Über eine aktuelle Studie zu einer neuen Form der HIV-Prophylaxe berichtet ein journalistischer Beitrag der dpa. Es wird eine Publikation im Fachblatt New England Journal of Medicine zum Wirkstoff Lecanapavir erläutert, der sehr effektiv gegen eine HIV-Infektion schützte. Auch wird gut verständlich erklärt, dass die bisher erhältlichen Tabletten zur Vorbeugung täglich eingenommen werden müssen, eine Injektion des neuen Wirkstoffs dagegen nur zweimal im Jahr nötig ist. Auch das Risiko der Resistenzbildung wird angesprochen. An mancher Stelle wären ausführlichere Erläuterungen der Studie und ihrer Ergebnisse allerdings hilfreich gewesen.
Zusammenfassung
Ein Artikel der dpa berichtet über eine „Impfung“ mit dem Wirkstoff Lenacapavir, der einer HIV-Infektion vorbeugen soll. Im Unterschied zu bereits zugelassenen Tabletten, die zum Schutz gegen den Erreger täglich eingenommen werden müssen, wird der hier vorgestellte Wirkstoff nur zweimal im Jahr injiziert. Der journalistische Text gibt diese Faktenlage korrekt wieder und bezieht dafür Expert*innen ein, die nicht an der Studie beteiligt waren. Der Text ist sachlich und weitgehend verständlich geschrieben. Allerdings wäre es für die Leserinnen und Leser hilfreich gewesen, die Qualität der Studie und den beobachteten Nutzen noch genauer zu erläutern. Die hohen Kosten des vorgestellten Wirkstoffs werden als Problem für arme Länder thematisiert. Dass die vorgestellte Studie vom Wirkstoffhersteller Gilead finanziert wurde, bleibt allerdings unerwähnt, auch ist es irreführend, dass von einer Impfung die Rede ist. Baut dieser Wirkstoff doch keine Immunität gegen HIV im Körper auf, sondern muss dauerhaft verabreicht werden.
Die Kriterien
1. Die POSITIVEN EFFEKTE sind ausreichend und verständlich dargestellt (NUTZEN).
Der journalistische Beitrag macht deutlich, dass der Wirkstoff Lenacapavir das Risiko einer HIV-Infektion deutlich senken konnte. Der Text nennt auch die Anzahl der Probanden, die sich in der vorgestellten Studie trotz der verabreichten Spritzen infizierten: zwei von rund 2200 Teilnehmenden. Zum Vergleich wird auch die Zahl der Infizierten unter jenen Probanden der Studie genannt, die zur Vorbeugung einer HIV-Infektion die bereits zugelassenen Truveda-Tabletten erhielten, hier waren es neun von 1100 Probanden. Lenacapavir reduziere das Infektionsrisiko um 96 Prozent, heißt es. Wie viele Infektionen ohne die Prophylaxe zu erwarten gewesen wären, wird damit für Laien nicht ausreichend deutlich. Hier wäre die Angabe einer absoluten Zahl hilfreich gewesen.
Jenseits des rein medizinischen Nutzens wird auch ein sozialer genannt: Dass eine halbjährliche Spritze sich viel besser verheimlichen lässt als die tägliche Einnahme von Tabletten und so die Gefahr einer Stigmatisierung dieser Menschen reduziert. Insgesamt werten wir „ERFÜLLT“.
2. Die RISIKEN & NEBENWIRKUNGEN werden angemessen berücksichtigt.
Auf Risiken und Nebenwirkungen geht der Beitrag nur sehr knapp ein: „Vertragen wurde das Mittel im Allgemeinen gut“, heißt es. Zwar wurden in der Studie keine gravierenden Nebenwirkungen beobachtet, die sich auf Lenacapavir zurückführen ließen. Dennoch wäre es für die Leserinnen und Leser hilfreich gewesen zu wissen, welche negativen Effekte vorkommen, Reaktionen an der Einstichstelle zum Beispiel und einige veränderte Laborwerte. Auch die Häufigkeit dieser Nebenwirkungen wäre interessant gewesen. Ausführlicher geht der Beitrag auf die Problematik möglicher Resistenzen ein, was ein wichtiger Aspekt für den langfristigen Einsatz der Impfung darstellt. Insgesamt werten wir nur knapp „ERFÜLLT“.
