Der journalistische Artikel im Tagesspiegel berichtet über den Cholesterinsenker Enlicitide, der in einer Studie in Tablettenform getestet wurde. Bislang gab es Medikamente dieser Wirkstoffgruppe nur als Injektion. Im ersten Drittel des Textes kommt die Frage auf, ob es sich hierbei um einen Durchbruch bei der Therapie von Blutgefäßerkrankungen handle. Auch wenn dies als Frage formuliert wird, werden hier doch große Hoffnungen zum Nutzen des Medikaments geweckt, die aus den bislang bekannten Studienergebnissen nicht erfüllt werden können. Zudem ist der Text an mancher Stelle schwer verständlich geschrieben, ein Anlass für die Berichterstattung erschließt sich nicht.
Zusammenfassung
Der journalistische Beitrag im Tagesspiegel berichtet über eine neue Darreichungsform von PCSK-9-Hemmern, einem Cholesterinsenker, der unter dem Namen Enlicitide als Tablette verfügbar ist, zuvor gab es diese Medikamente nur als Spritze. Wie relevant dieser Unterschied für die Prävention von Herzinfarkten und Schlaganfälle tatsächlich ist, wird von den zitierten Experten unterschiedlich eingeschätzt. Es fehlen konkrete Angaben zum Nutzen des neuen Medikaments, insbesondere, ob es mehr Herzinfarkte verhindert als bisher verfügbare Medikamente, wie die Überschrift des Artikels suggeriert. Der Artikel weist korrekt darauf hin, dass Enlicitide noch nicht zugelassen ist. Doch bleibt im Text leider unerwähnt, dass die beschriebene Studie bislang noch nicht publiziert ist und die Informationen dazu offenbar nur auf den Angaben des Herstellers beruhen.
(Anmerkung: Der Originalartikel befindet sich hinter einer Bezahlschranke.)
Die Kriterien
1. Die POSITIVEN EFFEKTE sind ausreichend und verständlich dargestellt (NUTZEN).
Der oral verabreichte Wirkstoff zur Cholesterinsenkung soll Herzinfarkte und Schlaganfälle verhindern. Ob er dies tatsächlich tut, ist dem journalistischen Beitrag nicht zu entnehmen. Es wird lediglich berichtet, dass laut einer Studie des Herstellers die Cholesterinwerte um „50 Prozent und mehr“ gesenkt würden. Der Artikel weist nicht darauf hin, dass die Senkung des Cholesterins allein nur ein sekundärer Endpunkt ist, kein Nachweis des klinischen Nutzens. Auch werden keine Zahlen im Vergleich zu anderen Cholesterinsenkern genannt, den Statinen.
Der Nutzen gegenüber anderen PCSK-9-Hemmer in Bezug auf die Darreichungsform (Tablette statt Spritze) wird ganz am Ende des Textes stark relativiert, indem darauf hingewiesen wird, dass die Spritze alle 2 Wochen bis 6 Monate verabreicht, die Tablette dagegen täglich eingenommen wird. Daher werten wir insgesamt „NICHT ERFÜLLT“.
2. Die RISIKEN & NEBENWIRKUNGEN werden angemessen berücksichtigt.
Nebenwirkungen von Enlicitide seien „nicht höher als in der Placebogruppe“, heißt es im Artikel recht allgemein. Welche Nebenwirkungen überhaupt auftraten, und wie häufig und gravierend diese waren, wird indes nicht erläutert; dafür werden aber ausführlich die negativen Effekte anderer Cholesterinsenker, insbesondere der Statine herausgestellt. Hier wären detaillierte Informationen hilfreich gewesen, daher werten wir insgesamt „NICHT ERFÜLLT“.
3. Es wird klar, ob eine Therapie/ein Produkt/ein Test VERFÜGBAR ist.
Es wird klar, dass Enlicitide noch nicht auf dem Markt ist, anders als andere PCSK-9-Hemmer. Auch wird deutlich, dass der Hersteller die Zulassung im Jahr 2026 beantragen möchte. Damit wird klar, dass das Medikament bislang noch nicht verfügbar ist.
