Bewertet am 17. Dezember 2022
Veröffentlicht von: Berliner Morgenpost

Das vorliegende Gutachten wurde im Rahmen des Medien-Doktor-Projekts ASSISTANCE angefertigt, das einen besonderen Fokus auf die Qualitätssicherung der Medizinberichterstattung in Regionalmedien legt. Zur Projektvorstellung geht es hier.

In einem medizinischen Fachjournal wurden hoffnungsvolle Studienergebnisse zu einem Wirkstoff gegen die Alzheimer-Demenz präsentiert. Darüber berichtet ein Artikel in der Berliner Morgenpost ausführlich in einem Frage-Antwort-Format. Zahlreiche Zitate mehrerer Experten ordnen die vorliegenden Studiendaten ein, sowohl der Nutzen wie auch die möglichen Risiken der Therapie werden im journalistischen Beitrag ausführlich erläutert.

Zusammenfassung

Ein Artikel der Berliner Morgenpost bietet übersichtlich und korrekt alle relevanten Fakten zu einer aktuellen Studie über ein neues Alzheimer-Medikament. Die Gliederung ist gut gewählt, die Wortwahl so, dass Laien die Erläuterungen zu diesem neuen Therapieansatz gut nachvollziehen können. Auch erfahren die Leserinnen und Leser, dass trotz der guten Studienergebnisse kein Grund zur Euphorie besteht, und in welchem Rahmen die neue Therapie einsetzbar wäre. Sogar die möglichen Kosten der Behandlung werden thematisiert, die Alzheimer-Demenz nicht übertrieben dargestellt. Allerdings werden Interessenkonflikte nicht erwähnt. Vor allem aber bleibt unklar, was genau die Patienten der Studie, die das neue Medikament erhielten, nach 18 Monaten Therapie besser konnten als die Patienten der Kontrollgruppe. Eine Information, die für Leserinnen und Leser besonders interessant gewesen wäre.

Title

Die Kriterien

1. Die POSITIVEN EFFEKTE sind ausreichend und verständlich dargestellt (NUTZEN).

Der Artikel erörtert den Nutzen der neuen Therapie gegen die Alzheimer-Demenz ausführlich: „Nach 18 Monaten wurde der Effekt auf den CDR-SB-Score erhoben, ein etablierter Wert zur Einschätzung der Schwere von Demenz. Dieser berücksichtigt Faktoren wie Gedächtnis, Urteils- und Problemlösungsvermögen oder die Fähigkeit, für sich selbst zu sorgen. Bei Studienbeginn lag der mittlere Wert in beiden Gruppen bei etwa 3,2. Nach 18 Monaten war der Unterschied zwischen den Gruppen laut Studie beträchtlich: 0,45 Punkte.“ Im Anschluss erläutert ein Experte: „Der Erkrankungsfortschritt wurde um 27 Prozent verlangsamt, bei den Aktivitäten des täglichen Lebens machte der Unterschied 37 Prozent aus.“ Diese konkreten Ergebnisse diskutiert ein weiterer Experte: „Die Frage, die man diskutieren muss, ist, wie relevant der Effekt klinisch ist.“ Und dieser Experte setzt den Nutzen ins Verhältnis zu den Belastungen durch die Therapie: „ (…) was geht dadurch an Lebensqualität vielleicht auch verloren? Das muss man gegeneinander abwägen.“ Schließlich wird erklärt, für welche Patientengruppe die Therapie überhaupt infrage kommt: „Lecanemab verlangsame zwar das Fortschreiten der Erkrankung, mache sie aber nicht rückgängig. Patienten mit ausgeprägtem Krankheitsbild oder einer anderen Form von Demenz als Alzheimer profitierten nicht von der Therapie.“