3. Es wird klar, ob eine Therapie/ein Produkt/ein Test VERFÜGBAR ist.
Es wird klar, dass der Wirkstoff für die Prävention von HIV-Infektionen bislang nur in Studien eingesetzt wird. Zugelassen sei es in der EU nur für die Behandlung HIV-Infizierter: „Lenacapavir ist in der EU bereits zur virushemmenden Behandlung bestimmter Patienten zugelassen, die schon infiziert sind. In Deutschland wurde das Medikament dafür bisher von Gilead nicht auf den Markt gebracht.“
Auch geht der Artikel darauf ein, dass der Hersteller Gilead laut eigenen Angaben die Zulassung für Lenacapavir als Prophylaxe beantragen will – und auch, dass „an einer Versorgung auch in ärmeren Ländern gearbeitet wird“. Wie wichtig es wäre, das Mittel in armen Ländern verfügbar zu machen, wird ebenfalls erklärt, die hohen Kosten der Impfung angesprochen.
Zur Situation in Deutschland heißt es im Text laut einer Expertin, dass die Verfügbarkeit hierzulande unklar sei und dass Lenacapavir als Therapie in Deutschland bisher nicht auf den Markt gebracht wurde. Warum das so ist bzw. wie das mit den hohen Preisvorstellungen des Herstellers zusammenhängt, wird nicht erklärt (mehr dazu bei Kriterium 5: Kosten). Daher werten wir insgesamt nur knapp „ERFÜLLT“.
4. Es werden ALTERNATIVE Behandlungsarten/Produkte/Tests vorgestellt.
Es wird klar, dass es bereits ein wirksames Mittel zur Prävention von HIV-Infektionen gibt, das täglich in Tablettenform eingenommen werden muss. Der Vorteil von Lenacapavir bestehe vor allem darin, dass es halbjährlich als Spritze verabreicht wird, nicht so sehr in besserer Wirksamkeit des Medikaments.
5. Die KOSTEN werden im journalistischen Beitrag in angemessener Weise berücksichtigt.
Da die HIV-Prophylaxe gerade auch in ärmeren Ländern nötig wäre, ist der Preis ein sehr wichtiger Aspekt. Im Artikel heißt es dazu: „Zur Behandlung bei bestehender Infektion eingesetzt koste Lenacapavir in den USA rund 42.000 Dollar pro Jahr – in dieser Größenordnung wäre es für Menschen in ärmeren Ländern unbezahlbar. Es sei zentral, dass der Zugang für solche Staaten ermöglicht werde, in denen das Mittel wirklich dringend gebraucht werde, betonte Berner-Rodoreda.“ Interessant wäre hier noch gewesen, zum Vergleich die Kosten für Truvada-Tabletten zu nennen (lt. eines Experten eines Briefings des Science Media Centers sind es etwa 600 Euro im Jahr).
Allerdings kommt ein anderer Aspekt im Text etwas zu kurz: Der Text beschreibt zwar, dass Lenacapavir – als Therapeutikum, nicht als Impfung – in Europa zugelassen ist. Auch wird eine Expertin mit der Aussage zitiert, dass Gilead das Medikament bisher in Deutschland nicht auf den Markt gebracht habe. Die Gründe dafür werden allerdings nicht genannt. Das herstellende Pharmaunternehmen Gilead argumentiert nämlich in einer Pressemitteilung, dass es den in Deutschland geforderten Zusatznutzen im Vergleich zu einem existierenden HIV-Mittel nicht belegen könne (https://www.gilead-dialog.de/statement-nicht-einfuhrung-lenacapavir-deutschland/). Ohne Nachweis eines Zusatznutzens wird der Preis jedoch bei 90 Prozent des besten Vergleichsmittels gedeckelt. Gilead schreibt dazu: „Um nicht nur die Verfügbarkeit, sondern auch die Entwicklung von Arzneimitteln perspektivisch sicherzustellen, ist es zwingend notwendig, dass Innovationen ausreichend honoriert werden, was unter den derzeit gültigen Rahmenbedingungen in Deutschland vielfach nicht mehr der Fall ist, so auch im Bereich HIV.“
Auch wäre für die Leserinnen und Leser interessant gewesen, dass derzeit Lizenzverhandlungen mit sechs Generikaherstellern in Afrika und Asien laufen, die günstigere Generika von Lenacapavir herstellen würden, wie es in weiterem Pressematerial vom Hersteller Gilead heißt.
