Bewertet am 6. Februar 2023
Veröffentlicht von: Berliner Zeitung

In Laborexperimenten haben Forschende den Wirkstoff Albicidin als mögliches neues Antibiotikum ausgemacht, auch gegen multiresistente Bakterien, berichtet die Berliner Zeitung. Allerdings wurde im journalistischen Beitrag weitgehend der Text einer Pressemitteilung übernommen. Sprachlich und in seinen Erklärungen ist der Artikel leider nur schwer verständlich.

Zusammenfassung

Ein journalistischer Beitrag der Berliner Zeitung berichtet über die Erforschung eines in Laborexperimenten vielversprechenden neuen Antibiotikums, das auch gegen multiresistente Bakterien wirken könnte. Verschiedene Studien zum Wirkstoff Albicidin der vergangenen Jahre werden beschrieben, eine aktuelle Fachpublikation erwähnt. Dabei übernimmt der Artikel allerdings weitgehend den Text einer Pressemeldung, die anlässlich der Publikation der aktuellen wissenschaftlichen Studie veröffentlicht wurde. Unabhängige Expert*innen werden im Artikel nicht zitiert, es ist keine eigene Recherche-Leistung zu erkennen. Leider ist der Beitrag auch für Laien nur schwer verständlich, der Wirkmechanismus des Antibiotikums nur mit fachlichen Vorkenntnissen nachvollziehbar. Schließlich ist auch fraglich, ob eine Fachpublikation zu Laborexperimenten über einen möglichen Wirkstoff als Anlass für einen journalistischen Artikel geeignet ist.

Title

Die Kriterien

1. Die POSITIVEN EFFEKTE sind ausreichend und verständlich dargestellt (NUTZEN).

Positive Effekte werden thematisiert. Insgesamt entsteht jedoch kein Eindruck davon, welche quantitative Wirksamkeit aus den bisherigen Laborexperimenten zu erwarten ist. Was allerdings in einem so frühen Stadium der Forschung auch nicht vorherzusagen ist. „Pflanzengift könnte Tausende Menschen retten.“, heißt es im journalistischen Beitrag. Es sei einer der wichtigsten Kandidaten für ein neues Breitbandantibiotikum, das dringend gebraucht werde, heißt es aus der TU Berlin. „Es hat eine extrem hohe Wirksamkeit in kleinen Konzentrationen und ist hoch wirksam gegen pathogene Bakterien – sogar gegen solche, die gegen die weit verbreiteten Antibiotika wie Fluorchinolone resistent sind.“, heißt es im Artikel. Da mehr Informationen aus den bisherigen Laborstudien nicht abzuleiten sind, werten wir insgesamt „ERFÜLLT“.

2. Die RISIKEN & NEBENWIRKUNGEN werden angemessen berücksichtigt

Risiken und Nebenwirkungen des untersuchten Wirkstoffs werden angemessen erläutert, aus den Ergebnissen bisheriger Laborstudien abgeleitet, etwa hier: „Auf die Frage, ob man dabei nicht auch dem Menschen selbst schaden könnte, heißt es in der Mitteilung der TU Berlin: Beim Menschen gebe es zwar verwandte Enzyme, die Unterschiede zur Gyrase sind aber hinreichend groß, sodass Albicidin uns mit hoher Wahrscheinlichkeit nichts anhaben kann´. Dies hätten auch vorklinische Studien ergeben. Allerdings muss so etwas später in klinischen Studien auch gründlich bestätigt und mit Daten belegt werden. Erfahrungsgemäß haben Antibiotika mitunter heftige Nebenwirkungen.“

3. Es wird klar, ob eine Therapie/ein Produkt/ein Test VERFÜGBAR ist.

Der Artikel handelt von der vorklinischen Erforschung eines potenziellen Medikaments. Es erschließt sich, dass dieses Mittel noch nicht an Menschen angewendet wird und somit auch, dass es nicht verfügbar ist.

