorab macht der Text klar, dass niemand mit letzter Sicherheit weiß, „welche Effekte eine Ausgangssperre auslöst“. Zitiert wird der Leiter der Abteilung Epidemiologie des Helmholtz-Zentrums Gérard Krause: „Für eine Entscheidung für oder gegen Ausgangssperren gibt es wenig wissenschaftliche Evidenz“. So eingeleitet wird im Beitrag vorsichtig über einen möglichen Nutzen von Ausgangssperren berichtet: „Einiges spricht auf den ersten Blick für Ausgangssperren, will man einen Ausbruch effektiv bekämpfen.“ Als Beleg wird auf drei Studien verwiesen, die sich mit der Wirksamkeit von Maßnahmen in Singapur, Taiwan und insbesondere China befassen. Dort hätte es demnach ohne die Maßnahmen einen 67-fachen Anstieg der Covid-19 Fälle geben können. Gleichzeitig wird erwähnt, dass nicht alle Maßnahmen gleich effektiv gewesen seien, besonders die Isolierung von Erkrankten und das Nachverfolgen von Kontaktpersonen hätten die Infektionsrate gebremst. Irreführend ist dagegen die Zwischenüberschrift: „Es geht auch ohne Ausgangssperren.“ Hier wird nicht berücksichtigt, dass das Ausbruchsgeschehen in einem riesigen Land wie China, mit über einen langen Zeitraum unerwähnten Infektionen wohl kaum mit der deutschen Situation vergleichbar ist, ebenso wenig wie die Lage in einem Stadtstaat wie Singapur.

2. RISIKEN und Nebenwirkungen werden angemessen berücksichtigt.

Über die sozialen Folgen von Ausgangssperren wird ausführlich berichtet. So heißt es: „Zu Hause bleiben zu müssen, kann Stress bedeuten. Angst, selbst krank zu sein oder zu erkranken, Langeweile und Frustration könnten schwerwiegende Folgen haben.“ Studien dazu gebe es nicht, wohl aber zu den Folgen von Quarantäne, die in etwa mit einer Ausgangssperre vergleichbar sei. Hier zeige sich zum Beispiel, „dass einige Menschen in Quarantäne Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung entwickeln, unter Depressionen oder Verwirrtheit“ litten und Pflegepersonal „über Erschöpfung, Reizbarkeit, Schlaflosigkeit und Konzentrationsschwächen klagte“. Auch die weit verbreitete Sorge um die Zunahme häuslicher Gewalt wird aufgegriffen, auch wenn es dazu – auch das wird erwähnt – keine verlässlichen wissenschaftlichen Erhebungen gibt. (Zu möglichen Nebenwirkungen aus wirtschafts-, politik- und rechtswissenschaftlicher Perspektive vgl. unter Kosten/Kontext.)

3. Die Qualität der Evidenz (STUDIEN etc.) wird richtig eingeordnet.

Insgesamt wird im Beitrag betont, dass fast keine wissenschaftliche Evidenz vorliege und es auch kein Patentrezept für nicht-pharmakologische Maßnahmen im Falle einer Pandemie gebe. Positiv zu werten ist auch der Hinweis, dass die Studie aus China noch nicht begutachtet wurde. Im journalistischen Beitrag wurden gleich mehrere Untersuchungen zusammengetragen, zum aktuellen Ausbruch wie auch zu historischen Erfahrungen mit Grippe-Epidemien. Allerdings hätten diese sehr unterschiedlichen Arbeiten noch mehr eingeordnet werden können. So wird nicht gesagt, ob zum Beispiel ein Grippe-Ausbruch mit dem jetzigen Corona-Ausbruch vergleichbar ist. Es hätte auch noch genauer erklärt werden können, warum eine Modellierung wie in der China-Studie viele Unwägbarkeiten birgt: Sie beruht auf vielen Vorannahmen, Ergebnisse können zum Beispiel verzerrt sein, weil die Beobachtungszeit zu kurz ist oder Untergruppen der Bevölkerung wie Kinder und Alte in ihrem Mobilitätsverhalten nicht erfasst werden konnten. Bei den Untersuchungen zu Singapur und Taiwan hätte man zudem erwähnen können, dass die dort getroffenen Maßnahmen zu einem sehr frühen Zeitpunkt des Ausbruchs ergriffen wurden. Daher werten wir nur knapp „ERFÜLLT“.

4. Es werden weitere EXPERTEN/Quellen zitiert und es wird auf INTERESSENSKONFLIKTE hingewiesen.

Es werden der Mathematiker Thomas Götz und der Leiter der Abteilung Epidemiologie des Helmholtz-Zentrums Gérard Krause zitiert. Beide waren an den im Beitrag erwähnten Studien nicht beteiligt. Hinweise auf Interessenskonflikte im Kontext mit den zitierten Studien haben wir nicht gefunden und müssen daher auch nicht erwähnt werden.

