Bewertet am 2. April 2020
Veröffentlicht von: Frankfurter Rundschau (online)

Jeder Wirkstoff, der vielleicht gegen das Coronavirus helfen könnte, wird in diesen Tagen schnell zur Schlagzeile. So machte auch das Malariamedikament Chloroquin in den Medien seine Runden, zumal französische Wissenschaftler angeblich erste Therapieerfolge bei Patienten mit Covid-19 (der durch das Coronavirus ausgelösten Erkrankung) vermeldet hatten. In einem aktuellen Artikel der Frankfurter Rundschau gelingt es, diese Nachricht – mit gewissen Einschränkungen – verständlich und mit gebührender Distanz einzuordnen.

Zusammenfassung

Ein möglicher Wirkstoff gegen Coronaviren ist eines der Themen in der aktuellen Berichterstattung. Wenig verwunderlich also, dass eine kleine französische Studie mit dem altbekannten Malaria-Medikament Chloroquin weltweit große Aufmerksamkeit erhielt. Ob die Hoffnung um die alte Arznei gerechtfertigt ist, versucht der aktuelle journalistische Artikel auf recht differenzierte Art und Weise zu beantworten. Auch unabhängige Experten kommen zu Wort. Allerdings findet sich im Text nur eine allgemeine Einordnung des Wirkstoffpotenzials von Chloroquin; die aktuelle französische Studie wird nur kurz erwähnt, deren Aufbau und genaue Ergebnisse werden nicht weiter erläutert. Diese Informationen wären für die Leserinnen und Leser aber nützlich gewesen, um die Nachrichten um Chloroquin noch besser einordnen zu können.

Title

Medizinjournalistische Kriterien

1. Der NUTZEN ist ausreichend und verständlich dargestellt.

Der Bericht bewertet die Studie aus Marseille nur kurz: „Die Fallzahlen sind allerdings zwangsläufig gering, Wissenschaftler bewerten die Datenlage insgesamt als dünn.“ Hier wären mehr konkrete Informationen zum Studienaufbau hilfreich gewesen. Tatsächlich erhielten nur 20 Patienten das Malariamittel Hydroxychloroquin. Nach drei Tagen waren bei der Hälfte von ihnen keine Viren mehr nachweisbar, in der Kontrollgruppe nur bei einem von 16 Patienten. Nach zehn Tagen waren 14 von 20 Patienten (70 Prozent) virusfrei, in der Kontrollgruppe war das nur bei zwei von 16 Patienten der Fall. Ein kleiner Teil der Patienten hatte zusätzlich das Antibiotikum Azithromyzin erhalten. Bei der Veröffentlichung handelt es sich um die Vorveröffentlichung einer klinischen Studie, wobei die Wissenschaftler selbst betonen, dass es sich um eine kleine Stichprobe handelt. Auch wurden die Patienten nicht zufällig in eine Behandlungs- und Kontrollgruppe aufgeteilt, so wie es in hochwertigen klinischen Studien üblich ist (vgl. auch Kriterium 3). So waren die Patienten in der Behandlungsgruppe zum Beispiel deutlich älter als in der Vergleichsgruppe, was die Interpretation der Ergebnisse erheblich erschwert. Dennoch kommen die Studienautoren in ihrer Fachpublikation zu der Empfehlung, „Covid-19-Patienten mit Hydroxychlorin und Azithromycin zu behandeln, um ihre Infektion zu heilen und die Weitergabe des Virus an andere zu begrenzen“. Dies wird im journalistischen Beitrag nur indirekt eingeordnet, durch ein Zitat aus dem NDR-Podcast des Virologen Christian Drosten von der Berliner Charité. Er erklärt, dass Chloroquin zwar in Zellkulturen eine Infektion mit dem alten Coronavirus Sars-CoV-1 verlangsame. Das „müsse aber nicht zwangsläufig auch bei Covid-19-Patienten so sein, da Stoffe im Körper anders wirken als in der Zellkulturschale. Zudem sei in der französischen Studie die Virenkonzentration im Hals der Patienten gemessen worden – und nicht in der Lunge, wo sich bei schweren Verläufen das Krankheitsgeschehen konzentriert.“ Hier hätte man sich eine kritischere Einordnung gewünscht. Dennoch werten wir insgesamt knapp „ERFÜLLT“.

2. RISIKEN und Nebenwirkungen werden angemessen berücksichtigt.

Mögliche Nebenwirkungen der Malariamittel werden ausdrücklich thematisiert: „Beide Arzneistoffe können zum Teil schwerwiegende Nebenwirkungen haben, Hydroxychloroquin in geringerer Ausprägung als Chloroquin. Neben Magen-Darm-Beschwerden, Juckreiz, Schlafstörungen oder Schwindel können in seltenen Fällen vorübergehende Hornhauttrübungen und – schlimmer – irreversible Netzhautschäden auftreten.“ Zudem wird in dem Artikel auch das Risiko eines voreiligen Einsatzes angesprochen, nämlich „dass es für beide Substanzen keine Erfahrungen mit Corona-Patienten gebe und sie auch sonst nicht sehr gut bei Patienten mit schweren Funktionsstörungen innerer Organe untersucht seien. Auch wisse man nicht, welche Dosis optimal sei.“ Ein weiteres, indirektes Risiko der Off-Label-Verwendung der Malaria-Mittel zur Corona-Therapie erwähnt der Text indes nicht: Schon jetzt fürchten Fachleute, dass schwerkranke Rheuma-Patienten nicht mehr ausreichend Medikamente erhalten könnten. Denn auch hierfür werden solche Mittel eingesetzt.

