Ein Artikel des Tagesspiegels (online) informiert darüber, dass die Europäische Arzneimittelbehörde EMA die Zulassung des Alzheimer-Medikaments Leqembi (Wirkstoff: Lecanemab) empfiehlt, allerdings mit Einschränkungen. Über die Gründe dafür berichtet der Beitrag teils erhellend, teils verwirrend. Weitergehende Fragen, zum Beispiel nach der unterschiedlichen Wirksamkeit des Medikamentes bei Männern und bei Frauen werden nicht gestellt, auch nicht nach den Perspektiven, wenn das Medikament länger als in der kontrollierten Studie verabreicht oder dann wieder abgesetzt wird.
Zusammenfassung
Der journalistische Beitrag des Tagesspiegels (online) berichtet über die Zulassung des Antikörpers Leqembi (Wirkstoff: Lecanemab) in Europa für bestimmte Patientengruppen. Die Zulassung war zuvor aufgrund der möglichen schweren Nebenwirkungen der Therapie abgelehnt worden. Der Artikel beleuchtet die Besonderheit von Leqembi als erstem zugelassenen Medikament, das ursächlich in das Alzheimer-Krankheitsgeschehen eingreift. Die relevanten Risiken und Nebenwirkungen (Blutungen und Hirnschwellungen) werden benannt und für verschiedene Patientengruppen beziffert. Die zur Einschätzung befragten Experten sprechen zwar von einem „wissenschaftlichen Durchbruch“, gleichzeitig ordnet der Text aber richtig ein, dass Leqembi nur für eine kleine Gruppe von Patienten infrage kommt (mit milden Symptomen und mit der genetischen Ausstattung einer oder keiner Kopie des ApoE4-Gens). Die Sprache des Artikels ist sachlich und klar, allerdings wären allgemeine Hinweise zur Alzheimer-Erkrankung, deren Häufigkeit, Symptome für die Leserinnen und Leser hilfreich gewesen. Insgesamt aber ein gelungener Text zu einem relevanten und hochaktuellen Medizinthema.
Die Kriterien
1. Die POSITIVEN EFFEKTE sind ausreichend und verständlich dargestellt (NUTZEN).
Im journalistischen Beitrag wird deutlich, dass der Antikörper Leqembi das erste zugelassene Mittel gegen Alzheimer ist, das in das Krankheitsgeschehen eingreift. Zudem wird an zwei Stellen im Text betont, dass Leqembi die Krankheit nicht aufhalten kann, sondern sie lediglich verlangsamt. Auch geht der Artikel auf die Tatsache ein, dass die Arznei lediglich für Menschen mit einer gewissen genetischen Disposition zugelassen wurde: für Patienten, die keine oder nur eine Kopie des Apo-E4-Gens haben. Weiter wird im Text erklärt, dass der Antikörper nur für Patienten mit leichten kognitiven Einschränkungen zugelassen wird, bei denen die Krankheit also nicht weit fortgeschritten ist. „Zu viel dürfen sich Alzheimer-Patienten und ihre Angehörigen von Lecanemab allerdings nicht versprechen“, heißt es im Text.
Auch werden absolute Zahlen zu dem Nutzen von Leqembi im Vergleich zu einem Scheinmedikament genannt: Nach 18 Monaten Behandlung hatten alle Patienten auf einer Demenzskala, die von 0 bis 18 reicht, schlechtere Werte als zu Beginn der Studie; die Placebo-Gruppe hatte sich um 1,75 Punkte verschlechtert, die Lecanemab-Gruppe um 1,22 Punkte. Hier wird also gut verdeutlicht, wie klein der Nutzen des Antikörpers tatsächlich ausfiel.
2. Die RISIKEN & NEBENWIRKUNGEN werden angemessen berücksichtigt.
Der Artikel geht vorbildlich auf Risiken und Nebenwirkungen ein. Er benennt „Schwellungen und Blutungen im Gehirn“ als Risiken und differenziert, dass die Gefahr – je nach Patientengruppe – variiert. Es wird zudem erklärt, dass die Hersteller des Medikaments ihre Daten neu analysiert und dabei die genetische Disposition der Alzheimer-Patienten bei der Risikoanalyse berücksichtigt haben: „Demnach zeigen Patienten mit nur einer oder keiner ApoE4-Kopie nur in 8,9 Prozent der Fälle die gefährliche Nebenwirkung nach Lecanemab-Behandlung, während es sonst 12,6 Prozent sind. Ohne die Therapie tritt sie bei Alzheimer-Patienten nur in 1,3 bis 6,8 Prozent der Fälle auf“ steht im Beitrag. Hier hätte man sich allerdings eine genauere Einordnung der Zahlen gewünscht, da sie in allen Gruppen recht hoch erscheinen. Im Beitrag wird jedoch deutlich, dass die Sicherheitsbewertung noch nicht abgeschlossen ist, da der Hersteller dazu verpflichtet worden sei, eine Sicherheitsstudie durchzuführen. Und schließlich weist der Artikel darauf hin, dass Patienten mehrmals Kernspin-Untersuchungen des Kopfes machen lassen müssen, um das Risiko von Hirnblutungen zu reduzieren. Insgesamt werten wir daher „ERFÜLLT“.
