Bewertet am 21. Dezember 2023
Veröffentlicht von: Berliner Morgenpost (online)
Wie lange die Wirkung der „Abnehmspritze“ Tirzepatid nach Absetzen der Therapie noch anhält, hat eine aktuelle Studie untersucht. Dies hat ein Artikel der Berliner Morgenpost (online) zum Anlass genommen, um über den Wirkstoff zu berichten. Dass es zu einem Jojo-Effekt kommt, wird im Text erklärt, und dass das Medikament offensichtlich dauerhaft eingenommen werden muss, um eine langfristige Gewichtsabnahme zu erreichen. Der Beitrag beschreibt die Studienergebnisse noch ausreichend gut; er bezieht zwei unabhängige Expertinnen ein, um den Nutzen der Therapie kritisch einzuordnen. Allerdings erfahren die Leserinnen und Leser nicht, dass der Hersteller von Tirzepatid die Studie finanziert hat.

Zusammenfassung

Ein journalistischer Beitrag der Berliner Morgenpost (online) berichtet über eine aktuelle Studie zur „Abnehmspritze“ Tirzepatid. Der Artikel beschreibt die Ergebnisse zum Nutzen der Therapie ausreichend genau, Risiken und Nebenwirkungen werden hingegen zu kurz behandelt. Ob das Medikament bereits in Deutschland verfügbar ist, wird nicht deutlich. Und auch nicht, wer die Kosten für das Präparat übernimmt. Der Text vergleicht Tirzepatid mit dem Konkurrenzprodukt Semaglutid (Wegovy) und auch mit der Adipositas-Chirurgie. Der Text geht über die englischsprachige Pressemitteilung hinaus und zitiert zwei deutsche Expert*innen mit einordnenden Kommentaren. Es fällt jedoch auf, dass bestehende Interessenkonflikte nicht angesprochen werden: Leserinnen und Leser erfahren nicht, dass die Studie vom Pharmaunternehmen Eli Lilly, dem Hersteller des Wirkstoffs, finanziert wurde, und auch nicht, dass die Studienautor*innen entweder finanzielle Zuwendungen vom Unternehmen erhielten oder sogar Angestellte von Eli Lilly sind. Doch ist der Text weitgehend verständlich geschrieben, auch wenn sich kleine sprachliche Mängel finden.

Title

Die Kriterien

1. Die POSITIVEN EFFEKTE sind ausreichend und verständlich dargestellt (NUTZEN).

Der journalistische Beitrag beschreibt den Nutzen des Wirkstoffs Tirzepatid etwas unstrukturiert, aber doch konkret: „Nach den ersten 36 Behandlungswochen hatten die Studienteilnehmenden laut den Forschenden ihr Gewicht im Schnitt um gut 20 Prozent reduziert. Wer den Wirkstoff bis zum Untersuchungsende nach 88 Wochen weiter bekam, reduzierte sein Gewicht im Schnitt um weitere 5,5 Prozent.“ Vor allem wird deutlich, dass das Absetzen des Mittels zu einer Abnahme des Nutzens führt: „Die Teilnehmenden der Studie nahmen nach der Umstellung im Laufe der folgenden 52 Wochen wieder zu.“ Und weiter: „Die Placebogruppe legte dagegen wieder deutlich zu.“ Allerdings werden im Beitrag keine absoluten Zahlen genannt, also wie viele Kilogramm die jeweiligen Probanden tatsächlich ab- oder zugenommen hatten. Auch geht der Artikel nicht auf andere gesundheitliche Parameter ein, den Insulin- oder den Blutzuckerspiegel, den Blutdruck und die Blutfette. Daher werten wir insgesamt nur knapp „ERFÜLLT“.

