Bewertet am 3. April 2023
Veröffentlicht von: Rheinische Post

Ein Artikel in der Rheinischen Post berichtet über eine wissenschaftliche Publikation, die den Einzelfall einer experimentellen Heilung einer HIV-Infektion dokumentiert. Dabei stellt er den Nutzen des Verfahrens angemessen dar und erwähnt, dass es ein die Anwendung stark limitierendes Risiko gibt, ohne dieses allerdings zu erläutern. Dass die Therapie rein wissenschaftlich und nicht allgemein verfügbar ist, wird deutlich, ebenso wie die therapeutische Alternative. Die Kosten werden nicht thematisiert, und es kommen keine unabhängigen Experten zu Wort. Leider mangelt es dem Artikel an journalistischer Eigenleistung, der Text ist über weite Strecken einer Pressemeldung entnommen. Dabei ist er aber schlüssig aufgebaut, interessant und im Großen und Ganzen gut verständlich.

Zusammenfassung

In einem journalistischen Beitrag der Rheinischen Post geht es um den Fall des „Düsseldorfer Patienten“, einen HIV-Patienten, der nach einer experimentellen Behandlung als geheilt gilt. Im Text wird erklärt, dass er auch unter Blutkrebs litt und daher eine Knochenmarkstransplantation erhielt. Dabei erhielt er Stammzellen mit der mutierten Form eines Gens, das den Patienten gegen HIV immun machte.

Der Artikel stellt schön dar, warum die Ärzte von Heilung sprechen, und erklärt gleichzeitig, dass es zumindest theoretisch noch Restzweifel geben kann. Risiken und Nebenwirkungen der Therapie werden jedoch zu wenig erläutert. Es wird deutlich, dass dies keine Therapie für „normale“ HIV-Infektionen ist, sondern ein sehr besonderer Einzelfall. Zugleich erklärt der Text, wie die Standard-Therapie derzeit aussieht. Allerdings wurden zu viele Textstellen wörtlich aus der Pressemitteilung der Universitätsklinik Düsseldorf übernommen oder nur leicht verändert. Auch gibt es keine Einordung durch unbeteiligte Forschende. Der Kostenaspekt wird nicht thematisiert. Durch das Umschreiben und Ergänzen des Pressemitteilungstextes erscheint der Artikel stilistisch nicht einheitlich. Somit ist der Artikel für Leserinnen und Leser wenig attraktiv, auch wenn der Text durchaus verständlich ist und zeitnah berichtet wird.

Title

Die Kriterien

1. Die POSITIVEN EFFEKTE sind ausreichend und verständlich dargestellt (NUTZEN).

Der Artikel macht deutlich, welchen Nutzen die Therapie beim „Düsseldorfer Patienten“ gebracht hat. Gleich in einem Header heißt es: „Das Universitätsklinikum Düsseldorf meldet jetzt einen der seltenen Siege über das Virus, das die Aids-Krankheit auslöst.“ Später erfolgt die genauere Erklärung: „… ist der weltweit nunmehr dritte Patient, der durch eine Stammzelltransplantation vom HI-Virus vollständig geheilt werden konnte.“ Dass es sich also um ein extrem selten angewandtes Verfahren handelt, wird deutlich. Und dass es problematisch ist, bei diesem Therapierfolg von Heilung zu sprechen, thematisiert der Artikel auch: „Die Autoren beschreiben in der Publikation, welche zusätzlichen Indizien zum Ausschluss einer noch aktiven HIV-Infektion sie geprüft haben, um heute von Heilung nach Stammzelltransplantation ausgehen zu können.“ Und zum Schluss heißt es: „Nun hängt ein schweres Wort im Raum: Heilung. Man kennt das aus der Krebstherapie, dass ein Patient angeblich über den Berg ist, zum Teil viele Jahre – und dann trotzdem das gefürchtete Rezidiv bekommt.“ Eine abschließende Einordnung erfolgt über das Zitat eines der Studienautoren. „Gewissheit ist immer schwierig. Es sieht aber jetzt tatsächlich aus wie eine Heilung.“ Indem er auch klar macht, dass das beschriebene Therapieverfahren nur in einzelnen Ausnahmefällen einsetzbar ist („Für jedermann ist eine Stammzelltransplantation naturgemäß nicht geeignet: Aufgrund ihrer Risiken kann sie nur bei der Behandlung anderer lebensbedrohlicher Erkrankungen eingesetzt werden.“), und es bei der Forschung vor allem darum geht, Wissen über die immunologischen Bedingungen einer kompletten Virus-Elimination zu generieren, stellt der Artikel den Nutzen des Therapieansatzes insgesamt umfassend dar.