3. Es wird klar, ob eine Therapie/ein Produkt/ein Test VERFÜGBAR ist.
Es wird deutlich, dass sich der Antikörper Leqembi derzeit im Zulassungsprozess befindet und daher in Deutschland noch nicht verfügbar ist, es aber bald sein könnte. Der Leser erfährt, dass die europäische Arzneimittelbehörde EMA die Zulassung empfiehlt und sich die EU-Kommission nun innerhalb von 67 Tagen entscheiden muss, ob sie der EMA-Empfehlung folgt. Wie lange es dann normalerweise dauert, bis ein Medikament tatsächlich zur Verfügung steht, wird allerdings nicht erläutert. In Deutschland ist das üblicherweise sofort der Fall, in anderen europäischen Ländern kann das dauern, da erst Verhandlungen bezüglich der Kostenerstattung folgen. Daher werten wir nur knapp „ERFÜLLT“.
4. Es werden ALTERNATIVE Behandlungsarten/Produkte/Tests vorgestellt.
Gegen Alzheimer gibt es bislang keine Arznei, die die Erkrankung kausal bekämpft, so viel wird im Text erklärt. Bislang beschränken sich alle Maßnahmen und Therapien noch darauf, den Symptomen vorzubeugen und diese zu lindern, körperliche Bewegung etwa und geistige Tätigkeiten, gesunde Ernährung, Antidepressiva, Neuroleptika. Das wird im Artikel leider nicht erwähnt, ebenso wenig wie andere Forschungsansätze. Daher werten wir knapp „NICHT ERFÜLLT“.
5. Die KOSTEN werden im journalistischen Beitrag in angemessener Weise berücksichtigt.
Dass die Behandlung mit Leqembi sehr teuer und aufwändig ist, wird beschrieben: „Sicher ist schon jetzt, dass eine Verschreibung von Lecanemab künftig mit einem Gentest wird einhergehen müssen, was die ohnehin hohen Kosten für den Antikörper, rund 25.000 Euro pro Patient, zusätzlich nach oben treibt – eine Herausforderung für die Gesundheitssysteme angesichts der hohen und weiter steigenden Zahl von Alzheimer-Patienten. Zumal die EMA auch ein MRT vor der Behandlung, sowie vor der fünften, siebten und 14ten Dosis des Medikaments vorschreibt, um das Risiko von Hirnblutungen im Zuge der Behandlung weiter zu minimieren.“ Allerdings hatte noch erläutert werden können, auf welchen Zeitraum sich die Angabe von 25.000 Euro bezieht.
6. Es sind keine Anzeichen von Krankheitserfindungen/-übertreibungen zu finden (DISEASE MONGERING).
In dem Beitrag werden Symptome und Probleme von Alzheimerpatienten nicht übertrieben dargestellt. Auch die Hoffnung auf eine kausal wirksame Therapie ist nachvollziehbar und realistisch beschrieben. Ebenso wie die Einschätzung der Experten, dass es sich „aus wissenschaftlicher Sicht“ um einen „Durchbruch“ bzw. einen wichtigen Schritt handele, Alzheimererkrankungen besser in den Griff zu bekommen.
7. Der journalistische Beitrag ordnet die QUALITÄT der Belege/der Evidenz ein.
Der Artikel geht im Detail auf Zahlen aus den Zulassungsstudien ein, wobei auch erklärt wird, dass das Risiko für die Patienten ohne oder mit nur einem ApoE4-Gen gesondert betrachtet wurde. Dass der Wirkstoff in einer klinischen Studie gegen ein Placebo getestet wurde, findet sich ebenfalls im Text. Aus diesen Angaben können Leserinnen und Leser erahnen, dass es sich um qualitativ hochwertige Studien handelt, genauer erläutert wird die Qualität allerdings nicht. Daher werten wir nur knapp „ERFÜLLT“.
8. Es werden UNABHÄNGIGE EXPERTEN oder QUELLEN genannt.
Es kommen zwei Neurologen zu Wort, die nicht an der Studie beteiligt waren. Allerdings bleibt unklar, auf Grund welcher Expertise Patrick Weydt von der Universität Bonn ausgewählt wurde. Er ist Spezialist für Motoneuronen-Erkrankungen wie Morbus Huntington und Amyotrophe Lateralsklerose (ALS).
9. Es werden, falls vorhanden, INTERESSENKONFLIKTE im Beitrag thematisiert.
Die beiden gewählten Experten geben in zahlreichen Fachpublikationen an, keine Interessenkonflikte zu haben. In einer Studie gibt Patrick Weydt jedoch an, dass er unter anderem als Berater für Biogen gearbeitet habe – einen der Hersteller des Alzheimer Antikörpers Lecanemab („P.W. has served on advisory boards of Biogen, ITF Pharma, and Novartis outside of the submitted work“; aus einer Studie zum Thema Amytrophe Lateralsklerose). Daher werten wir, wenn auch knapp „NICHT ERFÜLLT“.