2. Die RISIKEN & NEBENWIRKUNGEN werden angemessen berücksichtigt.

Risiken und Nebenwirkungen der Behandlung nennt der Beitrag nicht, obwohl der Studie zufolge vier Fünftel der Probanden daran litten: „A total of 81.0% of participants reported at least 1 treatment-emergent adverse event during the tirzepatide lead-in treatment period, with the most frequent events being gastrointestinal (nausea [35.5%], diarrhea, [21.1%], constipation [20.7%], and vomiting [16.3%].“ (etwa: Insgesamt berichteten 81,0 % der Teilnehmer über mindestens eine behandlungsbedingte Nebenwirkung während der Tirzepatid-Einführungsphase, wobei die häufigsten Nebenwirkungen den Magen-Darm-Trakt betrafen (Übelkeit [35,5 %], Durchfall [21,1 %], Verstopfung [20,7 %] und Erbrechen [16,3 %].)). Das Auftreten von Gallensteinen gehörte zu den selteneren Nebenwirkungen. Die negativen Effekte waren auch ein Grund dafür, dass einige Patientinnen und Patienten die Studie vorzeitig beendeten. Zwar heißt es im zweiten Absatz des journalistischen Beitrags kurz: „Auch Nebenwirkungen wie etwa Kopfschmerzen, Übelkeit oder Verstopfung gilt es zu bedenken.“ Doch hier bezieht sich der Text eher auf das in diesem Absatz genannte Semaglutid. Dass Langzeitrisiken gerade bei einer dauerhaften Einnahme ein wichtiger Aspekt sind, wird nicht thematisiert. Daher werten wir insgesamt „NICHT ERFÜLLT“.

3. Es wird klar, ob eine Therapie/ein Produkt/ein Test VERFÜGBAR ist.

Im Text heißt es: „In den USA ist für diesen Zweck bereits ein weiteres Abnehmmittel namens Mounjaro zugelassen – mit dem Wirkstoff Tirzepatid.“ Zur Zulassung in der EU oder in Deutschland findet sich dagegen keine klare Information. Zwar wird erklärt, dass Tirzepatid zur Behandlung von Diabetes zugelassen ist, aber nicht, in welchen Ländern. Auch fehlt die wichtige Information, dass die europäische Arzneimittelzulassungsbehörde EMA im November 2023 den Einsatz von Tirzepatid zur Gewichtskontrolle bei adipösen Erwachsenen empfohlen hat (siehe hier). Ob das Medikamente hierzulande für die Behandlung von Adipositas zur Verfügung steht, erfahren Leserinnen und Leser also leider nicht. Wir werten daher knapp „NICHT ERFÜLLT“.

4. Es werden ALTERNATIVE Behandlungsarten/Produkte/Tests vorgestellt.

Der Text macht deutlich, dass es neben dem getesteten Medikament noch ein weiteres Präparat gibt, mit dem es verglichen wird. Wie erfolgreich Menschen mit Hilfe nichtmedikamentöser Interventionen an Gewicht abnehmen können, erklärt der Beitrag jedoch nicht. Immerhin vergleicht der Text aber die Effekte mit jenen der Adipositas-Chirurgie: „Damit kommen wir bei der medikamentösen Gewichtsabnahme in Dimensionen, die wir aus der Adipositaschirurgie kennen. Somit haben wir jetzt und vor allem in der Zukunft mehr Möglichkeiten, die Adipositas individuell und patientenorientiert zu behandeln.“

5. Die KOSTEN werden im journalistischen Beitrag in angemessener Weise berücksichtigt.

Die Kosten des Medikaments erwähnt der Beitrag nicht; auch spricht er nicht an, ob die Krankenkassen die Kosten von Tirzepatid für die Behandlung von Adipositas übernehmen würden (siehe dazu auch die Kritik am Off-Label-Einsatz von Semaglutid zur Behandlung der Adipositas). Gerade weil krankhaft Übergewichtige das Medikament offensichtlich langfristig bekommen müssen, wäre es interessant gewesen, etwas über die Kosten der Therapie zu erfahren.

6. Es sind keine Anzeichen von Krankheitserfindungen/-übertreibungen zu finden (DISEASE MONGERING).

Die gesundheitlichen Folgen von starkem Übergewicht werden nicht näher beschrieben, also auch nicht übertrieben dargestellt. Etwas hoch erscheint allerdings die Angabe, jeder vierte Erwachsene in Deutschland sei adipös. Laut Robert-Koch-Institut  ist es mit 19 Prozent knapp jeder fünfte.

