Bewertet am 1. März 2024
Veröffentlicht von: NZZ (online)

Die Neue Zürcher Zeitung (online) berichtet, dass hochdosiertes Kortison laut einer deutschen Studie wider Erwarten nicht besser gegen einen Hörsturz hilft als die Standardtherapie, dafür aber mehr Nebenwirkungen hat. Selbst die Standardtherapie mit Kortison ist womöglich ohne Wirkung, so eine vorsichtige Schlussfolgerung der Studie und des Artikels. Der fehlende Nutzen wird im journalistischen Beitrag zwar beschrieben, doch werden weder absolute noch relative Zahlen dazu genannt. Der Artikel macht klar, wie weit verbreitet die Therapien sind – und was das Neue an der Studie ist. Auf Kosten geht der Text hingegen nicht ein, auch kommen keine unbeteiligten Experten zu Wort.

Zusammenfassung

In einem Artikel der Neuen Zürcher Zeitung (online) geht es um eine Studie zur hochdosierten Kortisonbehandlung bei Patient*innen mit einem Hörsturz (siehe auch hier). Die Leserinnen und Leser erfahren im Text, dass die Kortison-Gabe bei Hörsturz seit langem üblich ist, allerdings ohne dass deren Wirkung tatsächlich erwiesen ist. Die neue Untersuchung ergab, dass die Verabreichung von hochdosiertem Kortison keinen Vorteil gegenüber der Standardtherapie mit Kortison erbringt, im Gegenteil sogar mehr Nebenwirkungen zur Folge hat. Allerdings werden Wirkungen und Nebenwirkungen im journalistischen Beitrag nicht quantifiziert. Das Studiendesign wird dagegen gut erklärt, auch wird deutlich, dass die fehlende wissenschaftliche Untersuchung verbreiteter Therapien ein generelles Problem ist. Kosten der Therapie werden nicht erwähnt. Als Experte wird lediglich der Studienleiter zitiert, damit bleibt der Text hinter der Pressemitteilung zurück, in der zusätzlich der Präsident der Fachgesellschaft der Hals-Nasen-Ohren-Ärzte zu Wort kommt. Der journalistische Beitrag ist gut verständlich geschrieben, erscheint jedoch erst zwei Monate nach Veröffentlichung der Studie.

Title

Die Kriterien

1. Die POSITIVEN EFFEKTE sind ausreichend und verständlich dargestellt (NUTZEN).

In dem Artikel geht es um die Wirksamkeit von Therapien bei Hörsturz. Berichtet wird über eine Studie, die zwei Hochdosis-Kortisonbehandlungen mit der Standard-Kortisonbehandlung verglichen hat. Zum Ergebnis der an rund 300 Personen durchgeführten Untersuchung wird der Studienleiter und HNO-Arzt Stefan Plontke von der Universitätsmedizin in Halle zitiert: „Die Ergebnisse der Studie haben uns überrascht, wenn nicht schockiert … Denn wir waren überzeugt, dass die hohe Kortison-Dosis besser wirkt.“ Das sei jedoch nicht der Fall gewesen, eher im Gegenteil. Im Text heißt es weiter, die Fähigkeit der Patienten, mit dem erkrankten Ohr Töne wahrzunehmen, habe zwar nach allen Behandlungsarten vergleichbar zugenommen. Was die Qualität des Hörvermögens angeht, habe es indes Unterschiede gegeben. Ungünstiger als die Standardtherapie habe die hochdosierte Kortison-Gabe abgeschnitten, insbesondere bei intravenöser Gabe. So sei das Sprachverständnis dieser Probanden stärker beeinträchtigt gewesen, die belastenden Ohrgeräusche hätten sich weniger weit zurückgebildet und es habe mehr Personen gegeben, die ein Hörgerät benötigten.

Diese Ergebnisse werden im Artikel allerdings nicht quantifiziert. Dabei finden sich schon in der Zusammenfassung (Abstract) der Studie Zahlenangaben, zumindest zur Besserung des Hörvermögens: Bei intravenöser Hochdosis-Therapie betrug sie 34,2 Dezibel, bei oraler Hochdosis-Therapie 41,4 Dezibel, bei oraler Standardmedikation 41,0 Dezibel. Nicht berichtet wird eine ebenfalls aufschlussreiche Information aus der Pressemitteilung, dass selbst in der Gruppe mit der Standardtherapie, die nach 30 Tagen am besten abgeschnitten hatte, bei 60 Prozent der Personen keine vollständige Besserung eingetreten war. Daher werten wir insgesamt „NICHT ERFÜLLT“.

