Bewertet am 21. September 2023
Veröffentlicht von: Hamburger Abendblatt (online)

Ein Artikel des Hamburger Abendblatts (online) berichtet, dass eine Behandlung mit medizinischem Cannabis bei chronischen neuropathischen Schmerzen hilfreich sein kann – Schmerzen also, die bei Erkrankungen oder Verletzungen der Nerven entstehen. Das ist das Fazit einer retrospektiven Studie mit 99 Patienten und Patientinnen, die Mitte August im Fachblatt Medical Cannabis and Cannabinoids (online) veröffentlicht wurde. Im journalistischen Beitrag werden die Ergebnisse knapp vorgestellt, ohne wesentlich über die Pressemitteilung der Algea Care GmbH hinauszugehen – einem Unternehmen, das eine Plattform für die ärztliche Behandlung mit medizinischem Cannabis anbietet und die Patientendaten zur Verfügung gestellt hat. Manche Formulierungen im Beitrag sind missverständlich, die Ergebnisse der Studie werden nicht eingeordnet und leider kommen auch keine unabhängige Expert*innen zu Wort.

Zusammenfassung

Eine Studie über den Einsatz von medizinischem Cannabis bei chronischen neuropathischen Schmerzen wird zum Anlass genommen, um im Hamburger Abendblatt (online) über diese Behandlungsmöglichkeit zu berichten. Allerdings wird der Nutzen der Therapie im journalistischen Beitrag übertrieben dargestellt, Risiken und Nebenwirkungen werden nur sehr knapp erläutert. Wo und wie medizinisches Cannabis verfügbar ist, bleibt offen, auf alternative Therapien wird nicht eingegangen, ebenso wenig werden die Kosten der Behandlung thematisiert. Eine Einordnung der Studie, in der es keine Kontrollgruppe gibt, erfolgt nicht. Unabhängige Expert*innen werden zum Thema nicht zitiert. Vor allem macht der Artikel aber nicht deutlich, welche Interessenkonflikte hier vorliegen. Die Studie wurde nämlich von einem Unternehmen finanziert, das die Behandlung von medizinischem Cannabis anbietet. Fünf der sieben Studienautor*innen sind Angestellte dieser Firma. Auch deshalb erscheint es zweifelhaft, eine solche Fachpublikation zum Anlass für eine Berichterstattung zu nehmen.

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Die Kriterien

1. Die POSITIVEN EFFEKTE sind ausreichend und verständlich dargestellt (NUTZEN).

Medizinisches Cannabis kann chronische Schmerzen und damit einhergehende Schlafprobleme offensichtlich mindern. Dies wird im Artikel teilweise erklärt: „„Die Behandlung mit medizinischem Cannabis wirkt effektiv gegen bestimmte chronische Schmerzen und begleitende Schlafstörungen. Das ist das Ergebnis einer Studie der Telemedizin-Plattform Algea Care, für die Forschende des Universitätsklinikums Eppendorf (UKE) im Nachhinein anonymisierte Datensätze ausgewertet haben.“ Die Daten dazu stammen allerdings aus einer retrospektiven Beobachtungsstudie mit einer kleinen und sehr heterogenen Stichprobe. Die Altersspanne reichte von 20 bis zu 81 Jahren, weibliche Patientinnen stellten mit 13 Prozent nur eine Minderheit. Fünfzehn Prozent der Patient*innen der Studie berichteten auch nach einem halben Jahr Behandlung mit Cannabis von schweren Schmerzen, hier war die Therapie offensichtlich nicht erfolgreich.

Insgesamt dürfte der Nutzen zu hoch gegriffen sein, da es keine Vergleichsgruppe gab, die ein Placebo bekam. Da der Placeboeffekt insbesondere bei Schmerzen sehr ausgeprägt ist, die Teilnehmer*innen zudem wussten, was sie als Medikament erhielten, dürften die Effekte nicht allein auf das Mittel zurückzuführen sein. Da nur Prozentangaben gemacht werden, bekommen Leser*innen den Eindruck, von allen 99 Patienten hätten immer vollständige Daten vorgelegen, was aber nicht der Fall war. Wie gut medizinisches Cannabis gegen Schlafstörungen hilft, wird gar nicht erklärt. Daher werten wir insgesamt, wenn auch knapp, „NICHT ERFÜLLT“.

2. Die RISIKEN & NEBENWIRKUNGEN werden angemessen berücksichtigt.

Unter der Zwischenüberschrift „Cannabis: kaum Nebenwirkungen – nur Müdigkeit und Appetit“ heißt es im Beitrag dann „Schwere Nebenwirkungen habe es nicht gegeben. Stattdessen hätten Patienten über leichte Nebenwirkungen berichtet – dazu gehörten Trockenheit der Schleimhäute (5,4 %), Müdigkeit (4,8 %) und gesteigerter Appetit (2,7 %)“.

