Bewertet am 29. April 2025
Veröffentlicht von: FAZ.net

Ein Artikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (online) berichtet über die Behandlung von Kniearthrose. Der Text räumt mit dem Dogma auf, dass Knorpelgewebe nach Zerstörung nicht wieder nachwachsen kann und stellt die Distraktionstherapie als neue Therapieform vor. Dafür wird eine niederländische Übersichtsarbeit aus dem Jahr 2022 zitiert, auch werden zwei Wissenschaftler befragt. Es werden auch detailreich andere mögliche Therapien ebenso wie Präventionsmaßnamen für die Knie-Arthrose dargestellt. Leider werden mögliche Nebenwirkungen der Distraktionsbehandlung nicht erwähnt. So entsteht ein leider ein verzerrtes Bild dieser Behandlung, Formulierungen wie „kleine Sensation“ oder „wundersames Knorpelwachstum“ tragen zu dieser zu positiven Darstellung bei.

Zusammenfassung

Der Artikel berichtet über ein neues Verfahren, um den Kniegelenkersatz bei Patienten mit schwerer Arthrose hinauszuzögern: die Distraktion. Dabei wird das Kniegelenk mit Hilfe eines Rahmengestells über einen Zeitraum von sechs Wochen auseinandergezogen. Dass sich dabei neuer Knorpel bildet, hätten niederländische Studien ergeben. Welche Untersuchungen das genau sind und wie aussagekräftig sie waren, erfahren die Lesenden leider nicht. An keiner Stelle im Text werden die Studienergebnisse im Detail dargestellt und ausreichend quantifiziert. Unerwähnt bleibt auch, welchen Effekt der Eingriff auf das Befinden der Patienten hat, etwa auf die Schmerzen. Risiken und Nebenwirkungen werden nicht thematisiert, die Lesenden erfahren auch nicht, dass Männer eher als Frauen von der Prozedur profitieren. Die Publikation, auf die sich der journalistische Beitrag bezieht, wurde bereits im Jahr 2022 veröffentlicht, der Anlass des Artikels ist offensichtlich eine Fachtagung zu Arthrose-Erkrankungen in Freiburg. Kosten werden nicht thematisiert, auch sind vereinzelt Faktenfehler zu finden.

 

Hinweis: Der Originalbeitrag befindet sich hinter einer Paywall. 

Title

Die Kriterien

1. Die POSITIVEN EFFEKTE sind ausreichend und verständlich dargestellt (NUTZEN).

Im journalistischen Text geht es um ein Verfahren, das bei schwerer Kniegelenksarthrose den Gelenkersatz hinauszögern soll: die Distraktion, ein unkomplizierter Eingriff von einer halben Stunde. Dabei werden dem Patient*innen Schrauben und Stahlstangen eingesetzt, die miteinander zu einem Rahmengestell verbunden werden. Mit dem Gestänge werde das Kniegelenk für sechs Wochen im gestreckten Zustand fixiert und fünf Millimeter auseinandergezogen. Zum Nutzen heißt es im Text: „Ein neues Verfahren lässt Knorpelgewebe wieder nachwachsen, haben Mediziner in den Niederlanden bewiesen. Für die Orthopädie ist das eine kleine Sensation, ein Bruch mit einem Dogma.“ Und: Ein Team um die Orthopädin Mylène Jansen vom University Medical Center Utrecht habe „in mehreren Experimenten nachgewiesen, dass der Knorpelschwund nicht nur gestoppt, sondern auch rückgängig gemacht werden kann“. Die Utrechter Orthopäden hätten ihren Ansatz vor drei Jahren in einem Übersichtsartikel in der Fachzeitschrift Nature Reviews Rheumatology zusammengefasst (siehe auch www.nature.com). Als weiterer Experte wird Henning Madry von der Universität des Saarlands zitiert: Die Kollegen aus Utrecht hätten solide Beweise vorgelegt, bei mehr als 250 Betroffenen habe das Verfahren funktioniert. Es werden jedoch keine konkreten Zahlen zum Nutzen genannt – etwa, wie viele Patient*innen insgesamt behandelt wurden und worin eine erfolgreiche Behandlung genau bestand. Daher werten wir „NICHT ERFÜLLT“.