2. Die RISIKEN & NEBENWIRKUNGEN werden angemessen berücksichtigt.

Risiken und Nebenwirkungen werden im Artikel erwähnt: Es heißt, die intensive Kortisontherapie habe häufiger zu unerwünschten Nebenwirkungen, etwa Entgleisungen des Zuckerhaushalts, geführt. Auch die bei einem Probanden aufgetretene Infektion, die einen tödlichen Schlaganfall nach sich zog, lasteten die Studienautoren der Hochdosis-Therapie an. Studienleiter Plontke wird mit einer möglichen Erklärung zitiert: „Da Kortison das Immunsystem unterdrückt, erhöht es die Infektanfälligkeit – und das umso mehr, je höher seine Dosis ist.“ In der Pressemitteilung wird als weitere Nebenwirkung eine Verschlechterung des Blutdrucks genannt. Auch hier quantifiziert der Artikel diese Informationen leider nicht. Dabei findet sich bereits im Abstract der Studie die Information, dass bei den beiden hochdosierten Kortisontherapien mehr als 70 Probanden an Nebenwirkungen litten, in der Standardgruppe dagegen nur 46. Daher werten wir, wenn auch knapp, „NICHT ERFÜLLT“.

3. Es wird klar, ob eine Therapie/ein Produkt/ein Test VERFÜGBAR ist.

Es wird deutlich, dass die Kortisonbehandlung eine Standardtherapie ist. Auch erfahren die Leserinnen und Leser, dass Hals-Nasen-Ohren-Ärzte häufig ohne vorliegende Evidenz mit hochdosiertem Kortison behandeln: „Die Behandlung eines solchen Tinnitus besteht üblicherweise aus einer mehrtägigen Therapie mit Kortisonpräparaten – Verbindungen, die Entzündungen hemmen und das Immunsystem unterdrücken. … Nach dem Motto ,Viel hilft viel´ herrscht dabei weithin die Meinung vor, dass sich ein Hörsturz mit hohen Glukokortikoid-Mengen noch besser behandeln lassen sollte als mit der deutlich niedriger dosierten Standardtherapie.“

4. Es werden ALTERNATIVE Behandlungsarten/Produkte/Tests vorgestellt.

Es wird klar, dass Standardtherapie und hochdosierte Kortisontherapie oral und per Infusion zur Verfügung stehen. Allerdings wird nur implizit deutlich, dass Nicht-Behandlung eine Option sein kann, da sich ein Hörsturz manchmal innerhalb weniger Tage von selbst zurückbildet: „Rund die Hälfte der Betroffenen kommt mit dem Schrecken davon. Bei den übrigen Patienten bildet sich der Hörverlust hingegen nicht oder nur teilweise zurück und hinterlässt obendrein oft belastende Ohrgeräusche.“ Hierzu heißt es beim Patientenportal des IQWiG: „Bei einem leichten Hörverlust, der kaum belastet, rät die Ärztin oder der Arzt meist, ein paar Tage abzuwarten. Denn manchmal erholt sich das Gehör von selbst – vor allem, wenn der Hörverlust gering ist und nur tiefe oder mittlere Tonhöhen betrifft. Bessert sich der Hörverlust innerhalb dieser Zeit nicht, wird eine Behandlung empfohlen.“  (siehe auch hier). Weiter heißt es dort: „Wenn die Schwerhörigkeit trotz Behandlung bestehen bleibt, kann ein Hörgerät eine wichtige Hilfe sein. Ist das Hören kaum oder gar nicht mehr möglich, kommt eine ,Hörprothese´ (Cochlea-Implantat) infrage.“ Alternativen werden also im Artikel benannt, aber die Informationen hätten ausführlicher sein können, daher werten wir nur knapp „ERFÜLLT“.

5. Die KOSTEN werden im journalistischen Beitrag in angemessener Weise berücksichtigt.

Die Kosten der Behandlung werden nicht thematisiert. Hier wäre es für Schweizer Leserinnen und Leser interessant gewesen, mehr über die Kostenübernahme in der Schweiz zu erfahren. In Deutschland werden die Kosten laut Patientenportal des IQWIG nicht von den Krankenkassen übernommen: „Die Behandlung mit Glukokortikoiden, egal ob als Tablette, Infusion oder Spritze ins Mittelohr, wird in der Regel nicht von der gesetzlichen Krankenkasse bezahlt.“ (siehe auch hier) Daher werten wir „NICHT ERFÜLLT“.

6. Es sind keine Anzeichen von Krankheitserfindungen/-übertreibungen zu finden (DISEASE MONGERING).

Die Folgen eines Hörsturzes werden nicht übertrieben dargestellt. Die Leser*innen erfahren, dass in Deutschland „jährlich zwischen 160 und 400 auf 100 000 Personen“ betroffen sind. Es wird klar, dass die Folgen wie Hörverlust oder Ohrgeräusche belastend sein können.