4. Es werden ALTERNATIVE Behandlungsarten/Produkte/Tests vorgestellt.
Der journalistische Beitrag berichtet ausführlich über Statine als herkömmliche Cholesterinsenker und beschreibt grob die unterschiedlichen Wirkungsmechanismen. Nichtmedikamentöse Ansätze, das Infarktrisiko zu senken werden dagegen nicht angesprochen, gesunde Ernährung etwa, ausreichend Bewegung, Verzicht auf Rauchen. Auch wäre eine ausführlichere Erläuterung bereits zugelassener PCSK-9-Hemmer hilfreich gewesen. Daher werten wir insgesamt nur knapp „ERFÜLLT“.
5. Die KOSTEN werden im journalistischen Beitrag in angemessener Weise berücksichtigt.
Die Kosten werden im Text zumindest kurz angesprochen: Spritzen seien teurer als Tabletten – „auch wenn man über den Preis nach der Zulassung noch nichts weiß“. Zusätzlich wäre es hilfreich zu wissen gewesen, in welcher Größenordnung sich die anderen PCSK-9-Hemmer bewegen. Idealerweise hätte noch erläutert werden können, ob die andere Darreichungsform als Tablette bereits als Zusatznutzen beim zuständigen IQWIG gilt – was einen höheren Preis rechtfertigen würde. Insgesamt werten wir daher knapp „NICHT ERFÜLLT“.
6. Es sind keine Anzeichen von Krankheitserfindungen/-übertreibungen zu finden (DISEASE MONGERING).
Wir haben keine Anzeichen für eine übertriebene Darstellung von Herzkreislauferkrankungen gefunden.
7. Der journalistische Beitrag ordnet die QUALITÄT der Belege/der Evidenz ein.
Über die von MSD vorgelegte Studie (die offenbar noch nicht publiziert ist), erfährt man wenig. Nach Angaben von MSD haben „auch 111 Patienten in deutschen Prüfzentren teilgenommen“ – wie viele es insgesamt waren, wie lange die Studie lief, ob sie verblindet war und wie die Ergebnisse im Einzelnen ausfielen, bleibt offen.
8. Es werden UNABHÄNGIGE EXPERTEN oder QUELLEN genannt.
Der journalistische Beitrag zieht zwei nicht an der Studie zu Enlicitide beteiligte Experten heran. Der eine erhofft sich „eine deutliche Verbesserung der Versorgungssituation“ durch Enlicitide, der andere dagegen weist darauf hin, dass sich nicht um einen völlig neuen Wirkstoff handelt, sondern nur um eine neue Darreichungsform. Ob diese tatsächlich eine Erleichterung sei, müssten die Betroffenen beurteilen. Leider wird im Text nicht darauf hingewiesen, dass bislang nur Studienergebnisse von Seiten des Pharmakonzerns MSD vorliegen, nicht in Form einer in einem Peer-Review-Verfahren begutachteten Fachpublikation. Daher werten wir insgesamt nur knapp „ERFÜLLT“.
9. Es werden, falls vorhanden, INTERESSENKONFLIKTE im Beitrag thematisiert.
Der journalistische Beitrag erwähnt, dass es sich um eine Studie des Enlicitide-Herstellers MSD handelt. Hinweise auf Interessenkonflikte der zitierten Experten haben wir nicht gefunden.
10. Der Beitrag liefert Informationen zur EINORDNUNG der Thematik in einen Kontext (Neuheit, Ethik).
Es wird berichtet, dass es sich bei Enlicitide um einen neuen, oral zu verabreichenden Wirkstoff handelt, der aber zu einer bereits länger verfügbaren Wirkstoffgruppe gehört. Neu sei im Wesentlichen die Darreichungsform – eine tägliche Tablette statt einer Spritze alle paar Wochen oder Monate. Allerdings hätte man sich hier ein wenig mehr Informationen gewünscht, daher werten wir nur knapp „ERFÜLLT“.
