Ein Artikel in der Badischen Zeitung (online) berichtet über das neue Gerät „Carl“, das bei Patient*innen mit Herzstillstand die Überlebenschancen erhöhen soll. Allerdings wird der Nutzen des Verfahrens nur in unterschiedlichen, teils verwirrenden Prozentzahlen ausgedrückt, absolute Zahlen finden sich nicht. Die Qualität der Evidenz – es handelt sich um eine Beobachtungsstudie – wird nur ansatzweise erläutert. Inhaltlich geht der Beitrag über jene Pressemitteilung hinaus, die zu der Publikation veröffentlicht wurde. Leider kommen weder Risiken noch Kosten und Alternativen des Verfahrens im Text zur Sprache. Und die Methode wird nicht durch unabhängige Experten eingeordnet. Der Artikel liefert jedoch zahlreiche interessante Informationen, die für Laien weitgehend verständlich dargestellt sind.
Zusammenfassung
Eine neuartige Herz-Lungen-Maschine wird in einem journalistischen Beitrag der Badischen Zeitung (online) vorgestellt. Sie soll zusätzlich zur Sauerstoffversorgung des Körpers verschiedene Blutwerte messen und korrigieren – und so die Überlebenschancen nach einem Herzstillstand verbessern. Der Nutzen des von Forschenden der Universitätsklinik Freiburg entwickelten Geräts wird dabei mit schwer nachvollziehbaren Prozentzahlen nur unzureichend quantifiziert, Risiken werden nicht angesprochen. Die Aussagekraft der Studie ordnet der Artikel nicht ein – so erfahren Leserinnen und Leser nicht, dass es sich um eine Beobachtungsstudie mit relativ wenigen Teilnehmenden handelt und es keine Kontrollgruppe gab. Der gut lesbare journalistische Beitrag geht mit einigen Details und Zitaten über die Pressemitteilung hinaus, bezieht aber keine zweite Quelle ein und lässt keine unabhängigen Experten zu Wort kommen. Interessenkonflikte der Studienautoren werden nicht ausreichend dargestellt. So arbeiten etliche Studienautor*innen für ein Start-up, das die neue Maschine vermarktet.
Die Kriterien
1. Die POSITIVEN EFFEKTE sind ausreichend und verständlich dargestellt (NUTZEN).
Der Beitrag informiert darüber, dass mit dem Gerät „Carl“ behandelte Patient*innen zu knapp 52 Prozent einen Herzstillstand überleben, wenn sie diesen in einer Klinik erlitten; 35 Prozent überlebten, wenn sie erst nach dem Herzstillstand in die Klinik kamen und dort an „Carl“ angeschlossen wurden, und 57 Prozent, wenn sie direkt vor Ort mit dem Gerät therapiert wurden. Doch fehlen jegliche Angaben dazu, wie viele Patient*innen das jeweils waren. Auch die Angabe, die Überlebenschancen seien von 10 auf mehr als 40 Prozent gestiegen, wird nicht mit aussagekräftigeren, absoluten Zahlen ergänzt. Wobei die 10 Prozent offensichtlich darauf zurückzuführen sind, dass einem großen Teil der Patient*innen mit Herzstillstand keine Herzdruckmassage zuteil wird, was wiederum den möglichen Nutzen dieses neuen Geräts möglicherweise verzerrt darstellt. Schließlich erhöht schon eine normale Herzdruckmassage die Überlebenschancen der Betroffenen um das Zwei- bis Dreifache (siehe auch hier) (siehe dazu auch Kriterium Faktentreue). Man versteht also nicht wirklich, was hier womit verglichen wird. Zwar sind die absoluten Zahlen nicht ohne Weiteres aus der Studie herauszulesen, doch hätte dies im Interview mit dem zuständigen Mediziner geklärt werden können. In der Beobachtungsstudie wurde außerdem dokumentiert, wie stark die neue Therapie bei Überlebenden die neurologischen Schäden verringerte – ein Punkt, den der Artikel gar nicht anspricht. Daher werten wir insgesamt „NICHT ERFÜLLT“.
2. Die RISIKEN & NEBENWIRKUNGEN werden angemessen berücksichtigt.
Auf die Risiken der sehr invasiven Therapiemethode geht der Bericht nicht ein. Die Indikation für den Einsatz des Verfahrens ist zwar ein Herzstillstand, der bisher – unbehandelt – in mehr als 90 Prozent der Fälle tödlich verläuft. Bei der Nutzen-Risiko-Abwägung ist der entscheidende Faktor also die Überlebensrate, die Risiken treten in den Hintergrund. Allerdings sind die Nebenwirkungen einer solchen Therapie gravierend, sie reichen von Gehirnblutungen über Nierenversagen bis zu Infektionen. Dass solche Nebenwirkungen bei einem Therapieverfahren in Kauf genommen werden, ist nicht selbstverständlich und wäre zumindest eine Erwähnung wert. Daher werten wir „NICHT ERFÜLLT“.