7. Der journalistische Beitrag ordnet die QUALITÄT der Belege/der Evidenz ein.

Der Text macht deutlich, dass bisher keine aussagekräftigen Studien zu den Therapien vorliegen. Im Artikel wird auch erklärt, warum viele nicht bewiesene, aber häufig eingesetzte Therapien schwierig zu untersuchen sind: Es sei nicht „leicht, Teilnehmer für eine Studie zu gewinnen, in der eine vermutlich wirksame Therapie mit einer mutmasslich weniger wirksamen Weise verglichen wird. Denn wird eine solche Studie korrekt durchgeführt, kann sich der Patient nicht aussuchen, wie er behandelt wird. Vielmehr bestimmt das Los, wer welche Therapie erhält. So soll verhindert werden, dass bewusste und unbewusste Einflüsse die Behandlungswahl bestimmen und die Ergebnisse somit verzerren können“. Im Folgenden wird das Studien-Design der vorliegenden Untersuchung beschrieben: „Die daran beteiligten Personen, rund 330 Männer und Frauen mit akutem Hörsturz, waren nach den Regeln des Zufalls auf eine von insgesamt drei Arten behandelt worden: mit einer hohen Glukokortikoid-Dosis, die entweder via Infusion oder in Pillenform verabreicht wurde, oder mit den üblichen, geringeren Mengen dieser Medikamente.“ Studienleiter Plontke erklärt zudem, dass auch die Standardtherapie „auf den Prüfstand“ gehöre. In einer Folgestudie soll die Standardtherapie gegen Placebo verglichen werden.

8. Es werden UNABHÄNGIGE EXPERTEN oder QUELLEN genannt.

Als Experte wird nur der Studienleiter Stefan Plontke zitiert. Damit bleibt der Text hinter der Pressemitteilung zurück, die zusätzlich Professor Stefan Lang zitiert, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie e.V.: Die Studie werfe in der Fachwelt einige Fragen zum bisherigen Behandlungsstandard auf. „Aktuell gibt es kein Medikament, das spezifisch für die Hörsturz-Therapie zugelassen ist. Wir brauchen dringend mehr belastbare Daten, um Hörsturz-Betroffene wirksam zu behandeln.“ Da im Artikel keine unabhängigen Expertinnen oder Experten oder Quellen genannt werden, werten wir „NICHT ERFÜLLT“.

9. Es werden, falls vorhanden, INTERESSENKONFLIKTE im Beitrag thematisiert.

Leser und Leserinnen erfahren, dass die Studie staatlich finanziert wurde, der Pressemitteilung ist zusätzlich zu entnehmen, dass sie durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wurde. Von 27 Studien-Autoren haben drei Forschende Interessenkonflikte (Pharmaunternehmen und ähnliches) angegeben, auch Studienleiter Stefan Plontke, der u.a. Beziehungen zu AudioCure GmbH, Cochlear Ltd, Infecotpharm, Med-EL und MedKom GmbH angibt. Diese Information, zumindest über den Studienleiter, hätte im Text erwähnt werden müssen. Daher werten wir knapp „NICHT ERFÜLLT“.

10. Der Beitrag liefert Informationen zur EINORDNUNG der Thematik in einen Kontext (Neuheit, Ethik).

Die Leserinnen und Leser erfahren zunächst, dass die derzeitige Standardtherapie erstmals in den 1980er Jahren untersucht wurde, die Studie jedoch methodische Schwächen und daher wenig Aussagekraft besessen habe. Statt eine sorgfältige Untersuchung folgen zu lassen, habe die HNO-Gemeinschaft beschlossen, „von nun an allen Patienten mit Hörsturz Kortison zu verabreichen“. Wie problematisch dies ist, wird im vorletzten und letzten Absatz auch anhand des Beispiels der Stentversorgung bei verengten Herzgefäßen verdeutlicht: „Wie diese und unzählige weitere Beispiele illustrieren, sind selbst plausibel erscheinende Hypothesen kein Ersatz für sachgerechte Studien. Denn wirkungslose Therapien setzen den Patienten unnötigen Gefahren aus und belasten das Gesundheitssystem, ohne einen Mehrwert zu bringen.“

11. Der Beitrag gibt die wesentlichen Daten und Fakten korrekt wieder (FAKTENTREUE).

Wir haben keine Faktenfehler gefunden.

