Bewertet am 8. März 2023
Veröffentlicht von: Hannoversche Allgemeine Zeitung

Der journalistische Beitrag aus der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung beschreibt die Entwicklung eines möglichen Verhütungsmittels für den Mann. Dafür wird ein Enzym blockiert, das für die Beweglichkeit von Spermien notwendig ist. Im Text wird deutlich, dass dazu bisher nur Versuche an Mäusen unternommen wurden. Ob die Studienergebnisse sich auf den Menschen übertragen lassen, so viel wird auch deutlich, ist also noch nicht erforscht. Allerdings sind die Tierversuche im Artikel so kurz beschrieben, dass deren Aussagekraft nicht ganz klar wird. So fehlen zum Beispiel Angaben zur Anzahl der Mäuse, an denen der Wirkstoff erprobt wurde. Auch erwähnt der Artikel nur eine einzige Studie, zu der die Quellenangabe fehlt; weitere Quellen werden nicht einbezogen. Auch unabhängige Expert*innen kommen im Text leider nicht vor.

Zusammenfassung

Womöglich haben Forschende einen neuen Ansatz für eine Pille für den Mann gefunden, berichtet ein Artikel der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung. Im Verlauf des Textes erfahren die Lesenden, dass der neue Wirkstoff erst an Mäusen getestet wurde: ein Hemmstoff des Enzyms Adenylylzyklase, das für die Beweglichkeit der Spermien wichtig ist. Im Unterschied zu bislang untersuchten hormonellen Verhütungsmitteln für den Mann habe der neue Wirkstoff keine oder kaum Nebenwirkungen, heißt es im Text weiter. Anders als bei den Hormonen setze zudem der Effekt sofort ein: Die Spermien würden unbeweglich. Der Wirkstoff sei innerhalb der ersten zwei Stunden zu hundert Prozent effektiv, nach drei Stunden zu 91 Prozent. Hier erfahren die Lesenden nicht, dass die Forscher nicht nur die Spermienbeweglichkeit untersuchten, sondern auch, wie viele Mäuse der Studie tatsächlich schwanger wurden. Ein Manko des Textes ist zudem, dass er wenig attraktiv geschrieben ist und ohne ein einziges Zitat auskommt. Auch die Interessenkonflikte dreier Studienautoren werden nicht thematisiert: Sie haben zusammen die Firma Sacyl Pharmaceuticals gegründet, mit dem Ziel, ihren neuen Forschungsansatz künftig als Verhütungsmittel für den Mann zu kommerzialisieren. Umso wichtiger wäre die Einordnung der Ergebnisse durch unabhängige Expert*innen gewesen, die im Artikel indes auch nicht vorkommen.

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Die Kriterien

1. Die POSITIVEN EFFEKTE sind ausreichend und verständlich dargestellt (NUTZEN).

Da es sich in der vorgestellten Studie um Tierversuche handelt, kann ein Nutzen für den Menschen – hier die kontrazeptive Wirkung – noch nicht beschrieben werden. Die Ergebnisse der Mäuseversuche werden jedoch erklärt: Nach Verabreichung des Mittels waren männliche Mäuse für mindestens zwei Stunden unfruchtbar.

Allerdings erfahren die Lesenden erst im fünften Absatz, dass die Versuche mit dem Wirkstoff TDI-11861, an Mäusen durchgeführt wurden, nicht am Menschen. Zum Nutzen heißt es dann: „In Tierversuchen mit Mäusen konnte die Substanz TDI-11861 die Bewegungsfähigkeit der Spermien aufheben. 30 Minuten, nachdem männlichen Mäusen das Mittel verabreicht worden war, waren ihre Spermien gelähmt und dadurch unfähig, im Körper weiblicher Mäuse zu deren Eizelle zu gelangen. Zwei Stunden lang lag die Wirkung des Verhütungsmittels bei 100 Prozent, nach drei Stunden lag sie noch bei 91 Prozent.“ Tatsächlich ergab die Studie, dass Spermien nach oraler Gabe bzw. nach Injektion des Wirkstoffs immobil sind. Zusätzlich untersuchte die Studie indes, ob es tatsächlich zu Schwangerschaften kam – das bleibt im journalistischen Beitrag unerwähnt. Bei einer Kontrollgruppe von Mäusen, behandelt mit einer nicht-aktiven Substanz, kam es bis zu zweieinhalb Stunden nach Verabreichung zu 15 Schwangerschaften bei 50 Paarungsversuchen. Bei der mit Wirkstoff behandelten Gruppe zu keiner einzigen Schwangerschaft bei 52 Paarungsversuchen, nach 3,5 Stunden waren es in der Gruppe mit Wirkstoff eine Schwangerschaft bei 45 Paarungsversuchen, die Verhütungswirksamkeit lag dementsprechend nur noch bei 91 Prozent. Anders als die Studie beschreibt der Artikel den Nutzen nur in relativen Zahlen, quantifiziert also nicht ausreichend. Für die Lesenden wird zudem nicht klar, dass die Wirksamkeit nicht ausschließlich aus dem Sekundär-Parameter „Lähmung der Spermien“ geschlossen, sondern zusätzlich die Schwangerschaftsrate untersucht wurde. Der Nutzen wird also nur teilweise beschrieben. Daher werten wir knapp „nicht erfüllt“.