2. Die RISIKEN & NEBENWIRKUNGEN werden angemessen berücksichtigt.

Risiken und Nebenwirkungen thematisiert der Artikel in einem Absatz knapp: „Laut der Studie traten unter der Behandlung Nebenwirkungen auf, darunter Hirnschwellungen und -blutungen.“  Und er erwähnt zwei Todesfälle, die nach der Studie mit unklarem Zusammenhang zu dem Wirkstoff auftraten. Ein Experte bewertet diese Risiken: „Insgesamt lasse sich aus den Daten aber ein positives Nutzen-Risiko-Profil ableiten, (…).“ Das ist ziemlich verkürzt, von der Häufigkeit der beobachteten Nebenwirkungen ist keine Rede. Dabei finden sich diese Informationen in der Fachpublikation: Dort werden die Infusions-assoziierten Nebenwirkungen mit 26,4 Prozent angegeben und Anzeichen von Schwellungen oder Lecks im Gehirn mit 12,6 Prozent (siehe auch hier). Daher werten wir insgesamt nur knapp „ERFÜLLT“.

3. Es wird klar, ob eine Therapie/ein Produkt/ein Test VERFÜGBAR ist.

Es wird deutlich, dass eine klinische Zulassung noch aussteht: „Wir hoffen auf eine schnelle Zulassung, wenn die Behörden das Medikament als sicher einstufen. (…) Für die USA ist sie für Januar geplant.“ Damit ist klargestellt, dass die Therapie derzeit noch nicht verfügbar ist.

4. Es werden ALTERNATIVE Behandlungsarten/Produkte/Tests vorgestellt.

Es gibt keine Therapie gegen Alzheimer-Demenz, die die Krankheit heilen könnte. Zum Einsatz kommen allerdings symptomorientierte, medikamentöse Therapien mit begrenzter Wirksamkeit. Diese erwähnt der Artikel nicht. In dem zugrundeliegenden wissenschaftlichen Paper findet sich dazu einführend ein Satz: „Current therapeutic agents for Alzheimer’s disease-related dementia temporarily improve symptoms but do not alter the underlying disease course.“ („Die derzeitigen Therapeutika zur Behandlung von Demenz im Zusammenhang mit der Alzheimer-Krankheit verbessern vorübergehend die Symptome, ändern aber nicht den zugrunde liegenden Krankheitsverlauf.“)

Allerdings erwähnt der journalistische Beitrag, dass es sich bei dem Antikörper um einen Vertreter einer Gruppe handelt, die ebenfalls mit dem gleichen Therapieziel getestet worden sind, aber versagten. Es wird auch auf die Besonderheit im Wirkprinzip von Lecanemab eingegangen und andere Substanzen werden mit Namen genannt – Aducanumab und Gantenerumab. Daher werten wir insgesamt „ERFÜLLT“.

5. Die KOSTEN werden im journalistischen Beitrag in angemessener Weise berücksichtigt.

In dem Bericht handelt es sich um ein Medikament, das noch in Studien geprüft, also noch nicht verfügbar ist. Somit wäre eine Erwähnung der Kosten nicht unbedingt erforderlich. Der Artikel geht dennoch am Ende kurz auf den Kostenaspekt ein: „Über die Kosten der Therapie pro Patienten ist bisher nichts bekannt. Laut Experten könnten diese pro Jahr im fünfstelligen Bereich liegen.“

6. Es sind keine Anzeichen von Krankheitserfindungen/-übertreibungen zu finden (DISEASE MONGERING).

Der Artikel skizziert die Alzheimer-Demenz in einem Absatz zu Beginn: „Nach bisherigen Erkenntnissen steht die Erkrankung in Zusammenhang mit Eiweißablagerungen im Gehirn, die als Amyloid oder Tau bezeichnet werden. Die Anhäufung von Amyloid ist ein Schlüssel bei der Entstehung von Schädigungen des Gehirns. Nerven sterben ab, die kognitiven Leistungen nehmen ab, bis Betroffene quasi in das Entwicklungsstadium eines Kleinkindes zurückfallen. 2020 starben laut dem Statistischen Bundesamt 9450 Menschen in Deutschland an Alzheimer-Demenz. 160.000 Neudiagnosen gibt es pro Jahr.“ Damit ist die Erkrankung angemessen und nicht übertrieben dargestellt.