Von schweren Nebenwirkungen dagegen ist nicht die Rede, im Fachartikel heißt es jedoch: „There were single reports of rare adverse events such as dizziness, intoxication, restlessness, and nausea. Also, there were single reports of unusual experiences such as unpleasant smell of the medical cannabis, shortness of memory, stress, strong sedating effects.” (etwa: Es gab einzelne Berichte über seltene unerwünschte Ereignisse wie Schwindel, Rauschzustände, Unruhe und Übelkeit. Außerdem gab es einzelne Berichte über ungewöhnliche Erfahrungen wie unangenehmer Geruch von medizinischem Cannabis, Gedächtnisschwäche, Stress, starke sedierende Wirkung.) Das wäre eine wichtige Zusatzinformation gewesen. Daher werten wir insgesamt, wenn auch knapp, „NICHT ERFÜLLT“.

3. Es wird klar, ob eine Therapie/ein Produkt/ein Test VERFÜGBAR ist.

Wer unter welchen Umständen medizinisches Cannabis bekommt, erklärt der Text nicht. Eine kurze Information darüber, ob es bereits allgemein verfügbar ist, oder ab wann dies der Fall sein soll, wäre hilfreich gewesen.

4. Es werden ALTERNATIVE Behandlungsarten/Produkte/Tests vorgestellt.

Andere Strategien gegen chronische Schmerzen und Schlaflosigkeit oder die Kombination einer Cannabis-Therapie mit zum Beispiel Physio- und Psychotherapien werden nicht erwähnt (s. Kriterium 10). Vor allem wird nicht deutlich, ob es Ansätze gibt, die ähnlich gut wirken.

5. Die KOSTEN werden im journalistischen Beitrag in angemessener Weise berücksichtigt.

Auf die Kosten für medizinisches Cannabis geht der Artikel nicht ein, auch nicht darauf, unter welchen Umständen die Kosten durch die Krankenkassen übernommen werden.

6. Es sind keine Anzeichen von Krankheitserfindungen/-übertreibungen zu finden (DISEASE MONGERING).

Neuropathische Schmerzen oder Schlafstörungen werden nicht übertrieben dargestellt.

7. Der journalistische Beitrag ordnet die QUALITÄT der Belege/der Evidenz ein.

Der journalistische Beitrag thematisiert nicht, dass es sich bei der Studie um eine kleine, heterogene Stichprobe handelt. Auch wie die Schmerzwerte erhoben worden sind, wird nicht erklärt.  Der Text macht zwar ein paar Angaben zur Studie, etwa zur Teilnehmerzahl oder zum Alter der Probanden. Darüber hinaus erfährt man nur, dass die Daten „retrospektiv“ ausgewertet wurden, ohne, dass erklärt wird, was das genau bedeutet. Im Artikel gibt es keinerlei Einordnung der Aussagekraft der Studie. Das allerdings wäre sehr relevant gewesen, da es sich um eine Studie ohne Kontrollgruppe handelt, ohne Verblindung oder Randomisierung. All dies schränkt die Aussagekraft der Untersuchung enorm ein.

8. Es werden UNABHÄNGIGE EXPERTEN oder QUELLEN genannt.

Wissenschaftler*innen, die nicht an der Studie beteiligt waren, kommen nicht zu Wort. Das wäre hier besonders wichtig gewesen, siehe Kriterium 9.

9. Es werden, falls vorhanden, INTERESSENKONFLIKTE im Beitrag thematisiert.

Alle Datensätze stammen von der Algea Care GmbH, deren Geschäftsmodell die Behandlung mit medizinischem Cannabis ist, fünf der sieben Studienautor*innen sind bei der Algea Care GmbH angestellt. Diese Interessenkonflikte werden mit keinem Wort erwähnt. Es wird stattdessen nur erwähnt, dass es sich um „das Ergebnis einer Studie der Telemedizin-Plattform Algea Care“ handelt. Es wird allerdings nicht erklärt, was diese Plattform genau tut.

