Der Artikel des SWR (online) berichtet über eine neue Behandlungsmethode gegen die fortgeschrittene Parkinson-Erkrankung an einem ersten, einzelnen Fall. Der Text stellt den Nutzen und die Risiken jedoch nicht ausreichend dar. Alternative Behandlungsarten kommen nicht zur Sprache, die Evidenz wird nicht eingeordnet, und es kommen keine unabhängigen Expert*innen zu Wort. Auch Interessenkonflikte werden nicht thematisiert. Doch ist der Beitrag sehr attraktiv geschrieben, er erklärt das Krankheitsbild der Parkinson-Erkrankung verständlich und erzählt nachvollziehbar und emotional die Geschichte des ersten, bisher einzigen und erfolgreich mit der neuen Methode behandelten Patienten.
Zusammenfassung
Der journalistische Beitrag des SWR (online) nimmt eine Fachpublikation zu einem spektakulären Fall zum Anlass seiner Berichterstattung: Mit Hilfe einer Neuroprothese konnten die für Parkinson typischen Gangstörungen erheblich verbessert werden, nachdem dem Patienten keine andere Therapie mehr half. Leider werden im Artikel keine unabhängigen Quellen genannt, was insofern bedeutsam gewesen wäre, dass die Autorinnen und Autoren der Studie erhebliche Interessenkonflikte haben. Der Text ist durch die kurzen Sätze und wenigen Fachwörter gut verständlich, allerdings werden die Symptome der Parkinson-Erkrankung erläutert, bevor die Leserinnen und Leser überhaupt erfahren, was der Anlass des Artikels ist. Da es sich bei Parkinson um eine schwere Erkrankung mit steigenden Fallzahlen handelt, hat das Thema jedoch eine hohe Relevanz, auch wenn man sich mehr Informationen vor allem zu Nutzen und Risiken der neuen Behandlungsmethode gewünscht hätte.
Die Kriterien
1. Die POSITIVEN EFFEKTE sind ausreichend und verständlich dargestellt (NUTZEN).
Die Rückenmarkprothese soll die für Parkinson typischen Gangstörungen beheben. Die Besserungen werden im Text folgendermaßen beschrieben: „Außerdem macht er durch die Korrekturen größere Schritte, hebt die Füße höher, steht stabiler. (…) Sein Gangbild ist viel flüssiger, er fällt nicht mehr, bleibt nicht plötzlich stehen. Er kann sich wieder frei bewegen.“ Leider wird der Nutzen aber nicht quantifiziert. In der Studie hätte es einige Zahlen gegeben, und auch in der Pressemitteilungen wird zumindest erwähnt, dass der Patient heute einmal pro Woche sechs Kilometer spazieren geht. Daher werten wir knapp „NICHT ERFÜLLT“.
2. Die RISIKEN & NEBENWIRKUNGEN werden angemessen berücksichtigt.
Die Risiken und Nebenwirkungen des invasiven Verfahrens kommen nur sehr knapp zu Wort. Gegen Ende des Textes findet sich eine direkte Folge der elektrischen Stimulation: „Wie ein kleines Kitzeln in den Beinen fühlt es sich an (…), wenn die Prothesen angeschaltet sind.“ Und weiter: „Das und auch die Operation an der Wirbelsäule mit ihren Risiken nimmt er aber gerne in Kauf.“ Aber welche Risiken die Behandlungsmethode mit sich bringt, thematisiert der Artikel nicht. Daher werten wir insgesamt „NICHT ERFÜLLT“.
3. Es wird klar, ob eine Therapie/ein Produkt/ein Test VERFÜGBAR ist.
Zwar stellt der Bericht die Verfügbarkeit des neuen Therapieverfahrens nicht klar. Aber er benennt, dass es sich um eine neue, experimentelle Methode handelt: „Eine französisch-schweizerische Forschungsgruppe hat jetzt eine Technik entwickelt, die diese Gangstörungen beheben soll.“ Auch wird deutlich, dass bisher nur ein einziger Mensch mit dieser Methode behandelt wurde. Somit erschließt sich, dass es sich nicht um ein heute bereits verfügbares Verfahren handelt. Allerdings wäre es angemessen gewesen, eine Prognose über die weitere Entwicklung und eine mögliche zukünftige Verfügbarkeit zu formulieren.