7. Der journalistische Beitrag ordnet die QUALITÄT der Belege/der Evidenz ein.

Wesentliche Angaben zur Studienqualität sind genannt: die Zahl der Teilnehmenden, die Studiendauer und der Vergleich von Wirkstoff und Placebo. Interessant wäre noch die Information gewesen, dass die ersten 36 Wochen als open label Studie durchgeführt wurden, der zweite Studienabschnitt, in dem ein Teil der Teilnehmenden Placebo erhielt, dagegen verblindet war. Schade ist allerdings, dass die Qualität der Studie nicht eingeordnet wird. Zumal es sich hier um eine gut gemachte, aussagekräftige Untersuchung handelt: Sie hat nicht nur eine Kontrollgruppe und ein Placebo (Scheinmedikament) vorzuweisen. Die Probanden wurden auch zufällig auf die beiden Studiengruppen verteilt, ein Teil der Studie auch doppelt verblindet – weder die Forschenden noch die Probanden wussten also, wer das Medikament und wer das Placebo erhielt.  Da somit die Leserinnen und Leser nicht erfahren, welche Aussagekraft die beschriebene Studie hat, werten wir knapp „NICHT ERFÜLLT“.

8. Es werden UNABHÄNGIGE EXPERTEN oder QUELLEN genannt.

Der Beitrag bezieht zwei Fachleute ein, die nicht an der Studie beteiligt waren: Isabelle Mack, Bereichsleiterin Ernährung und Gewichtsregulation in Klinik und Forschung am Universitätsklinikum Tübingen, und Stephan Martin, Chefarzt für Diabetologie und Direktor des Westdeutschen Diabetes- und Gesundheitszentrums in Düsseldorf.  Beide ordnen die Studienergebnisse gut verständlich und zum Teil auch kritisch ein. Weitere Studien seien notwendig, um den Langzeitnutzen und potenzielle Risiken einzuschätzen. Beide Zitate stammen aus einer Aussendung des Science Media Centers in Köln.

9. Es werden, falls vorhanden, INTERESSENKONFLIKTE im Beitrag thematisiert.

Die Studie wurde vom Hersteller Eli Lilly finanziert und (mit)konzipiert, wie aus dem JAMA-Paper hervorgeht.  Fünf der Studienautor*innen sind Beschäftigte und Aktionäre von Eli Lilly, alle übrigen haben Zuwendungen von dem Pharmaunternehmen erhalten. Der Hauptautor Louis Aronne ist als bezahlter Berater für Eli Lilly tätig.  Zudem gibt einer der zitierten Experten, Stephan Martin, in der Aussendung des Science Media Centers ebenfalls Interessenkonflikte an.  Der Beitrag versäumt es, diese Zusammenhänge zu erwähnen. Daher werten wir „NICHT ERFÜLLT“.

10. Der Beitrag liefert Informationen zur EINORDNUNG der Thematik in einen Kontext (Neuheit, Ethik).

Der Beitrag liefert knappe Hintergrundinformationen: jeder vierte Erwachsene gelte als adipös (siehe dazu auch Kriterium 6), Tirzepatid wurde bereits in anderen Studien untersucht. Auch ordnen deutsche Expert*innen die Studienergebnisse ein. Die Fachleute machen deutlich, dass die Ergebnisse „alles andere als überraschend“ sind, bei „Studien zu Semaglutid habe es nahezu identische Ergebnisse gegeben. Auch hier war es zu einem Jo-Jo-Effekt gekommen.“ Auch wird erklärt, dass der langfristige Nutzen über die Einnahmedauer hinaus fraglich ist („Über den Untersuchungszeitraum hinaus sei bei der Placebogruppe jedoch davon auszugehen, dass sich das mittlere Gewicht wieder beim Ausgangsniveau einpendeln oder darüber hinaus ansteigen wird‘“). Die Hoffnung, Tirzepatid würde langfristig wirken, habe sich nicht erfüllt, so Stephan Martin.  Gleichwohl schätzt Isabelle Mack das Medikament als nützlich ein.

11. Der Beitrag gibt die wesentlichen Daten und Fakten korrekt wieder (FAKTENTREUE).

Uns sind keine Faktenfehler aufgefallen.