10. Der Beitrag liefert Informationen zur EINORDNUNG der Thematik in einen Kontext (Neuheit, Ethik).

Die aktuellen Forschungen und Debatten zu Cannabis in der Schmerztherapie werden nicht erwähnt. So lautet etwa das Fazit der Deutschen Schmerzgesellschaft momentan: „Cannabis ist kein Wundermittel. In der Schmerztherapie kann es derzeit nur bei Patienten mit nicht anders behandelbaren schwersten chronischen Nervenschmerzen eingesetzt werden. Sie sollten nicht als einzige Maßnahme gesehen werden, sondern nur in Kombination mit physiotherapeutischen und psychotherapeutischen Verfahren. Eine langfristige Therapie ist nur bei einer anhaltenden positiven Wirkung sinnvoll. Allerdings gibt es noch keine ausreichenden Erfahrungen zu Erfolg und Sicherheit in der Langzeitbehandlung.“

Der journalistische Artikel dagegen präsentiert nur die Ergebnisse der Untersuchung. Wie die Situation derzeit um medizinisches Cannabis bestellt ist, und ob die Ergebnisse die ersten ihrer Art für diese Indikationen sind, bleibt völlig offen. Daher werten wir insgesamt „NICHT ERFÜLLT“.

11. Der Beitrag gibt die wesentlichen Daten und Fakten korrekt wieder (FAKTENTREUE).

Uns sind keine Fehler aufgefallen (siehe aber Kriterium 14).

12. Der Beitrag geht über eine Pressemitteilung/das Pressematerial hinaus (JOURNALISTISCHE EIGENLEISTUNG).

Viele Formulierungen stammen direkt aus der Pressemitteilung der Algea Care GmbH. Lediglich die Passage zu den leichten Nebenwirkungen stammt nicht direkt aus der Pressemitteilung. Wir werten insgesamt „NICHT ERFÜLLT“.

13. Ein Beitrag vermittelt ein Thema interessant und attraktiv (ATTRAKTIVITÄT DER DARSTELLUNG).

Der kurze Text ist eher nachrichtlich gehalten, an manchen Stellen ist er etwas verwirrend (s. Kriterium 14), bauscht das Thema aber auch nicht unangemessen auf. Daher werten wir insgesamt nur knapp „ERFÜLLT“.

14. Der Beitrag ist für ein Laienpublikum verständlich (VERSTÄNDLICHKEIT).

Was ist ein „mittlerer Schmerzwert“ – und wie wird er bestimmt? Was sind „chronisch neuropathische Schmerzen – also von den Nerven ausgehenden Schmerzen“? Nerven sind an jeder Schmerzwahrnehmung beteiligt. Dabei werden neuropathische Schmerzen im Fachartikel gut erklärt („Neuropathic pain has its origin in lesions or diseases affecting the central or peripheral nervous system The primary cause of peripheral neuropathic pain is the response to damage or irritation of the nerves…”). Es sind also Schmerzen, die ihren Ursprung in Krankheiten oder Verletzungen des Nervensystems haben.

Zudem passen manche Aussagen im Artikel nicht recht zusammen, etwa hier: „Demnach stellt sich medizinisches Cannabis als wirksam bei der Behandlung neuropathischer Schmerzen und begleitender Schlafstörungen heraus: Bei 91 Prozent der Befragten wurde eine gute Verträglichkeit der Therapie festgestellt (…)“. Wirksamkeit und Verträglichkeit werden hier nicht unterschieden, was manche Leser*innen verwirren dürfte.

Oder: „Die Therapie schlage schnell an: Bereits nach wenigen Wochen erfuhren die Patientinnen und Patienten eine deutliche, anhaltende Schmerzlinderung“. Sind wenige Wochen schnell? Die „sechs Wochen“ beziehen sich wohl darauf, dass die ersten Follow-up-Untersuchungen innerhalb von sechs Wochen nach Therapiebeginn stattgefunden haben. Schließlich wird auch nicht deutlich, warum eine Telemedizinfirma eine Studie zu einer Cannabistherapie durchführt. Zudem hebt der Text im Teaser hervor, dass die Uniklinik an der Untersuchung beteiligt ist. Das ist für die Leser*innen missverständlich, weil nicht deutlich gemacht wird, dass die meisten der Autoren Mitarbeiter der Algae Care sind, die Firma die Studie finanziert hat. Daher werten wir insgesamt „NICHT ERFÜLLT“.

15. Das THEMA ist aktuell, relevant oder ungewöhnlich (THEMENAUSWAHL).

Zwar ist das Thema Cannabis in der Medizin aktuell und relevant. Doch ist die Aussagekraft der hier besprochenen Studie so gering, dass eine Berichterstattung nicht gerechtfertigt erscheint.

Medizinjournalistische Kriterien: 3 von 15 erfüllt

Abwertung um einen Stern (von 1 auf 0 Sterne), da wesentliche Kriterien wie Nutzen, Risiken und Einordnung nicht erfüllt sind.

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Kriterium erfüllt

Kriterium nicht erfüllt

Kriterium nicht anwendbar