7. Der journalistische Beitrag ordnet die QUALITÄT der Belege/der Evidenz ein.

Der Artikel beschreibt das Studiendesign grob und referiert die wesentlichen Ergebnisse. Auf die Qualität der Evidenz geht er jedoch nicht ein, lediglich die Größe der Studie wird berichtet: „An der Studie (…) nahmen 1795 Personen mit einer Alzheimer-Erkrankung im Frühstadium teil. 898 erhielten alle zwei Wochen Lecanemab – zehn Milligramm pro Kilogramm Körpergewicht. 897 Personen erhielten ein Placebo.“ Fehlende Kritik der Experten am Studiendesign und eindeutig positive Bewertungen („Diese Studie ist ohne Zweifel ein Meilenstein.“) könnten als Belege für eine hochwertigen Evidenz gewertet werden. 

Im Gegensatz zu den knappen Erläuterungen im journalistischen Beitrag erläutern die Autoren der Fachpublikation unter anderem genau, wie sie sicher gingen, dass die Wirkung und auch die Nebenwirkungen der Studienprobanden „doppelt verblindet“ erfasst wurden, also weder die Studienteilnehmer noch das Studienpersonal wussten, wer das neue Medikament und wer ein Scheinpräparat erhielt: „An independent data and safety monitoring board consisting of experts in Alzheimer’s disease and statistics reviewed unblinded safety data during the trial. An independent medical monitoring team, whose members were unaware of the trial-group assignments, reviewed ARIA, infusion- related reactions, and hypersensitivity reactions. Clinical assessment raters were unaware of the safety assessments and the trial-group assignments. („Ein unabhängiges Daten- und Sicherheitsüberwachungsgremium, das sich aus Experten für Alzheimer-Erkrankungen und Statistik zusammensetzt, überprüfte während der Studie unverblindet Sicherheitsdaten. Ein unabhängiges medizinisches Überwachungsteam, dessen Mitglieder keine Kenntnis von den Zuordnungen zu den Studiengruppen hatten, überprüfte ARIA, infusionsbedingte Reaktionen und Überempfindlichkeitsreaktionen. Die Beurteiler der klinischen Bewertung hatten keine Kenntnis von den Sicherheitsbeurteilungen und den Zuordnungen zu den Studiengruppen.“)

Gerade angesichts der herausragenden klinischen Bedeutung des Themas wäre es für den journalistischen Beitrag angemessen gewesen, die Qualität der Evidenz aktiv zu thematisieren. Daher werten wir insgesamt knapp „NICHT ERFÜLLT“.

8. Es werden UNABHÄNGIGE EXPERTEN oder QUELLEN genannt.

Es kommen mehrere Experten zu Wort, die nicht an der dem Artikel zugrundeliegenden Untersuchung beteiligt waren. Die Zitate sind einem „research in context“ des deutschen Science Media Center und einer Pressemeldung der Deutschen Gesellschaft für Neurologie entnommen. Ein weiteres Zitat („Diese Studie ist ohne Zweifel ein Meilenstein“) stammt aus einem virtuellen Press Briefing des Science Media Center. Mehrere der zitierten Experten haben allerdings nach Angaben des Science Media Center wirtschaftliche Beziehungen zu den Unternehmen, die das Medikament Lecanemab entwickeln. Damit steht deren Unabhängigkeit infrage (siehe Kriterium Interessenkonflikte). Wir werten daher nur knapp „ERFÜLLT“.

9. Es werden, falls vorhanden, INTERESSENKONFLIKTE im Beitrag thematisiert.

Der Artikel zitiert ausgiebig aus Statements von Experten zum Thema Alzheimer-Demenz, die das Science Media Center und die Deutsche Gesellschaft für Neurologie zu dem besprochenen Thema publiziert haben. Drei dieser Experten geben dort unter „Angaben zu möglichen Interessenkonflikten“ wirtschaftliche Beziehungen zu den Unternehmen an, die bei einer Zulassung des Medikaments sehr viel Geld verdienen würden. Auch der zusätzlich befragte Experte, Frank Jessen hat in einem anderen Zusammenhang einen Interessenkonflikt angegeben, siehe auch hier. Dort wird kurz erwähnt: „F. Jessen hat Honorare für Beratung erhalten von: Biogen, Roche, Abbvie, AC Immune, Esai und Janssen.“ Die Interessenkonflikte zu den Experten des Science Media Center waren zum Zeitpunkt der Begutachtung leicht zu finden und hätten im journalistischen Beitrag erwähnt werden können. Daher werten wir insgesamt „NICHT ERFÜLLT“.