2. Die RISIKEN & NEBENWIRKUNGEN werden angemessen berücksichtigt

Laut Studie wurden in den Mäuseversuchen kaum Nebenwirkungen beobachtet. Nur bei dauerhaftem Fehlen des Enzyms „lösliche Adenylylzyklase“ sei das Risiko für Glaukom und Nierensteine erhöht. Dies wird im Artikel korrekt berichtet.

3. Es wird klar, ob eine Therapie/ein Produkt/ein Test VERFÜGBAR ist.

Der Beitrag macht deutlich, dass der Wirkstoff bislang nur im Tierversuch erprobt wurde, also derzeit noch nicht verfügbar ist. Er müsse zunächst in klinischen Studien geprüft werden: „Ehe die schnelle Verhütungspille für Männer anwendungsreif wird, wird es also in jedem Fall noch dauern.“

4. Es werden ALTERNATIVE Behandlungsarten/Produkte/Tests vorgestellt.

Im Text werden verschiedene andere Ansätze einer Pille für den Mann geschildert. So seien in klinischen Versuchen Testosteronpräparate getestet worden, die die Spermienbildung unterdrücken, jedoch Nebenwirkungen wie Gewichtszunahme, Depressionen, ein erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauferkrankungen hätten. Zudem müssten die Hormone über mehrere Wochen eingenommen werden, bevor sie wirken. Als weitere Alternative zu Hormonen wird – neben TDI-11861 – ein Retinsäureblocker genannt, der sich bei Mäusen als wirksam erwiesen habe. Die zwei wichtigsten Verhütungsmittel für Männer, die zudem seit langem verfügbar sind, werden anders als in der Studie nicht genannt: Kondome und die Sterilisation des Mannes. Da wir dies jedoch als bekannt voraussetzen, werten wir insgesamt „erfüllt“.

5. Die KOSTEN werden im journalistischen Beitrag in angemessener Weise berücksichtigt.

Beim derzeitigen Stand der Entwicklung können keine Angaben zu den Kosten eines möglichen künftigen Verhütungsmittels für Männer erwartet werden. Allerdings wären Informationen zu den Herstellungskosten von TDI-11861 interessant gewesen. Insgesamt werten wir jedoch noch „erfüllt“.

6. Es sind keine Anzeichen von Krankheitserfindungen/-übertreibungen zu finden (DISEASE MONGERING).

Es handelt sich bei dem Verhütungsmittel, dessen Erforschung beschrieben wird, nicht um ein Medikament zur Behandlung von Erkrankungen. Daher werten wir dieses Kriterium als „nicht anwendbar“.

7. Der journalistische Beitrag ordnet die QUALITÄT der Belege/der Evidenz ein.

Der Artikel macht zwar deutlich, dass es sich um Versuche an Mäusen handelt, die Übertragbarkeit der Ergebnisse auf den Menschen erst noch erforscht werden muss. Allerdings sind die Angaben zu den Tierversuchen äußerst kurz gehalten, es wird nicht einmal erwähnt, wie viele Tiere eingesetzt wurden. Daher werten wir nur „knapp erfüllt“.

8. Es werden UNABHÄNGIGE EXPERTEN oder QUELLEN genannt.

Im journalistischen Beitrag wird keine einzige unabhängige Expert*in genannt, was gerade bei neuen Therapieansätzen für die Einordnung der Studie enorm wichtig gewesen wäre.  Der Beitrag stützt sich ausschließlich auf einen einzigen Fachartikel, zu dem die Quellenangabe fehlt, zudem aber zumindest verlinkt wird. Weitere Studien werden nicht angeführt.

9. Es werden, falls vorhanden, INTERESSENKONFLIKTE im Beitrag thematisiert.

Wie die vorgestellten Arbeiten finanziert wurden, erläutert der Beitrag nicht. Laut Pressemitteilung der Cornell University handelt sich um eine Partnerschaft im Rahmen des Tri-Institutional Therapeutics Discovery Institute (TDI), das laut Webseite eng mit Pharmaunternehmen zusammenarbeitet.  Der im Artikel genannte Hauptautor der Studie Lonny Levin ist Gründer des Unternehmens Sacyl Pharmaceuticals, das plant, den Wirkstoff bis zur Anwendung am Menschen weiterzuentwickeln (siehe hier). Auch zwei andere Studienautoren sind an der Firma beteiligt. Diese wirtschaftlichen Zusammenhänge erwähnt der Artikel nicht.

