Bewertet am 21. Februar 2024
Veröffentlicht von: Rheinische Post (online)

Ein journalistischer Beitrag in der Rheinischen Post (online) berichtet über ein spannendes neues Wirkprinzip für potenzielle Alzheimer-Medikamente. Doch verlässt sich der Artikel unkritisch auf die Pressemitteilung des Forschungsinstituts und die Firmenangaben, sucht keine Einordnung und unterlässt es, eine unabhängige, einordnende Stimme einzuholen. Die enthusiastische Unterstellung, es könnte hier für Millionen Betroffene ein wirksamer Therapieansatz entstehen, weckt angesichts der frühen Phase der klinischen Entwicklung unberechtigte Hoffnung für Patient*innen und deren Angehörige.

Zusammenfassung

Ein Artikel in der Rheinischen Post (online) berichtet darüber, dass die Europäische Arzneimittelbehörde (EMA) eine Phase II-Studie für einen neuen möglichen Wirkstoff gegen Alzheimer-Demenz genehmigt hat. Allerdings erfolgte dies bereits im November 2023, ein aktueller Anlass für die Berichterstattung ist nicht erkennbar. Im journalistischen Beitrag wird klar, dass die Studie mit öffentlichen Mitteln finanziert und in Zusammenarbeit mit dem Hersteller des Wirkstoffs durchgeführt wird – einem Unternehmen, das aus dem Forschungszentrum Jülich und der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf ausgegründet wurde. Der Beitrag lehnt sich eng an die Pressemitteilung des Forschungszentrums an (siehe auch hier), ergänzt aber Informationen zur Entwicklung von Demenzerkrankungen weltweit. Eine unabhängige Quelle zur Einschätzung des Wirkstoffs oder des Studiendesigns wird allerdings nicht herangezogen. Der Artikel informiert darüber, dass es sich um eine Placebo-kontrollierte Phase II-Studie mit 270 Proband*innen handeln wird. Für das Verständnis des Textes wäre es wichtig gewesen, zu erläutern, was eine Phase II-Studie ist – und was sie von Phase I- und Phase III-Studien unterscheidet. Auch wird nicht erwähnt, was genau die vorausgehenden Phase I-Studien ergeben haben und ob Nebenwirkungen auftraten. An einigen Stellen ist der Text zudem sehr werbend formuliert.

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Die Kriterien

1. Die POSITIVEN EFFEKTE sind ausreichend und verständlich dargestellt (NUTZEN).

Der Artikel beschreibt das Medikament PRI-002 als einen „aussichtsreichen Kandidaten“; auch heißt es, dass „erste Studien bereits ‚überzeugend und vorteilhaft‘ verlaufen seien. Der Text erklärt zwar, wie PRI-002 wirken soll, doch findet sich keinerlei Quantifizierung oder Beschreibung, worin positive Effekte bisher bestanden haben sollen. Dabei gibt es Publikationen zu positiven Effekten auf Gedächtnisleistungen in Tierversuchen (siehe auch hier). Wobei einschränkend gilt, dass es keine guten Tiermodelle für Alzheimer gibt (siehe dazu hier). Daher werten wir insgesamt knapp „NICHT ERFÜLLT“.

2. Die RISIKEN & NEBENWIRKUNGEN werden angemessen berücksichtigt.

Die ersten Tests in einer Phase I-Studie dienen dazu, Verträglichkeit und Sicherheit eines neuen Wirkstoffs an gesunden Probanden zu überprüfen. Dass drei Phase I-Studien stattgefunden haben, wird im Artikel erwähnt. Offensichtlich erwies sich die Substanz in mindestens eine der Studien als sicher. Weitere Informationen zur Sicherheit des Wirkstoffs finden sich hier. Dabei wurde notiert, ob EEG-Veränderungen auftreten, die Probanden desorientiert waren oder unter Kopfschmerzen litten. Das hätte zumindest erwähnt werden können, wenn auch keine konkreten Nebenwirkungen genannt worden sind. Auch in der nun genehmigten Phase II-Studie wird es noch weiter darum gehen, die Sicherheit der Behandlung zu prüfen (siehe auch hier). Doch finden sich im Artikel leider keinerlei Informationen dazu, ob bislang Nebenwirkungen aufgetreten sind. Daher werten wir „NICHT ERFÜLLT“.