3. Die Qualität der Evidenz (STUDIEN etc.) wird richtig eingeordnet.

Zu Zeiten der Corona-Pandemie werden Studienergebnisse noch schneller als zuvor publiziert, häufig, ohne vorab von unabhängigen Experten geprüft worden zu sein. Am 9. März hatten chinesische Forscher von der Universität Peking die Ergebnisse einer Studie von Chloroquin an Zellkulturen im Labor veröffentlicht. Unmittelbar danach begann der Forscher Didier Raoult am Institut Hospitalo-Universitaire Méditerrannée Infection Marseille mit seiner Studie an den 20 Patienten (Laufzeit der Studie: „from early March to March 16th“, von Anfang März bis 16. März). Noch am gleichen Tag (16.03.) veröffentlichte Raoult in einem YouTube-Video erste Ergebnisse, das Paper erschien nur einen Tag später (17.03.); ein bei guten Fachzeitschriften sonst übliches Begutachtungsverfahren (peer review) ist in so kurzer Zeit kaum möglich. Umso wichtiger wäre es gewesen, die Mängel der Studie und ihren vorläufigen Charakter im journalistischen Beitrag darzustellen – dass zum Beispiel keine zufällige Verteilung in zwei Probandengruppen erfolgte und die Teilnehmerzahl sehr klein war. Daher werten wir „NICHT ERFÜLLT“.

4. Es werden weitere EXPERTEN/Quellen zitiert und es wird auf INTERESSENSKONFLIKTE hingewiesen.

Drei von der französischen Studie unabhängige Experten kommen im journalistischen Text zu Wort, wobei vermutlich nur einer von ihnen direkt kontaktiert wurde. Der Virologe Christian Drosten von der Berliner Charité hat sich in seinem NDR-Podcast zu der Studie geäußert, was hier übernommen (aber auch kenntlich gemacht) worden ist. Ebenso wenig dürfte der Direktor der Nationalen Instituts für Allergien und Infektionskrankheiten in den USA, Anthony Fauci, direkt dazu befragt worden sein. Das ist verzeihlich, da in dieser Großkrisenlage nur wenige Experten für Medien erreichbar sind. Allerdings gab es auch vorsichtig positive Bewertungen in der Fachwelt, so dass die französische Regierung rasch verkündete, die Studie sei „ein vielversprechender Anfang“ und solle ausgebaut werden, um die Ergebnisse zu bestätigen – oder zu widerlegen. Noch eine solche, weniger skeptische, unabhängige Stimme wäre daher hilfreich gewesen, um die ganze Bandbreite der Diskussion abzudecken.

5. Der Beitrag geht über die PRESSEMITTEILUNG hinaus.

Uns ist keine Pressemitteilung zu der wissenschaftlichen Studie bekannt. Daher gehen wir von einer eigenen Rechercheleistung aus, zumal verschiedene unabhängige, kritische Experten im journalistischen Beitrag zu Wort kommen.

6. Der Beitrag macht klar, wie NEU der Ansatz/das Mittel wirklich ist.

Gleich am Anfang des Artikels wird Donald Trump zitiert mit den Worten, dass „dieses Mittel die Wende in der Corona-Krise bringen könne“. Zudem wird aufgelistet, dass in China, Südkorea und Italien bereits Corona-Patienten mit Malariamitteln behandelt werden und vermutlich auch in den USA. Ferner heißt es: „In Deutschland will das Institut für Tropenmedizin in Tübingen das Malaria-Medikament nun ebenfalls als Therapie bei Covid-19 testen.“ Auch die Geschichte von Chloroquin, 1934 erstmals von der I.G. Farben hergestellt, und des von ihm abgeleiteten Hydroxychloroquin wird erklärt: Beide sind „mit Chinin verwandt“ und waren „früher die wichtigsten Medikamente zur Malariaprophylaxe“. „Heute werden sie wegen zunehmender Resistenzen des Erregers nur noch selten zu diesem Zweck verordnet.“ Es wird also sehr klar dargestellt, dass Chloroquin ein altbekanntes Medikament ist, aber erst seit kurzem versuchsweise gegen das Coronavirus zum Einsatz kommt.

7. Es werden ALTERNATIVE Behandlungsarten/Produkte/Tests vorgestellt.

Im Text wird allein über Chloroquin bzw. Hydroxychloroquin als neuer Therapieansatz gegen das Coronavirus berichtet. Alternativen werden nur sehr knapp und indirekt angesprochen: Das Malariamittel könnte interessant und hilfreich sein „… bis ein zielgerichtetes antivirales Mittel gefunden ist“. Zusätzlich wäre es interessant gewesen, die anderen möglichen Behandlungsoptionen zu erwähnen, auch weil die Weltgesundheitsorganisation fast zeitgleich verkündet hatte, dass vier Medikamente bzw. Kombinationen getestet werden, u.a. auch Remdesivir, Chloroquin und die HIV-Kombination Lopinavir/Ritonavir. Daher werten wir knapp „NICHT ERFÜLLT“.