4. Es werden ALTERNATIVE Behandlungsarten/Produkte/Tests vorgestellt.

Der Beitrag thematisiert, dass viele verfügbare Antibiotika bei multirestenten Keimen nicht mehr wirksam sind. Gleich zu Beginn beschreibt er das Problem: „Gemeint sind multiresistente Keime, also Krankheitserreger, die auf immer weniger Antibiotika reagieren. Mitunter auch auf gar keine mehr…“ Dabei wird auch indirekt auf die Antibiotika-Gruppe der Fluorchinolone eingegangen: „Es hat eine extrem hohe Wirksamkeit in kleinen Konzentrationen und ist hoch wirksam gegen pathogene Bakterien – sogar gegen solche, die gegen die weit verbreiteten Antibiotika wie Fluorchinolone resistent sind.“ Hier bleibt allerdings unerwähnt, dass diese das gleiche Zielmolekül angreifen. Als mögliche Alternative hätte auch eine Therapie mit Bakteriophagen – also Viren, die Bakterien befallen – genannt werden können. Insgesamt werten wir daher nur knapp „ERFÜLLT“.

5. Die KOSTEN werden im journalistischen Beitrag in angemessener Weise berücksichtigt.

Kosten des möglichen Antibiotikums Albicidin werden im journalistischen Beitrag nicht genannt. Allerdings ist der Wirkstoff noch so weit von der klinischen Anwendung entfernt, dass noch gar nicht abzusehen ist, wie teuer eine Behandlung damit wäre. Daher werten wir „ERFÜLLT“.

6. Es sind keine Anzeichen von Krankheitserfindungen/-übertreibungen zu finden (DISEASE MONGERING).

Der Artikel stellt das Thema der Antibiotikaresistenzen und deren tödliche Folgen angemessen dar. Das Problem wird nicht übertrieben. An einer Stelle allerdings werden die Bakterien Escherichia coli allgemein als wachsende Bedrohung dargestellt, tatsächlich sind es aber nur die multiresistenten Varianten (siehe Faktentreue).

7. Der journalistische Beitrag ordnet die QUALITÄT der Belege/der Evidenz ein.

Im journalistischen Beitrag wird deutlich, dass die bislang durchgeführten präklinischen Studien – also Laborexperimente – noch keine Aussagen über die Wirksamkeit im Menschen erlauben. Es wird also klar, dass die im Laborexperiment beobachtete Wirkung gegen Bakterien, die gegen die Antibiotika der Gruppe der Fluorchinolone resistent sind, nur ein allererster Schritt ist, um die Effektivität dieses Pflanzengifts am Menschen zu untersuchen. Es wird ebenfalls deutlich, dass bislang in verschiedenen Studien die molekularen Eigenschaften des Albicidin, mögliche Wirkung und Nebenwirkungen im Laborexperiment ausgiebig untersucht wurden – wenn auch der Zeitpunkt dieser Untersuchungen nicht korrekt angegeben wird (siehe Kriterium Faktentreue). Es hätte aber noch deutlicher gemacht werden können, dass die Ergebnisse aus dem Labor noch keinerlei Schlussfolgerungen auf die Wirksamkeit im menschlichen Körper erlauben. Daher werten wir nur knapp „ERFÜLLT“.

8. Es werden UNABHÄNGIGE EXPERTEN oder QUELLEN genannt.

Der Artikel referiert eine Pressemeldung, welche zur wissenschaftlichen Publikation des Themas herausgegeben wurde. Dabei zitiert er den Autor, der in der Pressemeldung zu Wort kommt. Ein weiterer der Autoren wird aus einem biotechnologischen Branchen-Internetportal zitiert. Unabhängige Experten kommen nicht zu Wort und es werden keine weiteren Quellen als die ausgewertete Pressemeldung genannt.

9. Es werden, falls vorhanden, INTERESSENKONFLIKTE im Beitrag thematisiert.

Im Paper sind relevante Patente aufgeführt, das hätte hier erwähnt werden müssen, gerade, da die Erfinder so prominent zu Wort kommen.