3. Es wird klar, ob eine Therapie/ein Produkt/ein Test VERFÜGBAR ist.

Es wird ausreichend deutlich, dass es hier um eine Studie mit einem neu entwickelten Wirkstoff geht, der erst getestet wird und noch nicht allgemein verfügbar ist.

4. Es werden ALTERNATIVE Behandlungsarten/Produkte/Tests vorgestellt.

Der Beitrag informiert darüber, dass es bislang kein Medikament gibt, mit dem sich die Alzheimer-Demenz grundlegend aufhalten ließe. Es werden andere Wirkstoffkandidaten erwähnt, die auf dem Einsatz von Antikörpern beruhen. Genannt wird hier insbesondere der Wirkstoff Lecanemab, der in den USA bereits zugelassen ist.

5. Die KOSTEN werden im journalistischen Beitrag in angemessener Weise berücksichtigt.

In diesem Entwicklungsstadium sind Aussagen zu den Kosten eines möglichen Medikaments kaum zu treffen, daher wenden wir das Kriterium nicht an.

6. Es sind keine Anzeichen von Krankheitserfindungen/-übertreibungen zu finden (DISEASE MONGERING).

Die Zahlen zur Prävalenz von Demenz und Alzheimer-Demenz werden nicht übertrieben dargestellt, ebenso wenig wie die Erläuterung zum fortschreitenden Gehirnverfall.

7. Der journalistische Beitrag ordnet die QUALITÄT der Belege/der Evidenz ein.

Es wird berichtet, dass es sich bei der genehmigten Studie um eine Placebo-kontrollierte Phase II-Studie in sechs europäischen Ländern handelt; die Zahl der Proband*innen – 270 – wird genannt.  Allerdings macht der journalistische Beitrag für Laien nicht deutlich, worin sich die verschiedenen Phasen klinischer Studien unterscheiden, und welche Aussagekraft sie jeweils haben können. Insbesondere fehlen Angaben zu den abgeschlossenen Phase I-Studien (laut Unternehmensangaben waren es drei), auf die der Beitrag nur sehr allgemein Bezug nimmt.

Allerdings weckt der Artikel den Eindruck, dass der neue Wirkstoff viel erfolgreicher sein könnte als alle anderen Substanzen, die bislang getestet wurden. Dabei ist die Entwicklung von PRI002 noch gar nicht weit genug fortgeschritten, um darüber verlässliche Aussagen zu treffen. Viele andere, zunächst vielversprechende Wirkstoffe gegen Alzheimer-Demenz sind in den vergangenen Jahren gescheitert (siehe auch hier). Wie wenig die bisherige Studienlage über das Potenzial dieses Wirkstoffs aussagt, wird also nicht eingeordnet. Daher werten wir insgesamt „NICHT ERFÜLLT“.

8. Es werden UNABHÄNGIGE EXPERTEN oder QUELLEN genannt.

Es kommt nur ein Wissenschaftler zu Wort, der die beteiligte Herstellerfirma mitbegründet hat. Zwar bezieht der Beitrag mit der Lancet-Publikation aus 2022 eine weitere Quelle neben den Entwicklern des vorgestellten Wirkstoffkandidaten ein. Doch handelt es sich hier um eine Abschätzung, wie die Zahl der Demenzerkrankungen weltweit zunehmen wird, nicht um eine Forschungsarbeit zur Medikamentenentwicklung. Eine externe Einschätzung, etwa dazu, wie vielversprechend der Wirkstoffkandidat PRI-002 im Vergleich zu anderen erscheint, oder zum Studiendesign, findet sich im Beitrag nicht. Damit gibt es zum Hauptthema des Beitrags keine zweite Quelle. Daher werten wir „NICHT ERFÜLLT“.

9. Es werden, falls vorhanden, INTERESSENKONFLIKTE im Beitrag thematisiert.

Im Artikel wird deutlich, dass die Priavoid GmbH eine Ausgründung aus dem Forschungszentrum Jülich und der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf ist. Der zitierte Forscher, Dieter Willbold, wird als Mitbegründer der Firma vorgestellt, der zugleich Direktor eines Jülicher Instituts und Professor an der Heinrich-Heine-Universität ist. Die Finanzierung der Studie durch das Unternehmen PRInnovation und die Förderung mit öffentlichen Mitteln des BMBF durch die Bundesagentur für Sprunginnovationen wird genannt.