3. Es wird klar, ob eine Therapie/ein Produkt/ein Test VERFÜGBAR ist.
Der Bericht thematisiert die Entwicklung des Verfahrens aus einem Universitätsklinikum heraus und seine bisherige Verbreitung: „Ihr Produkt ist mittlerweile in 25 Krankenhäusern in Deutschland und in zehn in anderen europäischen Ländern im Einsatz.“ Somit wird deutlich, dass es sich um ein schon anerkanntes, aber noch nicht weit verbreitetes Verfahren handelt, das nur dort zum Einsatz kommen kann, wo es bereits etabliert ist. Offen bleibt jedoch die Frage, ob bereits eine nennenswerte Zahl von Rettungswagen damit ausgestattet ist – angesichts der offenbar guten Erfolge bei einem Einsatz vor Ort wäre das eine wichtige Information. Dennoch werten wir insgesamt „ERFÜLLT“.
4. Es werden ALTERNATIVE Behandlungsarten/Produkte/Tests vorgestellt.
Die Alternative zu der beschriebenen Methode ist die herkömmliche „extrakorporale Herz-Lungen-Wiederbelebung“, also ein maschineller Ersatz der Funktionen des Herzens und der Lunge für einen Übergangszeitraum. Bei dem neuen Verfahren handelt es sich um eine Weiterentwicklung, die nicht nur einen mobilen Einsatz ermöglicht, sondern auch direkt den Folgen eines Herzstillstands entgegenwirkt, indem Stoffwechselentgleisungen direkt behandelt werden, die Körpertemperatur abgesenkt und das Blut mit erhöhtem Druck durch den Kreislauf gepumpt wird. Diese Funktionen thematisiert der Artikel zwar, aber er erwähnt nicht, dass bereits extrakorporale Verfahren zum Einsatz kommen, die lediglich das Blut pumpen und mit Sauerstoff anreichern. Auch die Herzdruckmassage wird nur am Ende des Textes kurz angesprochen. Daher werten wir insgesamt „NICHT ERFÜLLT“.
5. Die KOSTEN werden im journalistischen Beitrag in angemessener Weise berücksichtigt.
Die Kosten des neuen Geräts kommen nicht zur Sprache. Es ist zwar zu vermuten, dass eine so hochentwickelte Technologie kostspielig ist. Und der Kostenaspekt spielt für damit behandelte Menschen wohl keine Rolle. Aber die hohen Kosten stehen einer breiten Verfügbarkeit der Technologie entgegen, so dass in Zukunft viele Betroffene wahrscheinlich nicht davon profitieren können. Daher wäre es wichtig gewesen, etwas über die Kosten zu erfahren.
6. Es sind keine Anzeichen von Krankheitserfindungen/-übertreibungen zu finden (DISEASE MONGERING).
Anzeichen für eine Übertreibung des Problems Herzstillstand sind nicht zu erkennen.
7. Der journalistische Beitrag ordnet die QUALITÄT der Belege/der Evidenz ein.
Über die Qualität der Studie informiert der Beitrag nicht. Es wird lediglich die Zahl der Behandelten und die Zahl der beteiligte Herzzentren genannt: „International ist (auch) die klinische Studie, die „Carls“ Können belegt. Ihre Ergebnisse wurden jetzt nach fachlicher Begutachtung im Journal of Clinical Medicine veröffentlicht. In sieben Herzzentren in Deutschland, Österreich und Holland wurden dafür die Fälle von 69 mit dem Gerät behandelten Patientinnen und Patienten dokumentiert.“ Doch erfahren Leserinnen und Leser nicht, dass es sich um eine Beobachtungsstudie ohne Kontrollgruppe handelt. Auch wenn in diesem Fall eine Kontrollgruppe aus ethischen Gründen nicht möglich ist, hätte dies erläutert werden müssen. Die Zahl der Patient*innen wird zwar genannt, die Einschätzung der Studienautoren bleibe dagegen unerwähnt: Dass dies eine geringe Anzahl ist.
Auch gab es offenbar ein etwas unterschiedliches Vorgehen in den beteiligten Kliniken („Adherence to the complete study protocol varied among the centers, (…)“). Dass es keine strikten Einschlusskriterien für die Studie gab („this study did not enforce strict inclusion and exclusion criteria, (…)“), verringert ebenfalls die Aussagekraft der Untersuchung, da eine Verzerrung hier nicht auszuschließen ist. Alle diese in der Fachpublikation klar aufgeführten Einschränkungen werden im journalistischen Beitrag nicht genannt. Daher werten wir insgesamt „NICHT ERFÜLLT“.
