Bewertet am 4. Juni 2024
Veröffentlicht von: NZZ (online)

Ein Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung (online) beschreibt eine neue Form der Elektrostimulation für querschnittsgelähmte Menschen, deren Rückenmark nicht vollständig durchtrennt wurde. Im Text wird erwähnt, wie viele Patienten an der Studie teilgenommen haben, auch auf Interessenkonflikte der Studienautoren wird eingegangen. Mögliche Nebenwirkungen oder Risiken des Verfahrens werden jedoch nicht erläutert, auch die Kosten des Verfahrens bleiben unerwähnt.

Zusammenfassung

Eine neue Methode der Elektrostimulation kann querschnittsgelähmten Menschen helfen, darüber berichtet ein journalistischer Beitrag in der Neuen Zürcher Zeitung (online). Der Nutzen des Verfahrens wird in absoluten Zahlen beschrieben, auch wird erklärt, worin die Besserung der Symptome bestand. Auch auf die (wenigen) Alternativen für querschnittsgelähmte Patient*innen wird im Text kurz eingegangen. Allerdings weckt der Artikel den Eindruck, als stünde die Methode kurz vor der Marktzulassung, was so weder aus der Pressemitteilung noch aus der Studie hervorgeht. Es kommt ein Experte im Text zu Wort, der die Studienergebnisse kritisch einordnet. Dessen möglicher Interessenkonflikt bleibt jedoch leider unerwähnt. Der Artikel ist verständlich geschrieben, verwendet jedoch an einigen Stellen medizinische Fachbegriffe, die eigentlich unnötig sind – und nicht immer erläutert werden.

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Die Kriterien

1. Die POSITIVEN EFFEKTE sind ausreichend und verständlich dargestellt (NUTZEN).

Der Nutzen wird folgendermaßen quantifiziert: „Von den 60 Patienten, die an der Studie teilnahmen, verzeichneten die Forscher bei 43 eine signifikante Verbesserung.“ Auch wird erläutert, worin diese Besserung genau bestand: „Die Kraftanwendung und die Beweglichkeit nahmen zu, und sie gaben an, dass sich ihre Lebensqualität dadurch massiv verbessert habe.“ Hier hätte noch etwas ausführlicher beschrieben werden können, wie die Effekte ausfielen. Es wird nur noch beispielhaft ein Patient beschrieben, der nach Beginn der Therapie bei seiner Arbeit besser tippen kann, wobei ein Video der Fachpublikation in den journalistischen Beitrag eingefügt wurde, das die Besserung der Symptomatik weiter illustriert. Insgesamt werten wir „ERFÜLLT“.

2. Die RISIKEN & NEBENWIRKUNGEN werden angemessen berücksichtigt.

In der Fachpublikation ist nachzulesen, dass bei der Anwendung der Elektrostimulation keine Nebenwirkungen auftraten bzw. nur Nebenwirkungen, die nicht mit der Therapie in Verbindung standen. Das wäre für die Leser*innen eine wichtige Information gewesen. Immerhin wird im journalistischen Beitrag erwähnt, dass die Patient*innen bei der Elektrostimulation nur ein leichtes Vibrieren spüren, auch wird deutlich, dass es sich um ein nichtinvasives Verfahren handelt. Schließlich hätte noch erklärt werden können, dass erst größere Studien mit mehr Patient*innen tatsächlich zeigen können, wie gut verträglich die Methode ist, da seltene Nebenwirkungen bei einer Anzahl von nur 60 Probanden der aktuellen Studie womöglich nicht auftreten. Insgesamt werten wir daher „NICHT ERFÜLLT“.

3. Es wird klar, ob eine Therapie/ein Produkt/ein Test VERFÜGBAR ist.

Der Artikel macht klar, dass die Behandlung bisher nur in einer klinischen Studie und in Tierversuchen eingesetzt wurde, also noch nicht zugelassen und verfügbar ist. Allerdings wird auch erwähnt, dass die Studie mit dem Ziel einer Marktzulassung durchgeführt wurde, das Verfahren also „bald“ verfügbar sein könnte. Da diese Zeitangabe nicht klar macht, dass eine solche Zulassung sehr langwierig sein kann, werten wir nur knapp „ERFÜLLT“.