2. Die RISIKEN & NEBENWIRKUNGEN werden angemessen berücksichtigt.

Es werden keine Risiken oder Nebenwirkungen erwähnt, obwohl diese in der niederländischen Studie aufgeführt werden. So kam es vor allem durch die Fixation bzw. die Entfernung der Fixierungsgestelle zu oberflächlichen Entzündungen. Zwar waren diese mit Antibiotika gut zu behandeln und nach einem Jahr nicht mehr vorhanden, dennoch wäre es für die Lesenden wichtig gewesen, davon zu erfahren. Zumal auch Thrombosen und Knochenentzündungen vorkamen, wenn auch nur in seltenen Fällen.

3. Es wird klar, ob eine Therapie/ein Produkt/ein Test VERFÜGBAR ist.

Im Artikel heißt es zwar, der Freiburger Orthopäde Kaywan Izadpanah habe im Januar seine ersten Patienten mit dem Distraktionsverfahren behandelt. Zudem werde die Methode in Deutschland mittlerweile an sechs Kliniken angewendet. Es bleibt aber offen, in welchem Rahmen die Eingriffe an diesen Kliniken stattfinden, ob dies beispielsweise im Zusammenhang mit Studien geschieht.  Laut der Übersichtsarbeit in Nature Reviews Rheumatology von 2022 wurde die Distraktion bis dahin lediglich im Zusammenhang klinischer Studien erprobt. Daher werten wir knapp „NICHT ERFÜLLT“.

4. Es werden ALTERNATIVE Behandlungsarten/Produkte/Tests vorgestellt.

In einem begleitenden Textkasten des Artikels werden mehrere alternative Behandlungsmethoden erwähnt: Hyaluronspritzen und Nahrungsergänzungsmittel seien nutzlos oder sogar riskant, eine Stammzelltherapie werde von Fachgesellschaften in Deutschland und den USA nicht empfohlen. Die medikamentöse Behandlung mit dem Präparat Sprifermin führe zwar zu Knorpelwachstum, verringere aber nicht die Schmerzen.

5. Die KOSTEN werden im journalistischen Beitrag in angemessener Weise berücksichtigt.

Auf die Kosten des Verfahrens geht der Text nicht ein. Es wird auch nicht klar, ob die Krankenkassen die Kosten übernehmen. Daher werten wir „NICHT ERFÜLLT“.

6. Es sind keine Anzeichen von Krankheitserfindungen/-übertreibungen zu finden (DISEASE MONGERING).

Die Anzahl der von Arthrose betroffenen Männer und Frauen wird zu hoch angegeben, dies werten wir aber als Faktenfehler (siehe Kriterium 11). Sonst wird das Krankheitsbild der schweren Arthrose nicht übertrieben dargestellt.

7. Der journalistische Beitrag ordnet die QUALITÄT der Belege/der Evidenz ein.

Die Evidenz zum Distraktionsverfahren wird ungenügend eingeordnet. Die Lesenden erfahren nicht, was die Übersichtsarbeit in Nature Reviews Rheumatology genau ergeben hat. Dort werden neun Studien aufgeführt, retrospektive oder prospektive Kohortenstudien oder kleine randomisierte Studien mit Kontrollgruppe. Die Qualität der Untersuchungen sei somit gering, heißt es in der Fachpublikation, vor allem die Studien ohne Kontrollgruppen könnten Verzerrungen beinhalten. Im journalistischen Beitrag heißt es dennoch: „Ein neues Verfahren lässt Knorpelgewebe wieder nachwachsen, haben Mediziner in den Niederlanden bewiesen.“ Dabei wird in der Fachpublikation beschrieben, dass nicht alle Patienten davon einen Nutzen haben, Männer profitierten eher als Frauen, zudem auch Patienten mit schwerer Arthrose. Diese Einschränkungen bleiben im Artikel unerwähnt. Daher werten wir insgesamt „NICHT ERFÜLLT“.

