In der EU ist ein neues Medikament zugelassen worden: Das Präparat Zuranolon, das Wochenbettdepressionen wirksam und rasch mildern soll. Der journalistische Beitrag im Hamburger Abendblatt (online) stellt die Arznei kurz vor und lässt ihre Wirksamkeit vom Vorsitzenden der Stiftung Deutsche Depressionshilfe einordnen. Sein Fazit: Eine postpartale Depression ist eine Erkrankung, die unbedingt behandlungsbedürftig ist; ob Zuranolon dabei ein Mittel der Wahl ist, bleibt jedoch abzuwarten, und in einem ganzheitlichen Therapieansatz gehört zu einer medikamentösen Unterstützung immer auch eine psychotherapeutische Behandlung. Auf die Ergebnisse der für die Zulassung relevanten Studien geht der Artikel leider nicht ein.
Zusammenfassung
Der journalistische Beitrag im Hamburger Abendblatt (online) berichtet über das in der EU neu zugelassene Medikament Zuranolon gegen postpartale Depressionen. Ein Präparat, das in den USA schon länger eingesetzt wird. Der Artikel greift damit ein aktuelles, für viele Frauen relevantes Thema auf. Studien, so viel wird deutlich, fanden eine deutliche, statistisch signifikante Besserung der Symptome innerhalb von zwei Wochen nach Beginn der Therapie. Leider fehlen im journalistischen Beitrag jedoch quantitative Angaben zum Nutzen, auch wird über Risiken und Nebenwirkungen nicht ausreichend informiert. Angaben zur Qualität und Aussagekraft der Studien enthält der Beitrag nicht, es wird lediglich die Gesamtzahl der Teilnehmerinnen aus verschiedenen Studien genannt. Positiv zu bewerten ist die kritische Einordnung durch einen Experten, der nicht an der Zulassungsstudie beteiligt war.
Die Kriterien
1. Die POSITIVEN EFFEKTE sind ausreichend und verständlich dargestellt (NUTZEN).
Zum Nutzen des neu zugelassenen Medikaments heißt es im Artikel nur: „Die neue Pille verspricht, Beschwerden von Betroffenen innerhalb kürzester Zeit zu lindern – bereits nach zwei Wochen sollen depressive Symptome deutlich abnehmen“. Immerhin erklärt der befragte Experte später, dass der Wirkstoff Zuranolon einen sedierenden Effekt hat, und weiter heißt es dann im Beitrag: „Sedierende Antidepressiva wirken beruhigend und dämpfend, können Angstzustände lösen.“
Doch Zahlenangaben zur Wirkung des neuen Medikamentes fehlen völlig. Dass auch in der Placebo-Gruppe der Zulassungsstudie die depressiven Symptome über die Wochen hinweg kontinuierlich abnahmen, wäre eine interessante Zusatzinformation gewesen. Daher werten wir insgesamt „NICHT ERFÜLLT“.
2. Die RISIKEN & NEBENWIRKUNGEN werden angemessen berücksichtigt.
Als Nachteil des neuen Medikaments wird angesprochen, dass die damit behandelten Mütter nicht stillen sollen. Die direkten Nebenwirkungen, wie sie in der Zulassungsstudie benannt werden, erwähnt der journalistische Beitrag jedoch nicht. So kamen etwa starke Schläfrigkeit (Somnolenz) und Schwindel bei mehr als zehn Prozent der Probandinnen vor. Daher werten wir „NICHT ERFÜLLT“.
3. Es wird klar, ob eine Therapie/ein Produkt/ein Test VERFÜGBAR ist.
Die EU-Kommission hat das Medikament jetzt zugelassen, berichtet der Beitrag. Damit ist das Präparat theoretisch verfügbar. Wann es aber tatsächlich in den Apotheken erhältlich sein wird, thematisiert der Text nicht. Daher werten wir nur knapp „ERFÜLLT“.
4. Es werden ALTERNATIVE Behandlungsarten/Produkte/Tests vorgestellt.
Der im journalistischen Beitrag zitierte Experte Ulrich Hegerl weist darauf hin, dass „Psychotherapie, insbesondere die Kognitive Verhaltenstherapie, die zweite wichtige Behandlungssäule bei Depressionen“ sei. Auch müsse noch geklärt werden, ob Zuranolon tatsächlich einen Zusatznutzen gegenüber anderen Antidepressiva habe.
5. Die KOSTEN werden im journalistischen Beitrag in angemessener Weise berücksichtigt.
Auf die Kosten des neuen Medikaments und auf die Frage, ob diese von den Krankenkassen übernommen werden, geht der Beitrag nicht ein.