Da die genannten Aspekte die Vielschichtigkeit des Themas noch mehr beleuchtet hätten, werten wir insgesamt nur knapp „ERFÜLLT“.
6. Es sind keine Anzeichen von Krankheitserfindungen/-übertreibungen zu finden (DISEASE MONGERING).
Der journalistische Beitrag informiert zum einen darüber, dass HIV-Infizierte mittlerweile bei rechtzeitigem Therapiebeginn eine normale Lebenserwartung haben. Zum anderen verweist er auf die in vielen Ländern immer noch steigende Zahl von Infektionen. 630.000 Menschen seien laut UNAIDS 2023 im Zusammenhang mit einer HIV-Infektion gestorben. Damit wird die Situation angemessen und ohne Übertreibung dargestellt.
7. Der journalistische Beitrag ordnet die QUALITÄT der Belege/der Evidenz ein.
Der Beitrag nennt einige wichtige Fakten zu der vorgestellten Studie, etwa die Zahl der Teilnehmenden und den vorzeitigen Abbruch angesichts der positiven Ergebnisse. Doch fehlen einige zentrale Angaben. So wäre es interessant gewesen zu erfahren, dass es keine Placebo-Kontrollgruppe gab – und welche nachvollziehbaren, ethischen Gründe dabei eine Rolle spielten. Auch die Dauer der Studie wird nicht erwähnt, die Zusammensetzung der Probanden nur pauschal mit „Menschen, die häufiger Sex hatten“ umschrieben. Dabei bestanden die Teilnehmenden in dieser „Purpose 2“-Studie überwiegend aus homo- und bisexuellen Männern sowie Transgender-Personen. An der vorausgehenden Studie „Purpose 1“ dagegen waren ausschließlich Frauen beteiligt gewesen. Das wird im Beitrag mit der Beschreibung „Menschen, die häufiger Sex hatten“ nicht angemessen dargestellt. Das ist insofern bedeutsam, dass sie zeigte, dass die prophylaktische Wirkung der Impfung in den unterschiedlich zusammengesetzten Probandengruppen ähnlich war. Daher werten wir insgesamt knapp „NICHT ERFÜLLT“.
8. Es werden UNABHÄNGIGE EXPERTEN oder QUELLEN genannt.
Der Beitrag bezieht zwei Expert*innen ein, die nicht an der Studie beteiligt waren: Astrid Berner-Rodoreda von der Uniklinik Heidelberg und Max von Kleist von der FU Berlin. Außerdem werden Hintergrund-Informationen aus einem aktuellen UN-Bericht zitiert.
9. Es werden, falls vorhanden, INTERESSENKONFLIKTE im Beitrag thematisiert.
Leider erfahren Leserinnen und Leser nicht, dass die vorgestellte Studie vom Hersteller Gilead finanziert wurde und dass Gilead-Mitarbeiter*innen daran mitgearbeitet haben.
10. Der Beitrag liefert Informationen zur EINORDNUNG der Thematik in einen Kontext (Neuheit, Ethik).
Der Text ordnet die Bedeutung des prophylaktischen Mittels überwiegend gut ein. Er erklärt die Neuheit (Langzeitwirksamkeit, bequemere Anwendung, hilft, Stigma zu vermeiden). Er spricht auch die ethischen Probleme an, falls der Preis ähnlich hoch liegen würde, wie bei dem bereits etablierten therapeutischen Einsatz des Mittels: dass ärmere Länder ihn nicht bezahlen könnten.