8. Es werden UNABHÄNGIGE EXPERTEN oder QUELLEN genannt.

Es werden zwei Wissenschaftler mehrfach zitiert, die im Bereich der Knie-Arthrose forschen und diese auch selbst chirurgisch behandeln. Leider fehlen Quellen dazu, woher die allgemeinen Zahlen zum Thema stammen, daher werten wir nur knapp „ERFÜLLT“.

9. Es werden, falls vorhanden, INTERESSENKONFLIKTE im Beitrag thematisiert.

Die Autoren der Publikation in Nature Reviews Rheumatology erklären, keine Interessenkonflikte zu haben. Interessant wäre zu wissen, ob beispielsweise der ausführlich zitierte Orthopäde Kaywan Izadpanah Verbindungen zur Firma OrthoSave hat, die das Distraktionsgesell KneeReviver herstellt. Auf Linked-In bedankt sich ein Marketingmanager der Firma u.a. bei Izadpanah: „Thanks Prof. Dr. Hagen Schmal and Prof. Dr. Kaywan Izadpanah for your commitment to embracing innovation in arthritis-care.

To all those are also interested to learn more, please drop me a DM, or visit our website www.arthrosave.com“ (siehe auch https://www.linkedin.com/posts/arthrosave-kneereviver_frankfurter-allgemeine-sonntagszeitung-activity-7317519603700551681-zfks/?originalSubdomain=de ). Diesem möglichen Interessenkonflikt hätte man noch genauer nachgehen können. Immerhin wird im Artikel deutlich, dass Izadpanah die Distraktionsbehandlung selbst anwendet. Daher werten wir insgesamt noch knapp „ERFÜLLT“.

10. Der Beitrag liefert Informationen zur EINORDNUNG der Thematik in einen Kontext (Neuheit, Ethik).

Im Artikel wird erklärt, dass ein Dogma der Orthopädie offenbar falsch ist: Dass zerstörtes Knorpelgewebe nicht nachwachsen kann. Dabei geht der Text ausführlich auf die möglichen Wirkungsweisen der Distraktion eingegangen. Auch wird erläutert, dass der Gelenkschmerz einen Teufelskreis aus weniger Bewegung, Übergewicht, Herzkrankheiten, Depression zur Folge haben kann. Widersprüchlich ist allerdings, dass es in der Übersichtsarbeit in Nature Reviews Rheumatology heißt, das Distraktionsverfahren sei seit dreißig Jahren erprobt worden, zunächst für Hüfte, Sprunggelenk und Fußgelenke, dann auch für Kniegelenke. Im journalistischen Artikel dagegen ist von einem neuen Verfahren die Rede. Insgesamt werten wir jedoch „ERFÜLLT“.

11. Der Beitrag gibt die wesentlichen Daten und Fakten korrekt wieder (FAKTENTREUE).

Es finden sich vereinzelt Faktenfehler im Text, so heißt es: „Jede zweite Frau und jeder dritte Mann über 65 Jahren leiden an Arthrose.“ Das Robert-Koch-Institut gibt dagegen an: „Der Anteil der von Arthrose betroffenen Erwachsenen lag …  bei den 65- bis 79-Jährigen bei 32,2 Prozent (Frauen 39,7 Prozent; Männer 23,2 Prozent)“. Erst bei den über 80jährigen sind gut 47 Prozent der Frauen und knapp 32 Prozent der Männer betroffen (siehe auch hier beim RKI).

Im Artikel heißt es zudem, im Zusammenhang mit der Kniegelenkersatz: „Kniepatienten, die jahrelang unter Schmerzen litten, können nach der Transplantation endlich wieder ein einigermaßen normales Leben führen.“ Und: „Bei der Transplantation wird Knochen abgeschabt, um die Prothese zu befestigen.“ Transplantation ist der falsche Begriff, er meint die Übertragung von lebenden Zellen oder Organen/Organteilen, nicht von Prothesen aus Metall.