8. Es werden UNABHÄNGIGE EXPERTEN oder QUELLEN genannt.
Unabhängige Experten kommen in dem journalistischen Beitrag nicht zu Wort. Er zitiert lediglich den Wissenschaftler, der das Verfahren maßgeblich entwickelt hat, und diesen mit nur sehr kurzen, wenig aussagekräftigen Statements. Doch gerade, weil es sich um ein nicht kontrolliert überprüfbares Verfahren handelt, wäre die Einordnung der Studienergebnisse durch unabhängige Experten wichtig gewesen.
9. Es werden, falls vorhanden, INTERESSENKONFLIKTE im Beitrag thematisiert.
Der Artikel nennt die Beteiligung des zitierten Wissenschaftlers an der Entwicklung des untersuchten Geräts: „Friedhelm Beyersdorf hat nichts dagegen, wenn man ihn als den Vater von,Carl´ bezeichnet. (…) Unter seiner Leitung wurde jahre- und jahrzehntelang geforscht und entwickelt, (…).“ Später heißt es: „Geräte zu entwickeln, zu bauen und zu verkaufen gehört ja nicht zu den Aufgaben eines Universitätsklinikums. Weshalb Beyersdorf für ,Carl´ die Start-up-Firma Resuscitec aus dem Klinikum heraus gegründet hat.“ Dieser offensichtliche Interessenkonflikt wird nicht weiter hinterfragt. Dabei wäre es hier notwendig gewesen, die befangene Rolle des Experten zu klären, zumal noch weitere Studienautor*innen als Anteilseigner, Berater oder Angestellte von „Resuscitec“ Interessenkonflikte haben, über die der Artikel nicht informiert, so auch die im Text genannten Klinikmitarbeiter Trummer und Benk. Rätselhaft bleiben die Kürzel C.S. und S.J.B., für die im Fachbeitrag Interessenkonflikte angegeben werden, die aber nicht als Autoren aufgeführt sind – hier wäre eine Nachfrage angebracht gewesen.
10. Der Beitrag liefert Informationen zur EINORDNUNG der Thematik in einen Kontext (Neuheit, Ethik).
Im journalistischen Beitrag wird deutlich, was neu an dem Gerät „Carl“ ist. Doch erfahren Leserinnen und Leser weder etwas darüber, wie häufig ein Herzstillstand eintritt, der mit „Carl“ behandelt werden könnte (laut Pressemitteilung etwa 50.000 Fälle pro Jahr in Deutschland), noch darüber, ob es andere, vergleichbare technische Entwicklungen gibt. Daher werten wir insgesamt nur knapp „ERFÜLLT“.
11. Der Beitrag gibt die wesentlichen Daten und Fakten korrekt wieder (FAKTENTREUE).
Nicht nachvollziehbar ist, woher die im Artikel genannte bisherige Überlebensrate von 10 % stammt – im Fachartikel und in der Pressemitteilung sind 6 – 26 % angegeben. Während es in der Pressemitteilung heißt, die Überlebenschancen würden durch „Carl“ verdoppelt, heißt es im journalistischen Beitrag, die Überlebenschancen würden „um ein Vielfaches“ gesteigert – von 10% auf 40 % wäre eine Vervierfachung. Da die Studie nur historische Kontrollen einbezieht, die jeweils unterschiedliche Werte liefern, lässt sich der Vergleich nicht wirklich überprüfen.
Der Wert „10 Prozent“ ist offensichtlich darauf zurückzuführen, dass vielen Patient*innen mit Herzstillstand gar keine Form von Reanimation zuteil wird, was wiederum den möglichen Nutzen dieses neuen Geräts möglicherweise verzerrt darstellt. Schließlich erhöht schon eine normale Herzdruckmassage die Überlebenschancen der Betroffenen um das Zwei- bis Dreifache (siehe auch hier). Daher werten wir insgesamt knapp „NICHT ERFÜLLT“.