10. Der Beitrag liefert Informationen zur EINORDNUNG der Thematik in einen Kontext (Neuheit, Ethik).

Anhand von Angaben der Deutschen Alzheimergesellschaft und einer Publikation der Fachzeitschrift „The Lancet“ wird eingeordnet, welche Bedeutung Demenzerkrankungen und speziell die Alzheimer-Demenz haben. Es wird deutlich, dass die Entwicklung von Medikamenten bislang wenig erfolgreich war, und hier ein neues Wirkprinzip getestet wird.

11. Der Beitrag gibt die wesentlichen Daten und Fakten korrekt wieder (FAKTENTREUE).

Wir haben einen Faktenfehler gefunden, den wir jedoch als Flüchtigkeitsfehler werten: Im Artikel wird Bezug genommen auf eine Studie im Fachblatt Lancet im Jahr 2022, die eine Verdreifachung der Demenzfälle weltweit vorhersagt – allerdings nicht bis 2025 (wie es im Text heißt), sondern bis 2050 (siehe auch hier).

12. Der Beitrag geht über eine Pressemitteilung/das Pressematerial hinaus (JOURNALISTISCHE EIGENLEISTUNG).

Der Beitrag geht insofern über die Pressemitteilung hinaus, als er zusätzliche Informationen zur Entwicklung der Demenzerkrankungen weltweit liefert. Ansonsten lehnt er sich eng an die Pressemitteilung an. Zudem ist die Sprache des Beitrags teilweise werblich geprägt („Neue Perspektive für Millionen Alzheimer-Patienten auf der ganzen Welt“, „aussichtsreicher Kandidat“; „Durchbruch“, „fantastische Nachricht“). Insgesamt wertem wir noch „KNAPP ERFÜLLT“.

13. Ein Beitrag vermittelt ein Thema interessant und attraktiv (ATTRAKTIVITÄT DER DARSTELLUNG).

Auf die vollmundige Ankündigung eines möglichen „Durchbruchs“ in der Demenzforschung folgen zunächst drei Absätze mit allgemeinen Darlegungen zur Alzheimer-Demenz und zur Gründung der Priavoid GmbH. Erst danach kommt der Beitrag dazu, das mögliche neue Medikament zu beschreiben und über die geplante Studie näher zu informieren. Dieser Aufbau des Textes ist wenig attraktiv und könnte dazu führen, dass Leser*innen schon aussteigen, bevor sie zur eigentlichen Nachricht kommen.

14. Der Beitrag ist für ein Laienpublikum verständlich (VERSTÄNDLICHKEIT).

Der journalistische Beitrag erklärt gut verständlich die Wirkweise der neuen Substanz. Auch der Unterschied zur Wirkweise anderer neu zugelassener Medikamente wird nachvollziehbar erläutert. Allerdings wird nicht dargelegt, was eine Phase II-Studie eigentlich ist, und was sie von einer Phase I und einer Phase III Studie unterscheidet. Auch wird nicht klar, warum die bisherigen Studienergebnisse vom Unternehmen als „überzeugend und vorteilhaft“ eingeschätzt werden. Daher werten wir insgesamt knapp „NICHT ERFÜLLT“.

15. Das THEMA ist aktuell, relevant oder ungewöhnlich (THEMENAUSWAHL).

Seit langem besteht Bedarf nach wirksamen Alzheimer-Medikamenten. Daher ist ein journalistischer Beitrag zu dieser Thematik relevant. Einen aktuellen Anlass für den Artikel gibt es allerdings nicht: Die Genehmigung der EMA für die Phase II-Studie erfolgte bereits im November 2023. Daher werten wir insgesamt nur „KNAPP ERFÜLLT“.

Medizinjournalistische Kriterien: 8 von 14 erfüllt

Abwertung um einen Stern (von 3 auf 2 Sterne), Begründung: Die wichtigen Kriterien Nutzen, Risiken und Einordnung der Evidenz sind nicht erfüllt, zumal ist der Artikel stark an die Pressemitteilung angelehnt.

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Kriterium erfüllt

Kriterium nicht erfüllt

Kriterium nicht anwendbar