11. Der Beitrag gibt die wesentlichen Daten und Fakten korrekt wieder (FAKTENTREUE).
Daten und Fakten sind überwiegend korrekt. Allerdings ist Lenacapavir keine „Impfung“, der Wirkstoff lehrt das Immunsystem nicht, HI-Viren aktiv zu erkennen und künftig auch ohne Medikament abzuwehren. In einem Briefing des Science Media Center wird zwar diskutiert, ob eine solche Prävention womöglich die Entwicklung eines Impfstoffs ersetzen könnte. Es wird aber keine Immunisierung erreicht; der Wirkstoff müsste dauerhaft verabreicht werden.
Zudem lässt die Beschreibung der 3.300 Probanden in der Wirkstoff-Gruppe im Text stutzen, sie werden mit Menschen, „die häufiger Sex“ haben beschrieben, was sich so weder in der Fachpublikation noch im Pressebriefing des Science Media Centers findet. Womöglich sind Risikogruppen gemeint, die etwa häufig ungeschützten Sex haben, aber das lässt sich so nicht pauschal über alle Teilnehmenden sagen. Daher werten wir insgesamt knapp „NICHT ERFÜLLT“.
12. Der Beitrag geht über eine Pressemitteilung/das Pressematerial hinaus (JOURNALISTISCHE EIGENLEISTUNG).
Der journalistische Beitrag übernimmt einige Informationen aus der Pressemitteilung, geht jedoch mit den ausführlichen Expertenzitaten und Zusatzinformationen deutlich darüber hinaus.
13. Ein Beitrag vermittelt ein Thema interessant und attraktiv (ATTRAKTIVITÄT DER DARSTELLUNG).
Der Artikel ist flüssig lesbar, auch wenn er eher sachlich gehalten ist. Etwas sperrig wirken die Einschätzungen der Experten, sie sind oft in langen Passagen indirekter Rede zu finden. Hier hätten mehr direkte Zitate dem Text mehr Lebendigkeit verliehen. Vom Aufbau des Textes ist es etwas unglücklich, dass wesentliche Informationen erst gegen Ende des Beitrags genannt werden, die konkreten Resultate der Studie etwa und auch der Hinweis, dass es bereits eine vorausgehende Studie mit ähnlichen Ergebnissen gab. Insgesamt werten wir jedoch „ERFÜLLT“.
14. Der Beitrag ist für ein Laienpublikum verständlich (VERSTÄNDLICHKEIT).
Einige Fachbegriffe im Text hätten der Erläuterung bedurft (Präexpositionsprophylaxe, Selektionsdruck, Hintergrundinzidenz), aber überwiegend ist der Beitrag sprachlich gut verständlich. Etwas mehr Systematik im Aufbau des Textes wäre allerdings hilfreich für das Verständnis gewesen. So werden zusammengehörende Informationen etwa bei der Verfügbarkeit getrennt angesprochen und nicht miteinander verknüpft. Zudem gibt es einige Punkte, wo angesprochene Zusammenhänge nicht klar werden: So heißt es zum Beispiel, dass es unklar ist, ob Lenacapavir in Deutschland als Therapeutikum erhältlich ist, obwohl es dafür zugelassen ist. Das hätte noch genauer erläutert werden müssen. Daher werten wir insgesamt nur knapp „ERFÜLLT“.
15. Das THEMA ist aktuell, relevant oder ungewöhnlich. (THEMENAUSWAHL).
Ein neues Mittel zum Schutz vor HIV-Infektionen wäre eine wichtige Entwicklung, die halbjährliche Injektion möglicherweise ein bedeutsamer Schritt, um die Ausbreitung des Virus weiter einzudämmen. Es handelt sich um eine aktuelle Publikation in einem renommierten Fachjournal – insgesamt ein relevanter Anlass für die journalistische Berichterstattung.