2. Die RISIKEN & NEBENWIRKUNGEN werden angemessen berücksichtigt

Dass eine Stammzelltransplantation ein risikobehaftetes Therapieverfahren ist, das nur bei strengster Indikationsstellung zum Einsatz kommt, macht der Artikel an einer Stelle knapp deutlich: „Für jedermann ist eine Stammzelltransplantation naturgemäß nicht geeignet: Aufgrund ihrer Risiken kann sie nur bei der Behandlung anderer lebensbedrohlicher Erkrankungen eingesetzt werden.“ Welche Risiken das sind, kommt jedoch nicht zur Sprache. Zum aktuellen Zustand des Patienten wird nur erwähnt, dass er „heute bei guter Gesundheit“ sei.

Auch wird nicht ausreichend deutlich gemacht, dass eine HIV-Infektion kein ausreichender Grund für eine allogene Transplantation ist. Heutzutage lässt sich eine HIV-Infektion gut therapieren und verläuft nicht mehr tödlich, die Transplantation mit fremden Stammzellen aber birgt potenziell lebensgefährliche Risiken. Dieses Missverhältnis zwischen Nutzen und Risiken erklärt, warum bisher erst so wenige Menschen mit einer HIV-Infektion auf diese Weise behandelt wurden. Daher werten wir insgesamt knapp „nicht erfüllt“.

3. Es wird klar, ob eine Therapie/ein Produkt/ein Test VERFÜGBAR ist.

Es wird klar, dass es sich bei der Therapie um Forschung an Einzelfällen handelt: „Die Transplantation erfolgte, wie auch bei den beiden anderen Patienten („Berlin-Patient“ und „London-Patient“), aufgrund einer Blutkrebserkrankung, die sich zusätzlich zur HIV-Infektion entwickelt hatte.“ Weiter wird erläutert: „Für jedermann ist eine Stammzelltransplantation naturgemäß nicht geeignet: Aufgrund ihrer Risiken kann sie nur bei der Behandlung anderer lebensbedrohlicher Erkrankungen eingesetzt werden. Daher ist es für die Forschung vordringlich, dass zukünftig auch Patienten ohne diesen Eingriff eine HIV-Infektion überwinden können.“ Daraus wird deutlich, dass es sich um eine sehr seltene Indikation handelt und diese Therapie nicht allgemein verfügbar ist.

4. Es werden ALTERNATIVE Behandlungsarten/Produkte/Tests vorgestellt.

Die etablierte und hochwirksame Therapie bei einer HIV-Infektion ist die antiretrovirale Medikation. Das berichtet der Artikel: „Seit es aber spezielle Medikamente gibt, lässt sich die Virusvermehrung im Körper verhindern und im besten Fall unter die Nachweisgrenze drücken. Die Patienten überleben, müssen diese Medikamente aber lebenslang einnehmen.“ Dass Wissenschaftler daran forschen, ein heilendes Therapieverfahren zu entwickeln, wird somit plausibel. Allerdings erklärt der Artikel nicht, dass es weitere wissenschaftliche Bestrebungen gibt, die HIV-Infektion auszumerzen. Wir werten daher insgesamt knapp „erfüllt“.

5. Die KOSTEN werden im journalistischen Beitrag in angemessener Weise berücksichtigt.

Auf die Kosten der Behandlung geht der journalistische Beitrag nicht ein. Allerdings wird deutlich, dass die Stammzelltransplantation in erster Linie gegen eine ansonsten tödlich verlaufende bösartige Erkrankung eingesetzt wurde, und quasi nebenbei auch die HIV-Infektion geheilt hat. Das relativiert den Kostenaspekt. Auch wird klar, dass es sich um Forschung handelt, deren Finanzierung nicht mit der eines regulären Einsatzes zu vergleichen ist. Wir werten deshalb nur knapp „nicht erfüllt“.

6. Es sind keine Anzeichen von Krankheitserfindungen/-übertreibungen zu finden (DISEASE MONGERING).

Krankheitsübertreibung findet nicht statt. Die HIV-Infektion wird adäquat dargestellt als eine in der Regel erfolgreich behandelbare, wenn auch dauerhaft behandlungsbedürftige Erkrankung. Allerdings wird HIV/Aids im Text kaum erklärt.