8. Es wird klar, ob oder wann ein(e) Therapie/Produkt/Test VERFÜGBAR ist.

Die Verfügbarkeit der Medikamente wird thematisiert: „Der deutsche Pharmakonzern Bayer hat bereits drei Millionen Tabletten seines Malariamittels mit dem Handelsnamen „Resochin“ gespendet. Es soll in amerikanischen Kliniken Covid-19-Patienten in einer Kombination mit dem Antibiotikum Azithromycin gegeben werden.“ Ebenso wird die nötige Zeit erwähnt, die für klinische Studien unabdingbar ist: „Auch Anthony Fauci, Direktor der Nationalen Instituts für Allergien und Infektionskrankheiten in den USA, dämpft allzu große Hoffnungen, mit dem Malariamittel könne schnell ein Medikament zur Behandlung von Covid-19-Patienten verfügbar sein. Es werde Monate dauern, bis man wisse, ob es wirklich sicher und wirksam sei.“ Es wird also deutlich, dass Ärzte Chloroquin bisher nur in Einzelfällen als Therapie von Covid-19-Patienten eingesetzt haben.

9. Der Beitrag geht (angemessen) auf die KOSTEN ein.

Der Kostenaspekt wird kurz angesprochen: „Chloroquin und das von ihm abgeleitete Hydroxychloroquin sind relativ günstige Arzneistoffe“, heißt es im Artikel. Allerdings bleibt unerwähnt, dass sich momentan um die möglichen Kosten und Patente für verschiedene, potentielle Medikamente für Covid-19-Patienten eine große Diskussion entwickelt. Ein Pharmaunternehmen in den USA hat im Januar zum Beispiel den Preis seines Malariamittels verdoppelt (siehe auch: ft.com/content). Daher werten wir nur knapp „ERFÜLLT“.

10. Der Beitrag vermeidet Krankheitsübertreibungen/-erfindungen (DISEASE MONGERING).

Der Artikel ist in diesem Punkt in sehr neutralem Ton gehalten; die Krankheitsverläufe von Covid-19 werden gar nicht explizit erwähnt.

Allgemeinjournalistische Kriterien

1. Das THEMA ist aktuell, relevant oder ungewöhnlich.

Ein mögliches Medikament gegen Covid-19 ist angesichts tausender Tote und eines wirtschaftlichen Stillstands in vielen Ländern eine sehr relevante Nachricht. Aktuell ist das Thema auch. Zwar erschien das Paper zur Studie fünf Tage vor dem journalitischen Artikel, aber als Nachricht um die Welt ging das Thema erst durch Tweets von Donald Trump zwei Tage vor dem Erscheinen des Artikels.

2. Die journalistische Darstellung des Themas ist gelungen (VERSTÄNDLICHKEIT/VERMITTLUNG).

Die Frage, warum ein Malaria-Medikament von 1934 vielleicht gegen Covid-19 helfen könnte, ist für die Leserinnen und Leser im Großen und Ganzen verständlich erklärt. Auch wird das Interesse der Leser gleich zu Anfang geweckt, als es um die Superlative Donald Trumps geht. Fachbegriffe werden vermieden und biologische Wirkmechanismen kurz erläutert. Leider bleibt der Artikel dabei stets sehr allgemein und wirkt etwas zusammengesetzt. Dabei ist auch die Gewichtung der einzelnen Themenaspekte nicht immer gelungen, der neuen Studie selbst wird zum Beispiel zu wenig Raum gegeben. Daher werten wir nur knapp „ERFÜLLT“.

3. Die Fakten sind richtig dargestellt.

Der Artikel nennt keine konkreten Daten etwa aus der zugrundeliegenden französischen Studie, sondern beschränkt sich auf Einordnungen von anderen Experten oder Institutionen. Fehler haben wir darin nicht gefunden. Nur eine Ungenauigkeit ist uns aufgefallen: Im Text wird beschrieben, dass Chloroquin 1934 erstmals unter dem Handelsnamen „Resochin“ „von der I. G. Farbenindustrie – aus der später Bayer hervorging – hergestellt“ wurde. Richtig ist, dass nach Ende des Nazi-Regimes aus I.G. Farben viele verschiedene Unternehmen hervorgingen, darunter auch die Bayer AG. Dies werten wir jedoch nicht als Fehler, zumal dieser Aspekt für den vorliegenden Text keine Relevanz hat. Daher werten wir insgesamt „ERFÜLLT“.

Medizinjournalistische Kriterien: 8 von 10 erfüllt

Allgemeinjournalistische Kriterien: 3 von 3 erfüllt

Title

Kriterium erfüllt

Kriterium nicht erfüllt

Kriterium nicht anwendbar