5. Der Beitrag geht über die PRESSEMITTEILUNG hinaus.

Wir haben dazu keine Pressemitteilung gefunden. Die Vielzahl der im Beitrag erwähnten Studien legen jedoch nahe, dass hier eine umfangreiche eigene journalistische Rechercheleistung vorliegt. Daher werten wir „ERFÜLLT“.

6. Der Beitrag macht klar, wie NEU der Ansatz/das Mittel wirklich ist.

Es wird klar, dass Maßnahmen wie Ausgangssperren oder Quarantäne-Verordnungen bereits früher zum Einsatz gekommen sind – etwa, um Grippe-Ausbrüche zu begrenzen. Gleichzeitig wird aber auch deutlich, dass historische Vergleiche und die Erfahrungen aus anderen Pandemien nicht zwingend auf die aktuelle Situation übertragbar sind.

7. Es werden ALTERNATIVE Behandlungsarten/Produkte/Tests vorgestellt.

Im Artikel wird eine Vielzahl von weiteren Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie erwähnt: Reisebeschränkungen, Social Distancing, die Isolierung von Kranken und Nachverfolgung von Kontaktpersonen. Zudem wird die Off-On-Strategie beschrieben, die Wissenschaftler um Neil Ferguson vom Imperial College für nötig halten: Er sagt, „dass die strengen Maßnahmen zeitweise wieder zurückgefahren werden könnten, wenn die Situation es erlaubt. Sie müssten allerdings schleunigst wieder aufgenommen werden, wenn die Fallzahlen wieder steigen“.

8. Es wird klar, ob oder wann ein(e) Therapie/Produkt/Test VERFÜGBAR ist.

Es wird klar, dass auch nicht-autoritäre Staaten derzeit starke Beschränkungen für soziale Kontakte beschließen können.

9. Der Beitrag geht (angemessen) auf die KOSTEN ein.

In diesem Beitrag werden nur soziale und psychische Folgen der Ausgangssperre (und auch Quarantäne) beschrieben, auf einen wirtschaftlichen Bezug wird verzichtet. Doch wäre es natürlich auch interessant gewesen, mehr über die wirtschaftlichen Folgen einer Ausgangssperre selbst sowie auch zu den möglichen Folgen für das Gesundheitssystem durch die psychischen Nebenwirkungen zu erfahren. Allerdings ist die im vorliegenden Artikel dargestellte Thematik bereits äußerst komplex, insofern hätte der wirtschaftliche Aspekt den Text womöglich auch überfrachtet. Eine zumindest kurze Erwähnung möglicher wirtschaftlicher Folgen ebenso wie der politik- und rechtswissenschaftlicher Perspektive wäre aber wünschenswert gewesen. Wir werten daher insgesamt knapp „NICHT ERFÜLLT“.

10. Der Beitrag vermeidet Krankheitsübertreibungen/-erfindungen (DISEASE MONGERING).

Die Folgen der Pandemie werden nicht übertrieben dargestellt, die Dramatik der Lage am Beispiel Italiens nur kurz und anschaulich geschildert: „In Bergamo etwa sterben derzeit jeden Tag so viele Menschen an Covid-19, dass das örtliche Krematorium keine Kapazitäten mehr hat und das Militär die Leichen zum Einäschern in andere Städte und Regionen bringen muss.“

Allgemeinjournalistische Kriterien

1. Das THEMA ist aktuell, relevant oder ungewöhnlich.

Das Thema ist hochaktuell angesichts der fortschreitenden Pandemie und der in der deutschen Nachkriegsgeschichte einmaligen Gegenmaßnahmen. Zudem hat der Text mehrere aktuelle Studien zum Thema zusammengetragen und eine in der öffentlichen Diskussion zunächst vernachlässigte Frage thematisiert: Was macht der Shut-Down mit der Psyche der Menschen?

2. Die journalistische Darstellung des Themas ist gelungen (VERSTÄNDLICHKEIT/VERMITTLUNG).

Der Text beginnt mit einer Schilderung der aktuellen Situation, wie es zu jenem Zeitpunkt (Stand: 24. März) in deutschen Parks und Cafés aussieht. Im Beitrag wird sowohl auf wissenschaftlicher wie auch der politischer Ebene argumentiert. Dabei wird dargelegt, dass politisches Handeln aktuell nötig, aber nicht unbedingt evidenzbasiert ist, weil es an zuverlässigen Studien mangelt (zur schwierigen Evidenzlage insgesamt vgl. z.B. ebm-netzwerk.de/de/veroeffentlichungen/covid-19). Insgesamt ist der Beitrag sehr gut verständlich und logisch aufgebaut.

3. Die Fakten sind richtig dargestellt.

Wir haben keine Faktenfehler gefunden.

Medizinjournalistische Kriterien: 9 von 10 erfüllt

Allgemeinjournalistische Kriterien: 3 von 3 erfüllt

Title

Kriterium erfüllt

Kriterium nicht erfüllt

Kriterium nicht anwendbar