7. Der journalistische Beitrag ordnet die QUALITÄT der Belege/der Evidenz ein.

Bei der dem Artikel zugrundeliegenden Publikation handelt es sich nicht um eine Auswertung an vielen Probanden, sondern um die Beschreibung eines Einzelfalls (siehe auch hier). Wie die Wissenschaftler durch gründliche Analysen zu ihrem Wirksamkeitsnachweis gelangt sind, wird erklärt: „Dass das Virus tatsächlich nicht zurückgekehrt ist, ist Ergebnis sorgfältigster wissenschaftlicher und therapeutischer Vorbereitung und Überwachung. Das ist die bisher längste und genaueste diagnostische Begleitung eines Patienten mit HIV nach Stammzelltransplantation überhaupt.“ Zwar geht der Beitrag nicht im Detail darauf ein, an welchen Kriterien die Forscher ihre Annahme festmachen, dass der Patient geheilt sei, aber die nach wie vor vorhandene Unsicherheit wird am Ende in einem Zitat kenntlich gemacht: „Nun hängt ein schweres Wort im Raum: Heilung. Man kennt das aus der Krebstherapie, dass ein Patient angeblich über den Berg ist, zum Teil viele Jahre – und dann trotzdem das gefürchtete Rezidiv bekommt. Auch Virologe Jörg Timm war lange skeptisch, jetzt sagt er: ,Gewissheit ist immer schwierig. Es sieht aber jetzt tatsächlich aus wie eine Heilung. Ein wichtiges Zeichen ist, dass in dem Patienten die Immunantworten gegen HIV wieder verschwunden sind. Das war überaus erfreulich, da das eigentlich nur passiert, wenn das Virus nicht mehr im Körper ist.´“

8. Es werden UNABHÄNGIGE EXPERTEN oder QUELLEN genannt.

Es kommen ausschließlich Autoren der Fachpublikation zu Wort, über die der Artikel berichtet. Zwar handelt es sich um die deskriptive Darstellung eines plausibel erscheinenden Therapieansatzes, und der Artikel zeigt ein zurückhaltendes Vorgehen der Wissenschaftler auf. Dennoch wäre es angemessen gewesen, den Ansatz von unabhängiger Expertenseite kommentieren zu lassen oder externe Quellen zu nennen. Daher werten wir „nicht erfüllt“.

9. Es werden, falls vorhanden, INTERESSENKONFLIKTE im Beitrag thematisiert.

Einige der Autoren haben Honorare von Pharmaunternehmen erhalten, wie aus der Fachpublikation hervorgeht. Diese standen aber in keinem Zusammenhang mit dieser Fallstudie. Dementsprechend sind Interessenkonflikte nicht zu erwarten und es ist angemessen, diesen Aspekt nicht zu erwähnen.

10. Der Beitrag liefert Informationen zur EINORDNUNG der Thematik in einen Kontext (Neuheit, Ethik).

Der Beitrag berichtet, dass international daran geforscht wird, die HIV-Infektion mittels einer Stammzelltransplantation auszumerzen, und so eine Heilung zu erreichen anstatt einer lebenslangen medikamentösen Therapie. Da aber die Indikation für eine solche Stammzelltransplantation nur besteht, wenn zusätzlich eine lebensbedrohliche Erkrankung besteht, gibt es bisher nur drei dokumentierte Fälle.

Zugleich wird deutlich, was das Neue an diesem Fall ist: „Das ist die bisher längste und genaueste diagnostische Begleitung eines Patienten mit HIV nach Stammzelltransplantation überhaupt.“

11. Der Beitrag gibt die wesentlichen Daten und Fakten korrekt wieder (FAKTENTREUE).

Offensichtliche Faktenfehler sind uns im Rahmen der Möglichkeiten dieses Gutachtens nicht aufgefallen. Allerdings heißt es auch in diesem Artikel, dass es sich um den dritten Fall einer Heilung handelt. In einem Artikel im Zeit Magazin ist dagegen von weltweit fünf Fällen die Rede: „Auf die Weise, wie Marc Franke geheilt wurde, sind fünf Menschen auf der Welt geheilt worden. Sie alle hatten eine bösartige Erkrankung der Blutbildung beziehungsweise des Immunsystems, brauchten deshalb eine Stammzellspende und bekamen diese Zellen von einem Spender mit der besagten Genmutation.“ (siehe auch hier). Da jedoch nicht deutlich wird auf welche Quelle und welche Fälle genau sich dies bezieht (und ob sie vergleichbar sind), beziehen wir dies in der Beurteilung des Kriteriums hier nicht ein. In einem Nature-News-Artikel wird von “at least the third person” geschrieben und ein potenzieller vierter Fall angesprochen: “And, in 2022, scientists announced that they thought a New York patient who had remained HIV-free for 14 months might also be cured, although researchers cautioned that it was too early to be certain.”