10. Der Beitrag liefert Informationen zur EINORDNUNG der Thematik in einen Kontext (Neuheit, Ethik).

Der Kontext, in dem sich das besprochene Thema bewegt, ist die Suche nach einer wirksamen Therapie gegen die Volkskrankheit Alzheimer, deren Häufigkeit zunimmt und deren Krankheitslast für die betroffenen Menschen bekanntermaßen sehr groß ist. Erstmalig meldet die Wissenschaft hier einen Forschungserfolg, der von Experten einhellig als maßgeblicher Schritt angesehen wird. Sowohl die Neuheit als auch die ethische Dimension arbeitet der Beitrag heraus, erwähnt zudem die bislang frustrierenden Versuche zur Entwicklung von Antikörpern. Indes erfahren Leserinnen und Leser nicht, dass bisherige Misserfolge von einer großen Gruppe von MedizinerInnen auch als Beleg dafür gesehen werden, dass die These, die Plaques seien die Ursache für Alzheimer, gar nicht stimmt, sondern dass andere Faktoren eine Rolle spielen. Daher werten wir insgesamt nur knapp „ERFÜLLT“.

11. Der Beitrag gibt die wesentlichen Daten und Fakten korrekt wieder (FAKTENTREUE).

Kritisch ist allenfalls zu erwähnen, dass es eigentlich keine Amyloidzellen gibt, sondern Zellen, in denen Amyloid abgelagert wird. Sonst haben wir keine Fehler gefunden.

12. Der Beitrag geht über eine Pressemitteilung/das Pressematerial hinaus (JOURNALISTISCHE EIGENLEISTUNG).

Aufgrund der zahlreichen Stellungnahmen verschiedener Experten geht der Text über die vorhandenen Pressemitteilungen hinaus; außerdem berichtet er epidemiologischen Daten für Deutschland, die in der Pressemitteilung ebenfalls nicht vorkommen.

13. Ein Beitrag vermittelt ein Thema interessant und attraktiv (ATTRAKTIVITÄT DER DARSTELLUNG).

Der Artikel bietet sauber und klar alle relevanten Informationen. Es wäre es allerdings interessanter oder attraktiver, noch etwas plastischer zu erfahren, worin die Handicaps einer Alzheimer-Demenz konkret bestehen, was ein solcher Patient/eine solche Patientin nicht mehr kann, woran sie scheitert. Insgesamt werten wir dennoch „ERFÜLLT“.

14. Der Beitrag ist für ein Laienpublikum verständlich (VERSTÄNDLICHKEIT).

Der Artikel gliedert sich durch Zwischenüberschriften klar zu den relevanten Fragen und interessierenden Punkten ab. Er trennt sauber zwischen Faktenpräsentation und Aussagen/Wertungen der Experten. Der Laie kann lesen, um was es sich bei Amyloid handelt, wo es sich ablagert, wie man es bekämpfen kann und worin der neue Therapieansatz besteht. Als vom „CDR-SB-Score“ die Rede ist, folgt sofort die Erklärung: „(…) ein etablierter Wert zur Einschätzung der Schwere von Demenz. Dieser berücksichtigt Faktoren wie Gedächtnis, Urteils- und Problemlösungsvermögen oder die Fähigkeit, für sich selbst zu sorgen.“ Insgesamt vermittelt der Beitrag das Forschungsthema detailliert, ohne zu sehr ins Fachliche abzurutschen.

15. Das THEMA ist aktuell, relevant oder ungewöhnlich. (THEMENAUSWAHL).

Das Thema des Artikels ist hochaktuell, er erschien nur zwei Tage nach der Publikation des wissenschaftlichen Artikels. Und es ist angesichts der großen gesellschaftlichen Bedeutung der Alzheimer-Demenz sehr relevant.

Medizinjournalistische Kriterien: 13 von 15 erfüllt

Title

Kriterium erfüllt

Kriterium nicht erfüllt

Kriterium nicht anwendbar