10. Der Beitrag liefert Informationen zur EINORDNUNG der Thematik in einen Kontext (Neuheit, Ethik).

Im Beitrag wird erwähnt, dass schon seit Jahren nach möglichen Verhütungsmitteln für den Mann gesucht wird, bislang ohne Erfolg. Auch wird deutlich, dass es sich bei dem Wirkstoff um einen neuen Ansatz handelt.

Anders als in der Pressemitteilung zur Studie werden allerdings keine Überlegungen angestellt, warum eine „Pille für den Mann“ bislang nicht auf dem Markt ist bzw. eine geringe Akzeptanz befürchtet wird. In der Pressemitteilung heißt es dazu zumindest: “Because men don’t bear the risks associated with carrying a pregnancy, he explained, the field assumes men will have a low tolerance for potential contraceptive side effects.” (Da Männer nicht die Risiken tragen, die mit dem Austragen einer Schwangerschaft verbunden sind, erklärt er, gehe man davon aus, dass Männer eine geringe Toleranz gegenüber möglichen Nebenwirkungen von Verhütungsmitteln haben.) Daher werten wir insgesamt „nicht erfüllt“.

11. Der Beitrag gibt die wesentlichen Daten und Fakten korrekt wieder (FAKTENTREUE).

Faktenfehler sind uns nicht aufgefallen.

12. Der Beitrag geht über eine Pressemitteilung/das Pressematerial hinaus (JOURNALISTISCHE EIGENLEISTUNG).

Der Artikel geht nur wenig über die Pressemitteilung hinaus. Ausführlicher als in der PM werden die Alternativen dargestellt. Wesentliche Informationen aus der PM, etwa zu den beteiligten Personen und der Firmengründung zur Weiterentwicklung und wirtschaftlichen Nutzung, fehlen im Artikel.

Immerhin diskutiert der journalistische Beitrag aber die Frage, ob Spermien Eizellen womöglich noch befruchten können, nachdem sie ihre Beweglichkeit wiedergewonnen haben. Schließlich können Spermien bis zu fünf Tage im weiblichen Körper überleben. Der Text erwähnt auch einen Ansatz mit einem Retinsäureblocker, von dem in der Pressemitteilung nicht die Rede ist. Insgesamt werten wir daher „erfüllt“.

13. Ein Beitrag vermittelt ein Thema interessant und attraktiv (ATTRAKTIVITÄT DER DARSTELLUNG).

Der Beitrag ist sachlich gehalten und meist flüssig geschrieben. Etwas irritierend ist die Schere zwischen Überschrift und Vorspann: In der Überschrift wird gefragt, ob es sich um einen „Durchbruch“ handele, im Vorspann wird ein solcher behauptet („hat (…) einen Durchbruch erzielt“). Nicht recht deutlich wird im Beitrag, welches nun der „Haken“ ist, den der Vorspann ankündigt. Einen falschen Rückbezug gibt es im 4. Absatz: „Lonny Levin arbeitet nun an einer Pille für den Mann, die Spermien nur vorübergehend außer Gefecht setzt. Und zwar unmittelbar nach deren Einnahme, (…).“ Demnach würden die Spermien eingenommen, was wohl kaum gemeint sein dürfte. Auch wird im Artikel leider keine einzige Expertin zitiert, zudem finden sich viele Substantivierungen. Daher werten wir insgesamt knapp „nicht erfüllt“.

14. Der Beitrag ist für ein Laienpublikum verständlich (VERSTÄNDLICHKEIT).

Der Text ist verständlich geschrieben, logisch aufgebaut und verzichtet auf unnötiges Fachvokabular.

15. Das THEMA ist aktuell, relevant oder ungewöhnlich. (THEMENAUSWAHL).

Das Thema ist aktuell, da die dem Text zugrunde liegende Publikation erst kürzlich, im Februar 2023, erschienen ist. Zudem ist das Thema auch relevant, weil ein Verhütungsmittel für den Mann für große Teile der Bevölkerung von Interesse ist.

Medizinjournalistische Kriterien: 9 von 14 erfüllt

Abwertung um einen Stern (von 4 auf 3), da im Artikel kein einziger unabhängiger Experte / Expertin zitiert wird.

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Kriterium erfüllt

Kriterium nicht erfüllt

Kriterium nicht anwendbar