6. Es sind keine Anzeichen von Krankheitserfindungen/-übertreibungen zu finden (DISEASE MONGERING).
Der journalistische Betrag stellt postpartale Depressionen als erstzunehmende, behandlungsbedürftige Erkrankung dar, ohne diese unangemessen zu dramatisieren. Diese sei vom verbreiteten „Babyblues“ zu unterscheiden, der von allein abklingt, so wird es im Text erklärt.
7. Der journalistische Beitrag ordnet die QUALITÄT der Belege/der Evidenz ein.
Es werden im Artikel „klinische Studien“ erwähnt, an denen etwa 350 Frauen teilgenommen hätten. Genauer benannt werden diese Quellen nicht. Vermutlich handelt es sich dabei u.a. um die Zulassungsstudie, die 196 Teilnehmerinnen umfasste. Welche weiteren Studien für die Berichterstattung einbezogen wurden, bleibt offen. Dass es sich um qualitativ hochwertige doppel-blinde Placebo-kontrollierte Studien handelt, wird nicht erwähnt. Daher werten wir „NICHT ERFÜLLT“.
8. Es werden UNABHÄNGIGE EXPERTEN oder QUELLEN genannt.
Der Vorsitzenden der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention, Professor Ulrich Hegerl, kommentiert die Zulassung des neuen Wirkstoffs Zuranolon.
9. Es werden, falls vorhanden, INTERESSENKONFLIKTE im Beitrag thematisiert.
Das Medikament wurde von den Pharmaunternehmen Sage Therapeutics und Biogen entwickelt und wird von Biogen vertrieben. Die Zulassungsstudie wurde von diesen Firmen finanziert, mehrere AutorInnen der Fachpublikation sind Beschäftigte von Sage Therapeutics oder Biogen. Leider wird auf diese Zusammenhänge im Artikel nicht hingewiesen.
10. Der Beitrag liefert Informationen zur EINORDNUNG der Thematik in einen Kontext (Neuheit, Ethik).
Im journalistischen Beitrag werden Wochenbettdepressionen, deren Häufigkeit und mögliche gravierende Folgen angemessen beschrieben. Der Artikel berichtet, dass das neue Medikament in den USA bereits seit 2023 zugelassen ist und in Europa jetzt aktuell zugelassen wurde.
11. Der Beitrag gibt die wesentlichen Daten und Fakten korrekt wieder (FAKTENTREUE).
Uns sind keine Faktenfehler aufgefallen. Doch werten wir folgende Formulierung im ersten Abschnitt des Artikels als problematisch: „Mutterliebe ist wohl das stärkste aller Gefühle und der Kitt für die erste Bindung im Leben. … Doch was passiert, wenn eine Mutter ihr Baby nicht lieben kann?“ Diese Einleitung in einem Artikel zur postpartalen Depression verleitet zu gefährlichen Missverständnissen. Frauen, die unter einer Depression leiden, haben oft Angst, ihr Kind nicht lieben zu können. Das ist keinesfalls gleichbedeutend mit der Formulierung, sie können ihr Baby nicht lieben. Daher werten wir, wenn auch knapp, „NICHT ERFÜLLT“.
12. Der Beitrag geht über eine Pressemitteilung/das Pressematerial hinaus (JOURNALISTISCHE EIGENLEISTUNG).
Vom Hersteller Biogen liegt eine Pressemitteilung zur positiven Bewertung durch die European Medicines Agency (EMA) vor (siehe: investors.biogen.com/). Der journalistische Beitrag geht allerdings deutlich darüber hinaus, vor allem durch die kritische Einschätzung eines unbeteiligten Experten.
13. Ein Beitrag vermittelt ein Thema interessant und attraktiv (ATTRAKTIVITÄT DER DARSTELLUNG).
Der journalistische Beitrag lädt zum Mitdenken ein – was verspricht die neue Pille, warum geht die Rechnung nicht so einfach auf, was sollte man noch wissen über Wochenbettdepressionen. Der Text ist dabei flüssig geschrieben und leicht lesbar.
14. Der Beitrag ist für ein Laienpublikum verständlich (VERSTÄNDLICHKEIT).
Der Text verzichtet auf Fachjargon und ordnet die neu zugelassene Behandlungsmöglichkeit für Wochenbettdepressionen verständlich ein, wenn auch die Informationen zum tatsächlichen Nutzen vage bleiben (siehe dazu Kriterium 1).
15. Das THEMA ist aktuell, relevant oder ungewöhnlich. (THEMENAUSWAHL).
Die Wochenbettdepression stellt eine gravierende psychische Erkrankung dar und betrifft viele Mütter, Daher handelt es sich um ein relevantes Thema. Die Zulassung eines neuen Medikaments in der EU ist zudem aktueller Anlass für die Berichterstattung.
Medizinjournalistische Kriterien: 9 von 15 erfüllt