Zudem werden im Artikel nur die einfachen Kohlenhydrate als entzündungsfördernd erwähnt. An dieser Stelle hätte erläutert werden können, dass dies auch für bestimmte Fette zutrifft, die Arachidonsäure etwa und gesättigte Fette, wie sie vor allem in tierischen Fetten vorkommen. Dies ist jedoch eine Auslassung und nicht als Faktenfehler zu werten. Insgesamt werten wir knapp „NICHT ERFÜLLT“.

 

12. Der Beitrag geht über eine Pressemitteilung/das Pressematerial hinaus (JOURNALISTISCHE EIGENLEISTUNG).

Wir haben keine Pressemitteilung dazu gefunden, daher gehen wir von einer eigenständigen journalistischen Recherche aus.

 

13. Ein Beitrag vermittelt ein Thema interessant und attraktiv (ATTRAKTIVITÄT DER DARSTELLUNG).

Der Artikel ist lang, doch er stützt sich im Wesentlichen auf nur zwei Experten. Für den journalistischen Beitrag wurden keine Patient*innen interviewt, was den Text anschaulicher und lebendiger gestaltet hätte. Ausführlich werden dagegen mögliche Erklärungen für die Knorpelneubildung geschildert. Da es sich bislang um Hypothesen handelt, hätte dieser Teil kürzer ausfallen dürfen. Große Teile des Textes werden mit grundlegenden Aussagen über den Knorpel bestritten.

14. Der Beitrag ist für ein Laienpublikum verständlich (VERSTÄNDLICHKEIT).

Der Artikel ist weitgehend verständlich geschrieben, es gibt lediglich ein paar Fachwörter, die besser hätten erklärt werden können. Nicht jeder weiß, was „komplexe Kohlenhydrate“ sind oder was es mit der „Wachstumsfuge“ auf sich hat. Eine Formulierung erscheint widersprüchlich: „Auf wundersame Weise erholt sich dabei der Knorpel, das weiße Gold des Körpers kommt langsam zurück. So zeigen es jedenfalls die Studienergebnisse seiner holländischen Kollegin Jansen, die die Knorpelschicht ihrer Patienten nach dem Eingriff über zehn Jahre lang mit bildgebenden Verfahren überprüfte. Das Erstaunliche dabei: Die Knorpelschicht bildete sich sogar zurück, nachdem der Fixateur aus dem Gelenk entfernt worden war und die Patienten das Knie wieder belastet hatten“. Hier ist das Verb „zurückbilden“ unglücklich gewählt, da es auch als Verschwinden des Knorpels missverstanden werden kann – und nicht als Neubildung, wie es hier offensichtlich gemeint ist. Daher werten wir nur knapp „ERFÜLLT“.

15. Das THEMA ist aktuell, relevant oder ungewöhnlich. (THEMENAUSWAHL).

Das Thema ist relevant, schließlich gibt es für die zahlreichen Betroffenen bislang nur unbefriedigende Therapien. Ganz aktuell ist das Thema allerdings nicht, die zitierte Studie ist bereits vor drei Jahren erschienen. Anlass der Berichterstattung waren wohl die Freiburger Knorpeltage, eine Industrie-gesponserte Tagung, sowie die Tatsache, dass der Orthopäde Kaywan Izadpanah seine ersten Patienten operiert hat. Wir werten aufgrund der Relevanz des Themas aber noch knapp „ERFÜLLT“.

Medizinjournalistische Kriterien: 8 von 15 erfüllt

Abwertung um einen Stern (von 3 auf 2), Begründung: Die zentralen Kriterien Nutzen und Risiken sind NICHT ERFÜLLT gewertet und vier weitere Kriterien nur KNAPP ERFÜLLT.  

Title

Kriterium erfüllt

Kriterium nicht erfüllt

Kriterium nicht anwendbar