4. Es werden ALTERNATIVE Behandlungsarten/Produkte/Tests vorgestellt.
Für die Behandlung der Parkinson-Erkrankung gibt es etablierte Therapieverfahren (Medikamente, tiefe Hirnstimulation), die den meisten Patient*innen helfen – wenn auch oft nur für begrenzte Zeit. Diese vorzustellen und damit die Bedeutung des neuen Therapieverfahrens als „ultima ratio“ verständlich zu machen, versäumt der Bericht. Er benennt die heute schon verfügbaren Behandlungsarten nicht, die bei dem in der Studie vorgestellten Patienten im Vorfeld auch angewendet wurden.
5. Die KOSTEN werden im journalistischen Beitrag in angemessener Weise berücksichtigt.
Es werden keine Kosten genannt. Allerdings handelt es sich um einen Bericht über eine experimentelle Methode, es ist erst ein einziger Mensch damit behandelt worden. Daher ist es für eine konkrete Kostenschätzung vermutlich noch zu früh. Doch hätte angesprochen werden können, inwiefern es für das Gesundheitssystem realistisch ist, eine Vielzahl von Parkinson-Patient*innen zu behandeln. Darum werten wir insgesamt nur knapp „ERFÜLLT“.
6. Es sind keine Anzeichen von Krankheitserfindungen/-übertreibungen zu finden (DISEASE MONGERING).
Die Parkinson-Erkrankung wird nicht übertrieben dargestellt.
7. Der journalistische Beitrag ordnet die QUALITÄT der Belege/der Evidenz ein.
Die Daten zu der Neuroprothese stammen lediglich von einer Person, dies wird im Artikel ausreichend beschrieben. Auch wird gesagt, dass weitere Studien mit mehr Personen folgen müssen, um die mögliche Wirksamkeit zu belegen.
8. Es werden UNABHÄNGIGE EXPERTEN oder QUELLEN genannt.
Unabhängige Experten kommen nicht zu Wort und es werden auch keine unabhängigen Quellen genannt. Der Artikel verzichtet ganz auf Zitate von Expert*innen, beschreibt neben allgemeinen Informationen zur Parkinson-Erkrankung ausschließlich den Einzelfall. Dabei wäre es für die Leserinnen und Leser enorm hilfreich gewesen, eine Einordnung der aktuellen Studie von Seiten unabhängiger Expert*innen zu erhalten.
9. Es werden, falls vorhanden, INTERESSENKONFLIKTE im Beitrag thematisiert.
Gerade bei hochtechnologischen Forschungsprojekten gibt es oft eine Beteiligung von kommerziellen Unternehmen. Die Erklärung von Interessenkonflikten in seriösen wissenschaftlichen Journalen soll diese transparent machen. In der dem Bericht zugrundeliegenden Publikation erklären die Hauptautor*innen, verschiedene Patente im Zusammenhang mit der vorgelegten Arbeit zu halten und an einer Firma mit potentiell kommerziellen Interessen beteiligt zu sein. Das erwähnt der Artikel jedoch nicht.
10. Der Beitrag liefert Informationen zur EINORDNUNG der Thematik in einen Kontext (Neuheit, Ethik).
Es wird klar, dass die Studienergebnisse neu sind und die Therapie einen erheblichen Nutzen hätte, da die Gangstörungen bei Patienten die Lebensqualität stark einschränken. Dass es in diesem Zusammenhang vorher Tierversuche mit dieser Methode gab, erwähnt der Artikel nicht. Zwar sind die Wirkungen in diesem Einzelfall so ausgeprägt, dass eine wissenschaftliche Arbeit darüber hochrangig im Fachjournal Nature Medicine publiziert wurde. Dort geht es allerdings auch um vorausgegangene Tierforschung. Es wäre angemessen für eine Berichterstattung über so ein spezielles Thema, zu erklären, warum diese trotz fehlender Evidenz erfolgt. Daher werten wir insgesamt nur knapp „ERFÜLLT“.
11. Der Beitrag gibt die wesentlichen Daten und Fakten korrekt wieder (FAKTENTREUE).
Wir haben keine Fehler gefunden.