11. Der Beitrag gibt die wesentlichen Daten und Fakten korrekt wieder (FAKTENTREUE).
Der Artikel nennt kaum Zahlen und Fakten zum vorgestellten neuen Medikament und der entsprechenden Studie. Insbesondere fehlt ein klarer Hinweis darauf, dass die Studiendaten bislang nur vom Hersteller per Pressemitteilung vorgestellt wurden, aber noch keine begutachtete Publikation vorliegt, anhand derer die Angaben zu überprüfen wären.
Kritisch anzumerken ist auch, dass zu Beginn des Textes große Erwartungen hinsichtlich des neuen Wirkstoffs geführt werden, bis am Ende des Artikel deutlich wird, dass es sich nur um eine neue Darreichungsform (als Tablette) handelt und hier nicht einmal sicher ist, ob diese einen Vorteil für die Betroffenen darstellt. Faktenfehler haben wir jedoch nicht finden können, daher werten wir insgesamt noch knapp „ERFÜLLT“.
12. Der Beitrag geht über eine Pressemitteilung/das Pressematerial hinaus (JOURNALISTISCHE EIGENLEISTUNG).
Der journalistische Beitrag enthält sehr viel weniger Informationen zur Studie als die Pressemitteilung des Herstellers https://www.merck.com/ und liefert keine zusätzlichen Informationen zu Enlicitide. Mit den Einschätzungen durch externe Experten geht er jedoch über die Pressemitteilungen hinaus.
13. Ein Beitrag vermittelt ein Thema interessant und attraktiv (ATTRAKTIVITÄT DER DARSTELLUNG).
Der Artikel ist nachrichtlicher, nüchterner Sprache gehalten, was zunächst anlässlich der Vorstellung neuer Studienergebnisse angemessen erscheint. Doch finden sich im Text an manchen Stellen sprachlich unglückliche Formulierungen, etwa: „etwas gebremster euphorisch äußert sich …“ oder „diese könnten daran begründet sein, dass …“. Insgesamt liest sich der Text leider nicht flüssig, an mancher Stelle hätte ein Vergleich oder ein Sprachbild gutgetan.
14. Der Beitrag ist für ein Laienpublikum verständlich (VERSTÄNDLICHKEIT).
Zu Anfang wird erklärt, warum Cholesterin problematisch ist, was gut in die Thematik einführt. Doch werden im Text dann Fachbegriffe wie PCSK-9-Hemmer stehen gelassen, ohne sie weiter zu erläutern. Zwei Kardiologen werden zu den Studienergebnissen zitiert, doch stehen sich ihre unterschiedlichen Aussagen im Text dann nur gegenüber, ohne dass die Unterschiede aufgelöst werden. Das dürfte die Lesenden ratlos zurücklassen. Wichtige Informationen werden im Artikel ausgelassen, etwa die Frage, ob PCSK-9-Hemmer als Tabletten genauso wirksam Infarkten vorbeugen können wie als Injektion. Auch könnte verwirren, dass die zum Text gehörige Infobox sich zwar auf PCSK-9-Hemmer bezieht, aber in der herkömmlichen Darreichungsform, als Spritze.
15. Das THEMA ist aktuell, relevant oder ungewöhnlich. (THEMENAUSWAHL).
Die Vorbeugung von Herzinfarkten und Schlaganfällen ist zweifellos ein relevantes Thema. Hier allerdings werden Studienergebnisse eines Pharmaherstellers vorgestellt, die noch nicht in als Fachpublikation veröffentlicht wurden – und bei denen es vor allem darum geht, einen Wirkstoff nun als Tablette anzubieten statt als Spritze. Hier sehen wir eher keinen Anlass für eine aktuelle Berichterstattung, daher werten wir, wenn auch knapp, „NICHT ERFÜLLT“.
Medizinjournalistische Kriterien: 8 von 15 erfüllt
Abwertung um einen Stern (von 3 auf 2), Begründung: Zentrale Kriterien wie Nutzen, Nebenwirkungen und Qualität der Belege sind als „nicht erfüllt“ gewertet.