12. Der Beitrag geht über eine Pressemitteilung/das Pressematerial hinaus (JOURNALISTISCHE EIGENLEISTUNG).

Der journalistische Beitrag geht über die Pressemitteilung hinaus, insbesondere wird die allgemeine Problematik häufig verwendeter, aber unzureichend untersuchter Therapien erläutert: „Bei vielen, auch häufig angewandten Therapien ist unklar, ob sie dem Patienten tatsächlich helfen. Sind sie aber erst einmal etabliert, lässt sich ihr Nutzen kaum noch überprüfen. Denn die Hersteller von Medikamenten und Medizinprodukten haben wenig Interesse, die dazu nötigen Untersuchungen zu finanzieren, und staatliche Institutionen sind dazu kaum in der Lage.

Es ist zudem nicht leicht, Teilnehmer für eine Studie zu gewinnen, in der eine vermutlich wirksame Therapie mit einer mutmasslich weniger wirksamen Weise verglichen wird. Denn wird eine solche Studie korrekt durchgeführt, kann sich der Patient nicht aussuchen, wie er behandelt wird. Vielmehr bestimmt das Los, wer welche Therapie erhält. So soll verhindert werden, dass bewusste und unbewusste Einflüsse die Behandlungswahl bestimmen und die Ergebnisse somit verzerren können.“  Und weiter heißt es: „Auch in vielen anderen Bereichen der Medizin gibt es Therapien, die nie richtig geprüft wurden und sich erst nach jahrelanger Anwendung als unwirksam herausgestellt haben. So galt die Versorgung verengter Herzkranzarterien mit Stents lange Zeit als ein probates Mittel, um Patienten mit atherosklerotischem Herzleiden vorsorglich vor Infarkten zu schützen. Wissenschaftliche Untersuchungen konnten diese Annahme allerdings nicht bestätigen. Hunderttausende von Herzkranken unterzogen sich daher – und unterziehen sich teilweise immer noch – dem Risiko eines Eingriffs, ohne davon zu profitieren. Wie diese und unzählige weitere Beispiele illustrieren, sind selbst plausibel erscheinende Hypothesen kein Ersatz für sachgerechte Studien. Denn wirkungslose Therapien setzen den Patienten unnötigen Gefahren aus und belasten das Gesundheitssystem, ohne einen Mehrwert zu bringen.“

13. Ein Beitrag vermittelt ein Thema interessant und attraktiv (ATTRAKTIVITÄT DER DARSTELLUNG).

Der Einstieg ins Thema und der Aufbau des Textes sind unglücklich gewählt – zwei allgemeine Absätze, bei denen noch nicht klar wird, was das eigentliche Thema ist. Zumal der allgemeine Rahmen zu wenig untersuchten Therapien nicht mit konkreten Zahlen unterfüttert wird. Erst im dritten Absatz kommt der Text auf die Erkenntnislage bei der Therapie eines Hörsturzes zu sprechen, erst im sechsten Absatz wird über die eigentliche Neuigkeit und den Anlass der Berichterstattung informiert: die Medikamenten-Studie, die im Vergleich dreier Dosierungen/Applikationen untersucht, welche Behandlung am wirksamsten ist. Beim Thema Hörsturz hätte sich zudem angeboten, eine Betroffene zu interviewen, das wäre mit Hilfe des Studienleiters sicher leicht zu organisieren gewesen.

14. Der Beitrag ist für ein Laienpublikum verständlich (VERSTÄNDLICHKEIT).

Der Artikel erklärt nachvollziehbar, warum es schwierig ist, eine Therapie, wenn sie erst einmal in die Praxis eingeführt ist, systematisch zu untersuchen. Er erklärt den Fachausdruck „Glukokortikoide“ und zieht ein verständliches Fazit aus der Studie: „Wie diese und unzählige weitere Beispiele illustrieren, sind selbst plausibel erscheinende Hypothesen kein Ersatz für sachgerechte Studien. Denn wirkungslose Therapien setzen den Patienten unnötigen Gefahren aus und belasten das Gesundheitssystem, ohne einen Mehrwert zu bringen.“

15. Das THEMA ist aktuell, relevant oder ungewöhnlich (THEMENAUSWAHL).

Der Artikel ist relevant, weil es sich offenbar um den ersten systematischen Vergleich dreier unterschiedlicher Dosierungen/Applikationen bei Therapie eines Hörsturzes handelt. Auch das Ergebnis ist wichtig, da offenbar die nebenwirkungsreichere Hochdosis-Therapie nicht wirksamer ist als die Standardtherapie. Die Studie wird zudem in einen weiteren Kontext eingeordnet. Die Studie ist allerdings bereits Ende Dezember 2023 erschienen, eine Aktualität ist also nicht mehr gegeben. Daher werten wir nur knapp „ERFÜLLT“.

Medizinjournalistische Kriterien: 9 von 15 erfüllt

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Kriterium erfüllt

Kriterium nicht erfüllt

Kriterium nicht anwendbar