10. Der Beitrag liefert Informationen zur EINORDNUNG der Thematik in einen Kontext (Neuheit, Ethik).

Das Stück bietet einigen Kontext: „Mehr als 35.000 Menschen sterben jährlich in Europa aufgrund von Antibiotikaresistenzen, so schätzt die EU-Gesundheitsbehörde ECDC. Forscher suchen intensiv nach neuen Antibiotika, die gegen viele Bakterien wirken und bei denen sich nicht so schnell Resistenzen entwickeln können. Allerdings wird die Neuheit der Studie irreführend eingeordnet (siehe Faktentreue): „Inzwischen ist es den TU-Forschern in Kooperation mit Wissenschaftlern aus Großbritannien und Polen gelungen, das Pflanzengift so zu verändern, dass es gegen multiresistente Krankenhauskeime eingesetzt werden kann.“ Auch wird die Neuheit einzelner Aspekte der Erforschung des Albicidins nicht korrekt wiedergegeben: „Nachdem die Forscher diese Wirkungsweise erkannt hatten, konnten sie am Computer und im Labor Varianten des ursprünglichen Albicidin-Moleküls kreieren, die gegen einige der gefährlichsten bakteriellen Infektionen im Krankenhaus wirksam sind.“ Das ist falsch und eine Falschübernahme aus der Pressemeldung. Die Albicidin-Varianten hatten die Forscher bereits in einer anderen Studie beschrieben und getestet (siehe auch hier). Daher werten wir knapp „NICHT ERFÜLLT“.

11. Der Beitrag gibt die wesentlichen Daten und Fakten korrekt wieder (FAKTENTREUE).

Insgesamt sind Antibiotika-resistente Erreger eine ernste Bedrohung. Der folgende Satz trifft also nicht allgemein auf die Bakterien Escherichia coli zu, sondern auf die resistenten Varianten: „Sie sind eine wachsende Bedrohung. Ihre Namen lauten Pseudomonas aeruginosa, Salmonella typhimurium, Staphylococcus aureus oder Escherichia coli.“ Hier wird der Eindruck erweckt, als wenn alle diese Bakterien eine wachsende Bedrohung darstellten.
Auch wird die Neuheit einzelner Aspekte der Erforschung des Albicidins nicht korrekt wiedergegeben: „Nachdem die Forscher diese Wirkungsweise erkannt hatten, konnten sie am Computer und im Labor Varianten des ursprünglichen Albicidin-Moleküls kreieren, die gegen einige der gefährlichsten bakteriellen Infektionen im Krankenhaus wirksam sind.“ Das ist falsch und eine Falschübernahme aus der Pressemeldung. Die Albicidin-Varianten hatten die Forscher bereits in einer anderen Studie beschrieben und getestet (siehe auch hier). Und auch die Erfindungsleistung ist offensichtlich nicht neu: „Wissenschaftler der Technischen Universität (TU) Berlin haben ein mögliches neues Antibiotikum entdeckt: und zwar das natürliche Pflanzengift Albicidin. Forscher der TU Berlin haben ein neues Mittel dagegen entdeckt.“ Das Antibiotikum ist nämlich offenbar seit den achtziger Jahren von anderen beschrieben worden (Link:  microbiologyresearch.org/content).
Zudem wird im journalistischen Beitrag folgende Aussage zur Resistenzentstehung getroffen: „Solche Resistenzen entstehen vor allem dann, wenn Antibiotika zu häufig, unnötigerweise oder nicht genau nach ärztlichen Vorgaben angewendet werden“. Hier hätte noch deutlicher gemacht werden sollen, dass sämtlicher Antibiotika-Gebrauch zur Resistenzentstehung beiträgt. Daher werten wir insgesamt „NICHT ERFÜLLT“.

12. Der Beitrag geht über eine Pressemitteilung/das Pressematerial hinaus (JOURNALISTISCHE EIGENLEISTUNG).

Die Pressemeldung einer der an der Forschung beteiligten Universität ist in großen Teilen wortgleich mit dem journalistischen Beitrag. Der journalistische Artikel nennt zahlreiche wissenschaftliche Details zum Vorkommen des Pflanzengifts, zum Wirkmechanismus in Bakterien und zu wissenschaftlichen Methoden, und zitiert dabei umfangreich jenen Wissenschaftler, dessen Universität die Pressemeldung herausgegeben hat. All dies ist der Pressemeldung entnommen. Darüber hinaus findet sich das Zitat eines weiteren Studienautors, das dem Bericht eines biotechnologischen Branchenportals entnommen wurde. Damit geht der journalistische Beitrag ganz überwiegend nicht über Pressematerialien hinaus. Daher werten wir „NICHT ERFÜLLT“.