12. Der Beitrag geht über eine Pressemitteilung/das Pressematerial hinaus (JOURNALISTISCHE EIGENLEISTUNG).

Ein großer Teil des fachlichen Inhalts entspricht den Informationen aus der Pressemitteilung. Mit den Stellungnahmen zweier Expert*innen geht der Beitrag jedoch klar darüber hinaus.

13. Ein Beitrag vermittelt ein Thema interessant und attraktiv (ATTRAKTIVITÄT DER DARSTELLUNG).

Sprachlich ist der Artikel in einem angemessen sachlichen Stil geschrieben. Dabei hätte dem Artikel allerdings etwas mehr Abwechslung in der Satzstruktur gutgetan. Auch finden sich an mancher Stelle Wortwiederholungen, die eigentlich unnötig sind, in drei fast aufeinanderfolgenden Sätzen finden sich die Wörter „Teilnehmende, einnehmen, zunehmen, einnehmen, teilnehmen“, für diese hätten sich womöglich Alternativen finden können: „Die Teilnehmenden der Studie nahmen nach der Umstellung im Laufe der folgenden 52 Wochen wieder zu.“ Und weiter: „Bei der sogenannten Kontrollgruppe, also den Probandinnen und Probanden, die das Medikament tatsächlich weiterhin einnahmen, ging das Gewicht weiter zurück. An der Studie nahmen 670 Patientinnen und Patienten in verschiedenen Ländern teil.“ Und hier kommt in zwei aufeinanderfolgenden Sätzen zweimal das Wort „reduziert“ vor: Nach den ersten 36 Behandlungswochen hatten die Studienteilnehmenden laut den Forschenden ihr Gewicht im Schnitt um gut 20 Prozent reduziert. Wer den Wirkstoff bis zum Untersuchungsende nach 88 Wochen weiter bekam, reduzierte sein Gewicht im Schnitt um weitere 5,5 Prozent. Und schließlich hätten aktivere Formulierungen dabei geholfen, den Lesefluss zu verbessern: Statt „gab es einen Gewichtsverlust“ oder „dieser betrug am Ende zehn Prozent“ hätte man aktiv über Probanden schreiben können, die an Gewicht abgenommen haben. Auch hier finden sich passive Formulierungen: „Denn GLP-1 ist ein natürlich vorkommendes Hormon, das in speziellen Zellen des Dünndarms produziert wird – vorrangig bei der Nahrungsaufnahme.“ Dabei hätte man stattdessen schreiben können, dass spezielle Zellen das GLP-1 produzieren – und sich so das  Passiv gespart. Zudem wäre statt der Nahrungsaufnahme das schlichte Wort Essen attraktiver und anschaulicher gewesen. Wegen dieser Sprachmängel werten wir insgesamt nur knapp „ERFÜLLT“.

14. Der Beitrag ist für ein Laienpublikum verständlich (VERSTÄNDLICHKEIT).

Die Hauptaussage des Artikels wird deutlich. Die Ergebnisse sind nachvollziehbar erläutert. Fachbegriffe werden weitgehend erklärt („gegen ein Placebo, also ein Scheinmedikament“), wenn auch nicht in jedem Fall wie „GLP-Analoga“ oder „Adipositaschirurgie“. Teilweise verwirrend werden allerdings die Studienergebnisse dargestellt, es ist nicht immer klar, von welcher Probandengruppe die Rede ist.

15. Das THEMA ist aktuell, relevant oder ungewöhnlich. (THEMENAUSWAHL).

Der Artikel berichtet aktuell über ein relevantes Thema, zumal über die neuen „Abnehmspritzen“ seit Monaten immer wieder berichtet wird. Dass die Patienten nach Absetzen der Therapie wieder an Gewicht zunehmen, sie das Medikament also offensichtlich dauerhaft erhalten müssen, stellt eine interessante und wichtige Information dar.

Medizinjournalistische Kriterien: 10 von 15 erfüllt

Abwertung um einen Stern (von 4 auf 3 Sterne), weil wir die Nichterwähnung der Interessenkonflikte als besonders gravierend bewerten.

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Kriterium erfüllt

Kriterium nicht erfüllt

Kriterium nicht anwendbar