12. Der Beitrag geht über eine Pressemitteilung/das Pressematerial hinaus (JOURNALISTISCHE EIGENLEISTUNG).
Über die Pressemitteilung, die zu der Studie herausgegeben wurde, hinaus erklärt der Artikel mit interessanten Details die Funktionsweise des Geräts „Carl“: „Vor allem kann er durch das Beimischen von Substanzen aus kleinen Beuteln mehr als 14 Parameter ändern. Beyersdorf gibt ein Beispiel: Wenn kein frisches Blut mehr die Zellen des Körpers versorgt, kann eine Pumpe in der Zellmembran, die Kalzium aus dem Zellinnern befördert, nicht mehr arbeiten. Deshalb droht das Kalzium sie zu überfluten und die Mitochondrien, die Kraftwerke der Zellen, nachhaltig zu schädigen. ,Also bringen wir den Kalziumgehalt im Blut runter´, sagt Beyersdorf. Auch der Sauerstoffgehalt soll eher niedrig gehalten werden, damit keine schädlichen freien Radikale entstehen.“ Man erfährt, wie tief die Körpertemperatur gesenkt wird: „Das Blut wird von ,Carl´ heruntergekühlt, binnen 20 Minuten auf 32 Grad.“ Zudem gibt es Hintergrundinformationen über die Entwicklung der Technologie: „Geräte zu entwickeln, zu bauen und zu verkaufen gehört ja nicht zu den Aufgaben eines Universitätsklinikums. Weshalb Beyersdorf für ,Carl´ die Start-up-Firma Resuscitec aus dem Klinikum heraus gegründet hat.“ Mit diesen Informationen geht der Beitrag über die Pressemitteilung hinaus.
13. Ein Beitrag vermittelt ein Thema interessant und attraktiv (ATTRAKTIVITÄT DER DARSTELLUNG).
Der Beitrag vermittelt das Thema abwechslungsreich und lebendig. Gleich am Anfang heißt es: „Kürzlich erst, so berichtet es Friedhelm Beyersdorf, sei jemand im Freiburger Münster, der einen Herzstillstand erlitten hatte, vor Ort an ,Carl´ angeschlossen worden. 18 Kilo wiegt das Gerät. Es steckt voller komplexer und komprimierter Technik. Entwickelt wurde es an der Freiburger Universitätsklinik. Eine internationale Studie hat jetzt seine Wirkung belegt.“ Damit ist der Praxisbezug hergestellt, die Technologie charakterisiert, das Geschehen verortet und der Stand der Wissenschaft genannt – ein gelungener Einstieg. Schade ist aber, dass der Fall vom Anfang nicht aufgelöst wird. Man hätte gerne erfahren, ob die Therapie bei diesem Fall erfolgreich war. Aber es gibt interessante Details zur Funktionsweise der Technik: „(…) die Art und Weise, wie ,Carl´ mit seinen zwei Pumpen das Blut wieder abgibt. Mit einem höheren als dem normalen Blutdruck, was vor allem für die Hirnzellen besser ist, aber auch kleine, nach dem Herzstillstand zugeschwollene Adern wieder öffnet.“ Und man erfährt, wie sich so eine medizinische Innovation aus einer Universitätsklinik heraus entwickelt: „Geräte zu entwickeln, zu bauen und zu verkaufen gehört ja nicht zu den Aufgaben eines Universitätsklinikums. Weshalb Beyersdorf für ,Carl´ die Start-up-Firma Resuscitec aus dem Klinikum heraus gegründet hat.“ Diese Elemente machen die Darstellung des Themas gut lesbar.
Nur an mancher Stelle finden sich ungelenke Formulierungen, wie etwa, wenn von „komplexer und komprimierter Technik“ die Rede ist. Darunter kann man sich nichts vorstellen, zumal die Frage ist, ob Technik tatsächlich komprimierbar ist (und nicht eher Daten). Auch verringert die werbliche, gegenüber dem im Text genannten Mediziner fast anbiedernde Sprache das Lesevergnügen ein wenig. Insgesamt werten wir aber noch „ERFÜLLT“.
14. Der Beitrag ist für ein Laienpublikum verständlich (VERSTÄNDLICHKEIT).
Obwohl der Beitrag teilweise stark ins Detail geht, ist er gut nachvollziehbar. Nur bei der Nennung der dem Abkürzungsnamen ,Carl´ zugrundeliegenden englischen Bezeichnung der neuen Technik („In ,Carl´ – der Abkürzungsname steht etwas gewollt für Controlled Automated Reperfusion of the whole Body – (…)“) wäre eine Übersetzung ins Deutsche hilfreich gewesen.
Schwer nachvollziehbar ist allerdings die Textpassage, in der es um defekte Kalzium-Transportpumpen in der Zellmembran geht. Insgesamt ist der Artikel aber auch für ein Laienpublikum verständlich geschrieben.
15. Das THEMA ist aktuell, relevant oder ungewöhnlich. (THEMENAUSWAHL).
Eine medizinische Innovation, die das Überleben bei einem Herzstillstand womöglich erhöht, ist von großem Interesse. Vor kurzem wurden die Ergebnisse zur Wirksamkeit der neuen Technologie publiziert. Der Bericht anlässlich dieser Publikation ist aktuell und relevant, und die Themensetzung damit gelungen.