13. Ein Beitrag vermittelt ein Thema interessant und attraktiv (ATTRAKTIVITÄT DER DARSTELLUNG).

Der Artikel gewährt tiefe Einblicke in die Erforschung eines neuen Antibiotikums. So erklärt er das grundlegende Wirkprinzip: „Das Enzym namens Gyrase zum Beispiel spielt eine Rolle bei der Zellteilung der Pflanzen. Hierbei muss das Erbgut der Zelle – die DNA – vollständig kopiert werden. Das Enzym Gyrase dockt an die DNA an und sorgt dafür, dass dabei keine schwerwiegenden Fehler entstehen. Daran wird es jedoch vom Pflanzengift Albicidin gehindert.“ Dann folgen Informationen, welche Vorarbeiten für die Entwicklung einer Substanz als Medikament notwendig sind: „Bevor man Albicidin jedoch als Breitbandantibiotikum einsetzen kann, muss noch einiges geschehen.“ Und weiter: „Es sei notwendig, die Struktur und Zusammensetzung des doch recht großen Albicidin-Moleküls für seine Verwendung als Arzneimittel zu optimieren´. Und noch weiter: „Sie nutzten die Methode der Kryo-Elektronenmikroskopie. Hier werden Elektronenstrahlen bei tiefen Temperaturen von unter minus 150 Grad Celsius eingesetzt. Auf diese Weise werde es möglich, Vorgänge auf molekularer Ebene ohne Verwacklungen in Tausenden von Schnappschüssen festzuhalten, (…)“ Und schließlich wird das Ergebnis dieser Forschung bildhaft beschrieben: „Die Wirkung von Albicidin ähnelt hier einem Schraubenschlüssel, der zwischen zwei laufende Zahnräder geworfen wird und diese blockiert.“ Allerdings sind die Formulierungen an vielen Stellen umständlich, die Satzfolge über weite Strecken hinweg monoton, viele Zitate beherrschen den Text. Daher werten wir, trotz des interessanten Einblicks, aus sprachlichen Gründen knapp „NICHT ERFÜLLT“.

14. Der Beitrag ist für ein Laienpublikum verständlich (VERSTÄNDLICHKEIT).

Die dem Artikel zugrunde liegende Pressemeldung liefert zahlreiche Details zu der berichteten Forschung. Vieles davon hat der Zeitungsartikel übernommen. An manchen Stellen führt die komplette Übernahme von Textteilen der Pressemeldung zu etwas technischen Formulierungen: „Das Ergebnis: Albicidin bildet eine Art L-Form und kann so auf einzigartige Weise sowohl mit der Gyrase als auch mit der DNA interagieren.“ Über weitere Passagen dürfte es für Laien schwer sein, die beschriebenen Zusammenhänge zu verstehen, etwa hier: „Zunächst wollten die Forscher jedoch genau wissen, wie das Gift wirkt. Der Prozess ist für Laien recht kompliziert zu verstehen. Das Pflanzengift Albicidin greift nämlich ein bestimmtes Enzym der Pflanzen an. Enzyme sind komplexe Moleküle, die bei biochemischen Prozessen in Organismen als Katalysatoren dienen.“ Oder hier: „Das Ergebnis: Albicidin bildet eine Art L-Form und kann so auf einzigartige Weise sowohl mit der Gyrase als auch mit der DNA interagieren.“ Daher werten wir insgesamt knapp „NICHT ERFÜLLT“.

15. Das THEMA ist aktuell, relevant oder ungewöhnlich. (THEMENAUSWAHL).

Antibiotikaresistenz ist ein wichtiges Thema. Die vorliegende Studie anhand von Laborexperimenten ist allerdings noch weit entfernt von jeglicher klinischen Relevanz, auch ist der Ansatz der Forschenden nicht so originell, dass damit die Berichterstattung begründet werden könnte. Daher werten wir knapp „NICHT ERFÜLLT“.

Medizinjournalistische Kriterien: 7 von 15 erfüllt

Abwertung um einen Stern (von 3 auf 2), weil der Text fast komplett aus Pressematerial übernommen wurde.

Title

Kriterium erfüllt

Kriterium nicht erfüllt

Kriterium nicht anwendbar