4. Es werden ALTERNATIVE Behandlungsarten/Produkte/Tests vorgestellt.

Es wird im journalistischen Beitrag erwähnt, dass sich die neue Therapie noch im Vergleich zu bisherigen Rehabilitationsmaßnahmen beweisen muss. Auch wird durch ein Zitat des Experten Rüdiger Rupp indirekt deutlich, dass bei Langzeitlähmungen keine wirklich wirksamen Alternativen zur Verfügung stehen. Daher werten wir knapp „ERFÜLLT“.

5. Die KOSTEN werden im journalistischen Beitrag in angemessener Weise berücksichtigt.

Auf das Thema Kosten wird nicht eingegangen, auch nicht, ob die Behandlung von den Krankenkassen übernommen würde. Auch wenn die Therapie noch nicht zugelassen ist, wäre dieser Aspekt mit einer ersten Schätzung oder Einordnung dazu für die Leser*innen hilfreich gewesen. Daher werten wir „NICHT ERFÜLLT“.

6. Es sind keine Anzeichen von Krankheitserfindungen/-übertreibungen zu finden (DISEASE MONGERING).

Die Querschnittslähmung wird im Text nicht übertrieben dargestellt.

7. Der journalistische Beitrag ordnet die QUALITÄT der Belege/der Evidenz ein.

Der Artikel benennt, dass weitere, größere Studien notwendig seien. Ebenso erwähnt der Artikel auch die berechtigte Kritik von namenlosen Experten: „Ob die elektrische Stimulationstherapie im Vergleich mit der bisherigen Rehabilitationstherapie für genügend Patienten einen Vorteil bringt, muss in weiteren Studien noch gezeigt werden. Denn die Wissenschafter haben bisher noch keine Vergleiche mit anderen Massnahmen zur Unterstützung der Rehabilitation vorgelegt.“ Es wird so allerdings nur indirekt deutlich, dass es in dieser Untersuchung keinerlei Kontrollgruppe gab – ein wesentlicher Aspekt einer qualitativ hochwertigen klinischen Studie. Daher werten wir knapp „NICHT ERFÜLLT“.

8. Es werden UNABHÄNGIGE EXPERTEN oder QUELLEN genannt.

Der journalistische Beitrag zitiert den Experten Rüdiger Rupp vom Universitätsklinikum Heidelberg. Seine Einschätzung wurde vom Science Media Center (SMC) zur Verfügung gestellt und darf gemäß SMC ohne diese Quelleangabe verwendet werden. Allerdings ist Rupp nicht gänzlich unabhängig (siehe auch Kriterium 9), andere Expert*innen kommen im Text nicht zu Wort. Daher werten wir insgesamt knapp „NICHT ERFÜLLT“.

9. Es werden, falls vorhanden, INTERESSENKONFLIKTE im Beitrag thematisiert.

Die Studie wurde von der ETH Lausanne gemeinsam mit der Firma „Onward Medical“ durchgeführt, die das Gerät mitentwickelt hat und zukünftig vertreiben wird. Die Beteiligung der Firma wird im Artikel erwähnt, ebenso wird erläutert, dass der Studienleiter Gregoire Courtine Berater des Unternehmens ist. Was jedoch nicht zur Sprache kommt: In der Fachpublikation wird aufgeführt, dass gleich mehrere der Studienautoren Patente zum Verfahren halten und auch Minderheitsgesellschafter der Firma sind. Ebenso wird im journalistischen Beitrag nicht erläutert, dass der im Artikel zitierte Heidelberger Experte Rüdiger Rupp nicht gänzlich unabhängig ist. Laut Informationen des Science Media Center war und ist er bei verschiedenen Onward-Forschungsprojekten als Berater für die Firma tätig, etwa bei einem Projekt zur invasiven Rückenmarksstimulation (siehe auch hier). Auch wenn er an diesem Projekt nicht beratend beteiligt war, hätte der Artikel das offenlegen müssen. Daher werten wir „NICHT ERFÜLLT“.