12. Der Beitrag geht über eine Pressemitteilung/das Pressematerial hinaus (JOURNALISTISCHE EIGENLEISTUNG).

Auch wenn es Abschnitte gibt, die nicht der Pressemitteilung entnommen sind, gibt es weite Strecken im Artikel, die wörtlich aus der Pressemitteilung der Universitätsklinik Düsseldorf übernommen sind. Lediglich zwei ausführliche Zitate des Patienten scheinen nicht dem Pressematerial entnommen zu sein. Überraschend ist, dass das Medium schreibt, dass der Patient anonym bleiben wolle, vier Wochen später aber ein großes Portrait des „Düsseldorfer Patienten“ im ZEIT-Magazin erscheint: „Bislang hat er aus seiner Infektion ein Geheimnis gemacht. Jahrelang verwandelte sie sein Leben in ein Versteckspiel. Nun soll damit Schluss sein. Am Mittag dieses Mittwochs im März, einige Stunden bevor es zum Tai-Chi geht, öffnet Marc Franke die Tür zu seinem Haus, aber nur einen Spalt breit, damit die Hündin nicht nach draußen rennt. Er sei ein wenig aufgeregt, sagt er zur Begrüßung. Aber er möchte seine Geschichte jetzt öffentlich machen. Um etwas gegen die Stigmatisierung von HIV-Infizierten zu tun.“

13. Ein Beitrag vermittelt ein Thema interessant und attraktiv (ATTRAKTIVITÄT DER DARSTELLUNG).

Der Beitrag referiert den Fall der Heilung einer HIV-Infektion detail- und abwechslungsreich. Allerdings erschließt sich der Sinn eines einleitenden Absatzes darüber nicht, dass Nobelpreise oft für lange zurück liegende Arbeiten verliehen und vergessen werden. („Medizin ist eine leise Disziplin. Selbst Nobelpreisträger werden meistens für Dinge geehrt, deren Erforschung meistens schon Jahre zurückliegen und dem breiten Publikum gar nicht präsent sind.“) Das steht in keinem Zusammenhang mit dem darauf folgenden Text. Ein attraktives Element ist ein Kasten, in dem der Patient, um dessen Fall es geht, seine Sicht der Dinge darstellt. Und gut gelungen erscheint uns, dass die Vorsicht der Forscher bei der Publikation ihrer Ergebnisse, das lange Abwarten und die sehr ausführlichen Analysen, gut nachvollziehbar dargestellt sind. Insgesamt wird der Text der Einzigartigkeit des berichteten Falls gerecht. An manchen Stellen allerdings wechselt der Stil des Textes vom erzählenden zum nüchternen, was den Lesegenuss etwas schmälert. Insgesamt werten wir aber noch knapp „erfüllt“.

14. Der Beitrag ist für ein Laienpublikum verständlich (VERSTÄNDLICHKEIT).

Das sehr wissenschaftliche Thema ist über weite Strecken für ein Laienpublikum verständlich beschrieben. Der Schreibstil ist populär und der Text insgesamt schlüssig aufgebaut. Fachbegriffe werden weitgehend vermieden oder erklärt: „Bei dem Mann wurde ein halbes Jahr nach Beginn seiner HIV-Therapie am Universitätsklinikum Düsseldorf eine Akute Myeloische Leukämie (AML) diagnostiziert. Das ist eine Form von Blutkrebs, die für den Patienten lebensbedrohlich ist.“ Bei der Erklärung des grundlegenden Prinzips der Therapie, der Übertragung einer schützenden Genmutation, wird es jedoch kompliziert: „Dazu wurden Stammzellen einer Spenderin mit einer genetischen Besonderheit verwendet: der Mutation des CCR5-Gens, die sogenannte CCR5 delta32-Mutation.“ Da aber gleich darauf die Bedeutung dieser Mutation erläutert wird, ist die Verständlichkeit insgesamt gegeben.

15. Das THEMA ist aktuell, relevant oder ungewöhnlich. (THEMENAUSWAHL).

Eine Heilung von HIV/Aids ist nach wie vor eine Seltenheit, damit ist das Thema auf jeden Fall ungewöhnlich. Dass es sich offenbar um eine Klinik aus dem Umkreis der Regionalzeitung handelt („dem sich auch das hiesige Institut für Virologie beigesellte“), macht diesen Fall um so berichtenswerter. Um so bedauerlicher ist es, dass der Text dann zu großen Teilen aus einer Übernahme der Pressemitteilung besteht, die nur leicht umgeschrieben wurden. Positiv ist, dass der Text sehr zeitnah erschien, nämlich am Tag der Veröffentlichung des Fachartikels.

Medizinjournalistische Kriterien: 11 von 15 erfüllt

Abwertung um einen Stern (von 4 auf 3), Begründung: Weite Teile und Informationen wurden von der Pressemitteilung der Uniklinik wörtlich übernommen. Daher wäre eine Einordnung durch unbeteiligte Expert*innen besonders wichtig gewesen. Dies erfolgt jedoch nicht.

Title

Kriterium erfüllt

Kriterium nicht erfüllt

Kriterium nicht anwendbar