10. Der Beitrag liefert Informationen zur EINORDNUNG der Thematik in einen Kontext (Neuheit, Ethik).
Der Text ordnet ein, dass es sich bei dem im Zulassungsprozess befindlichen Antikörper Lecanemab um das erste Mittel handelt, das eine Alzheimererkrankung ursächlich behandelt. Experte Petzold nennt das einen wissenschaftlichen Durchbruch. Es wird also deutlich, dass es sich hier um eine neue Entwicklung handelt. Dass bereits andere Antikörper gegen das Beta-Amyloid getestet wurden und scheiterten, wird nicht erläutert. Ebenso wenig werden andere kausale Forschungsansätze erwähnt. Daher werten wir nur knapp „ERFÜLLT“.
11. Der Beitrag gibt die wesentlichen Daten und Fakten korrekt wieder (FAKTENTREUE).
Der Beitrag beschreibt richtig, dass Lecanemab bereits einmal die Zulassung verwehrt wurde, der Antikörper nun aber nach einer Neubeurteilung mit abweichendem Ergebnis, nämlich der Empfehlung einer Zulassung, beurteilt wurde. Es wird deutlich, dass den unterschiedlichen Empfehlungen auch unterschiedliche Daten zugrunde liegen, so dass nun eine Empfehlung nur für eine spezielle Gruppe von Alzheimerpatienten (mit leichten kognitiven Einschränkungen und vor allem mit nur einer oder keiner Variante des ApoE4-Gens) ausgesprochen wurde. Sowohl die Nebenwirkungen und Risiken als auch die zu erwartenden Erfolge benennt der Artikel richtig, er geht auch auf die zu erwartenden Kosten ein. Allerdings liegt im Text ein Fehler, vermutlich ein Übersetzungsfehler, vor: „In der Mitteilung heißt es, dass die EMA-Experten Daten bei der vom Unternehmen beantragten erneuten Prüfung zuvor ausgeschlossene Daten von Patienten berücksichtigten, die zwei Kopien des ApoE4-Gens trugen und daher das höchste Risiko für die Nebenwirkung aufwiesen.“ Tatsächlich war es genau umgekehrt: Daten von Patienten, die zwei Kopien des ApoE4-Gens, wurden bei der aktuellen Begutachtung ausgeschlossen, also nicht berücksichtigt. Das wird auch an anderer Stelle des Textes korrekt dargestellt. Daher werten wir, wenn auch sehr knapp, „ERFÜLLT“.
12. Der Beitrag geht über eine Pressemitteilung/das Pressematerial hinaus (JOURNALISTISCHE EIGENLEISTUNG).
Im Beitrag kommen zwei unabhängige, deutsche Experten zu Wort, die das Zulassungsverfahren und die EMA-Entscheidung kommentieren und die Bedeutung der Zulassung für Patienten einordnen. Auch die Kosten sind nicht im Pressematerial erwähnt.
13. Ein Beitrag vermittelt ein Thema interessant und attraktiv (ATTRAKTIVITÄT DER DARSTELLUNG).
Es handelt sich um einen nachrichtlichen Text, der sachlich über das Zulassungsverfahren des Antikörpers Leqembi zur Behandlung der Alzheimer-Erkrankung berichtet und die Ema-Empfehlung einordnet. Wie dramatisch die Lage für Alzheimerpatienten und ihre Angehörigen oft ist, wie sehnsüchtig viele Menschen auf eine kausale Therapie warten, wie stark die Erkrankung die Gesundheitssysteme der Welt belastet, kommt allerdings nicht zur Sprache. Das hätte an einem so wichtigen Punkt der Umsetzung von pharmakologischer Forschung hin zur Anwendung am Patienten einen Absatz verdient, daher werten wir nur knapp „ERFÜLLT“.
14. Der Beitrag ist für ein Laienpublikum verständlich (VERSTÄNDLICHKEIT).
Der Beitrag ist sachlich geschrieben und geht auf wichtige Punkte bei der Zulassung von Leqembi ein. Allerdings werden einige Fachbegriffe nicht genau erklärt, ApoE4 zum Beispiel und Amyloid-Beta, Demenzmessskala und genetische Konstitution. An mancher Stelle könnten die Formulierungen die Leserinnen und Leser auch verwirren, zum Beispiel hier: „1,22 Punkte gegenüber 1,75 Punkten Verlust auf der Demenzmessskala, die von 0 bis 18 reicht, wobei höhere Punktzahlen eine stärkere Beeinträchtigung anzeigen“. Hier ist vom Verlust der Punkte die Rede und gleichzeitig davon, dass eine höhere Punktzahl einen höheren Demenzgrad anzeige. Das passt so nicht zusammen. Tatsächlich nimmt die Anzahl der Punkte auf der Skala, die mit einem größeren Gedächtnisverlust einhergeht, zu. Daher werten wir insgesamt knapp „NICHT ERFÜLLT“.
15. Das THEMA ist aktuell, relevant oder ungewöhnlich. (THEMENAUSWAHL).
Das Thema ist aufgrund der neuen Empfehlung der EMA hochaktuell und aufgrund der Millionen von Betroffenen weltweit auch hochrelevant.