12. Der Beitrag geht über eine Pressemitteilung/das Pressematerial hinaus (JOURNALISTISCHE EIGENLEISTUNG).
Die Beschreibung des einzelnen Falles ist ausführlich und detailreich. Viele, auch private Informationen zu dem Fall sind nicht in der Pressemeldung zu der Publikation enthalten, auf die sich der Artikel bezieht. Damit geht er über die Pressemeldung hinaus und stellt eine eigenständige journalistische Leistung dar.
13. Ein Beitrag vermittelt ein Thema interessant und attraktiv (ATTRAKTIVITÄT DER DARSTELLUNG).
Der Beitrag vermittelt zunächst die Symptome und das Fortschreiten der Parkinson-Erkrankung („Im fortgeschrittenen Zustand haben viele Betroffene Probleme mit dem Gehen: Das Gleichgewicht ist gestört, die Schritte werden asynchron, zum Teil erleben sie das sogenannte „Freezing“, sie sind wie eingefroren, können nicht mehr weitergehen.“), um dann den Einzelfall eines erfolgreich mit einer neuen Methode behandelten Patienten zu erzählen: „Mark Gaultier ist 62 Jahre alt. Er lebt in der Nähe von Bordeaux. Er hat eine Frau, zwei Kinder, und er hat Parkinson, seit über 25 Jahren. Die Krankheit bestimmt mittlerweile sein Leben. Er kann nicht mehr arbeiten. In den letzten Jahren ging er kaum noch vor die Tür, denn Marc hatte Angst zu stürzen. Das passierte zuletzt mehrmals am Tag.“ Am Ende des Artikels heißt es dann: „Sein Gangbild ist viel flüssiger, er fällt nicht mehr, bleibt nicht plötzlich stehen. Er kann sich wieder frei bewegen.“ Diese Erfolgsgeschichte ist sehr interessant und emotional nachgezeichnet: „…die Wirkung ist großartig, schwärmt der Proband“. Sie macht sowohl das Krankheitsbild der Parkinson-Erkrankung allgemein verständlich, als auch vermittelt sie dessen Bedeutung und auch die erfolgreiche Behandlung auf attraktive Weise an einem individuellen Fall.
Wobei allerdings der Aufbau des Artikels nicht ganz nachvollziehbar ist – warum die Parkinson-Erkrankung zunächst allgemein erklärt wird und dann erst der Anlass für die Berichterstattung folgt. Auch fällt die Sprache teilweise etwas flapsig aus, etwa hier: „Die Nerven an sich sind in Ordnung“, viele der Sätze sind sehr kurz. Insgesamt werten aber noch knapp „ERFÜLLT“.
14. Der Beitrag ist für ein Laienpublikum verständlich (VERSTÄNDLICHKEIT).
Sowohl das Krankheitsbild als auch die Fallgeschichte werden gut verständlich dargestellt. Es gelingt dem Beitrag, auch komplexe wissenschaftliche Zusammenhänge nachvollziehbar zu machen: „Das Gangbild ist etwas sehr Individuelles, und auch die Störungen beim Laufen durch die Parkinson-Erkrankung können sehr unterschiedlich aussehen. Deshalb wurden Sensoren an Marcs Bein befestigt, die seine Art zu laufen analysieren und diese Informationen an die Impulsgeber im Rücken weitergeben. So erhielt zum Beispiel bei Marc das eine Bein ein zu schwaches Signal vom Gehirn. Das wurde ausgeglichen.“ An einer Stelle wird das Wort „asynchron“ erwähnt, das womöglich nicht jedem geläufig ist. Doch insgesamt ist der Artikel auch für Laien gut verständlich.
15. Das THEMA ist aktuell, relevant oder ungewöhnlich. (THEMENAUSWAHL).
Das Thema ist relevant, da es an Behandlungsmöglichkeiten bei einer fortgeschrittenen Parkinson-Erkrankung mangelt, einem häufigen neurologischen Leiden. Zudem ist das Thema originell und aktuell, da in einer kurz zuvor erschienenen Fachpublikation über diese neue, ungewöhnliche Behandlungsmethode berichtet wird – und über den sehr positiven Ausgang für den Patienten.