10. Der Beitrag liefert Informationen zur EINORDNUNG der Thematik in einen Kontext (Neuheit, Ethik).

Im Artikel wird richtig erklärt, dass das Stimulationsgerät neu entwickelt wird, es sich also um ein neues Verfahren handelt. Inwiefern Studien zu ähnlichen Stimulationsverfahren bereits durchgeführt wurden, bleibt allerdings unerwähnt. Es wird nur erläutert, dass der Studienleiter auch an invasiven Methoden für querschnittsgelähmte Patient*innen arbeitet. Daher werten wir insgesamt nur knapp „ERFÜLLT“.

11. Der Beitrag gibt die wesentlichen Daten und Fakten korrekt wieder (FAKTENTREUE).

Wir haben bei den Angaben zur Häufigkeit der Tetraplegie einen Fehler gefunden. Nicht richtig ist, dass 1800 neue Fälle von Tetraplegie jährlich dazukommen, Menschen also, die an Beinen und Armen gelähmt sind. Es sind 1800 Fälle von Querschnittslähmung, die jedes Jahr hinzukommen, etwa die Hälfte dieser Patient*innen sind an Armen und Beinen gelähmt. Da diese Zahl leicht online zu finden ist und zentral für die Bedeutung des Verfahrens ist, werten wir knapp „NICHT ERFÜLLT“.

12. Der Beitrag geht über eine Pressemitteilung/das Pressematerial hinaus (JOURNALISTISCHE EIGENLEISTUNG).

Der Text orientiert sich offenbar nicht an einer Pressemitteilung (etwa hier). Womöglich basiert der Artikel auf einer Pressekonferenz, zusätzlich ist Material des Science Media Center eingeflossen. Da dies durchaus legitim ist, werten wir insgesamt noch knapp „ERFÜLLT“.

13. Ein Beitrag vermittelt ein Thema interessant und attraktiv (ATTRAKTIVITÄT DER DARSTELLUNG).

Der Artikel ist flüssig geschrieben, allerdings in nüchterner Sprache. Das auflockernde Patientenbeispiel kommt am Ende des Textes, mit ihm endet der Beitrag recht abrupt. Hier wäre es schön gewesen, stattdessen mit dem Beispiel in den Beitrag einzusteigen. Auch gibt es Videos verschiedener Proband*innen – ihre Bewegungen zu beschreiben, sie im Text zu zitieren, hätte den Artikel sehr viel attraktiver gemacht. So werten wir nur knapp „ERFÜLLT“.

14. Der Beitrag ist für ein Laienpublikum verständlich (VERSTÄNDLICHKEIT).

Im Text kommen viele Fachbegriffe vor, die für den Text eigentlich unnötig sind – Tetraplegie etwa, residuale Nervenfasern. Sie werden leider nicht immer erklärt, sondern nur mit dem Wort „sogenannten“ eingeführt, was beim Verständnis nicht weiterhilft. Zudem fehlt dem Artikel eine klare Struktur. So wird weit vorn im Text erklärt, wie wichtig der Pinzettengriff ist, nicht aber im Abschnitt über die Studienergebnisse. Dabei besserte sich der Pinzettengriff bei vielen Proband*innen im Verlauf der Elektrostimulation. Das Verfahren wird sehr ausführlich erklärt, der Aspekt der Verbesserung der Lebensqualität dagegen sehr knapp. Daher werten wir insgesamt knapp „NICHT ERFÜLLT“.

15. Das THEMA ist aktuell, relevant oder ungewöhnlich. (THEMENAUSWAHL).

Das Thema ist aktuell, weil die Studienergebnisse gerade veröffentlicht wurden und die Ergebnisse eine Möglichkeit aufzeigen, das Leben von Menschen mit einer Tetraplegie zu verbessern, es sich also um einen wesentlichen Fortschritt handeln könnte.

Medizinjournalistische Kriterien: 8 von 15 erfüllt

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Kriterium erfüllt

Kriterium nicht erfüllt

Kriterium nicht anwendbar