Bewertet am 10. März 2022
Veröffentlicht von: WDR

Wie lassen sich Erkrankungen frühzeitig erkennen, die erst spät zu Symptomen führen? Dies wird in einem Beitrag des WDR anhand des „Grünen Stars“ thematisiert, des so genannten Glaukoms. Dabei werden die Ursachen der Erkrankung kurz erklärt, ebenso wie die möglichen Folgen. Auch auf die Kosten der Früherkennungsuntersuchungen wird in der Sendung eingegangen. Völlig offen bleibt indes, dass es für Nutzen und Risiken der allgemeinen Untersuchungen gar keine belastbaren Belege gibt.

Zusammenfassung

Zweifellos ist die Thematik der Früherkennung in der Medizin ein großes Thema. Ein Thema, das sich vielschichtig diskutieren lässt – für wen ist die jeweilige Untersuchung sinnvoll, was bringt eine frühe Erkennung für den Krankheitsverlauf, welche Risiken sind damit verbunden? Leider versäumt es der Beitrag des WDR, auf diese verschiedenen Aspekte einzugehen. Mögliche Untersuchungen zur Früherkennung des „Grünen Stars“ – des Glaukoms – werden kurz vorgestellt, ohne dass den Zuschauern erläutert wird, welche Vorteile sie welchen Patientengruppen bringen. Ebenso wenig wird hinreichend erklärt, warum die Kosten für die Untersuchungen nicht grundsätzlich von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen werden. Anschaulich wird das Krankheitsbild anhand einer Grafik erklärt, auch finden sich gleich zwei Patientenbeispiele im Beitrag, die das Thema den Zuschauern nahebringen. Insgesamt jedoch bietet die Sendung samt Experteninterview den Zuschauern wenig Orientierung dazu, wann welche der vorgestellten Methoden der Früherkennung des Glaukoms tatsächlich ratsam ist.

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Die Kriterien

1. Die POSITIVEN EFFEKTE sind ausreichend und verständlich dargestellt (NUTZEN).

Es wird im Beitrag korrekt dargestellt, dass eine Früherkennungsuntersuchung ein noch unbemerktes Glaukom finden und damit eine rechtzeitige Behandlung ermöglichen kann. Es fehlen jedoch quantitative Angaben dazu: Wie häufig kommt ein Glaukom in der Bevölkerung vor, wie oft wird die Erkrankung bei Früherkennungsuntersuchungen diagnostiziert, wie effektiv lässt sich das Fortschreiten einer früh erkannten Erkrankung ausbremsen? Allerdings gibt es zu vielen dieser Fragen noch keine verlässlichen Antworten, wie das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) schreibt: „Es gibt bisher keine Studien, die den Nutzen einer allgemeinen Früherkennung des Glaukoms untersucht haben. Es lässt sich daher nicht beurteilen, welche Vor- und Nachteile es hat, wenn Menschen ohne Beschwerden oder besonderes Risiko eine solche Untersuchung machen lassen.“ Allein dies hätte im Beitrag zumindest thematisiert werden müssen. Daher werten wir insgesamt „NICHT ERFÜLLT“.

2. Die RISIKEN & NEBENWIRKUNGEN werden angemessen berücksichtigt.

Auf mögliche Nebenwirkungen der Untersuchungen wird im journalistischen Beitrag nicht eingegangen. Der IGeL-Monitor dagegen zählt mögliche unerwünschte Folgen auf: „Wenn es bei der Untersuchung einen Kontakt zwischen Gerät und Auge gibt, kann das unangenehm sein und zu Reizungen und Hornhautabschürfungen führen. Außerdem ist aus vielen anderen Studien bekannt, dass Früherkennungsuntersuchungen immer indirekte Schäden haben können: Sie produzieren Fehlalarme, übersehen Krankheiten und vor allem erkennen sie Krankheiten, die nie Probleme verursacht hätten, die man also gar nicht hätte behandeln müssen.“ (siehe auch: hier) Und das IQWiG schreibt dazu: „Diese grundsätzlichen Bedenken müssen nicht auf die Glaukom-Früherkennung zutreffen. Genau das ist aber das Problem: Die tatsächlichen Vor- und Nachteile eines Glaukom-Screenings lassen sich derzeit nicht sicher beurteilen, weil aussagekräftige Studien fehlen.“ (siehe auch: hier). Daher werten wir insgesamt „NICHT ERFÜLLT“.

3. Es wird klar, ob eine Therapie/ein Produkt/ein Test VERFÜGBAR ist.

Es wird im journalistischen Beitrag deutlich, dass die Früherkennungsuntersuchungen verfügbar sind. Man hätte noch darüber informieren können, ob die Untersuchung in jeder Augenarztpraxis durchgeführt wird oder ob nur spezialisierte Praxen sie anbieten.

4. Es werden ALTERNATIVE Behandlungsarten/Produkte/Tests vorgestellt.

Es werden im journalistischen Beitrag die unterschiedlichen Untersuchungsverfahren kurz angesprochen und erklärt: Zunächst werden Augeninnendruckmessung und Untersuchung mit der Spaltlampe gezeigt, bei Auffälligkeiten und individuellen Risikofaktoren finden dann weitere Untersuchungen statt: Die Optische Kohärenztomografie (OCT) und Gesichtsfeldmessungen. Im nachfolgenden Experteninterview wird darauf hingewiesen, wie wichtig der Lebensstil für die Gesundheit ist, auch für das Auge.

Als Alternative zur Vorsorge gehört, dass man darauf verzichten kann, weil der Nutzen völlig unklar ist. Hier zeigt der Beitrag eine Schwäche, weil er grundsätzlich suggeriert, es wäre sinnvoll die Vorsorgeuntersuchung zu nutzen. Daher werten wir nur knapp „erfüllt“.

5. Die KOSTEN werden im journalistischen Beitrag in angemessener Weise berücksichtigt.

Der Beitrag nennt die Kosten, die Patient*innen selbst tragen müssen, sowohl für die Augeninnendruckmessung als auch für die OCT und macht deutlich, dass die Krankenkassen unter bestimmten Umständen die Kosten übernehmen.

6. Es sind keine Anzeichen von Krankheitserfindungen/-übertreibungen zu finden (DISEASE MONGERING).

Die Glaukomerkrankung wird insgesamt nicht übertrieben dargestellt. Es trifft zu, dass eingetretene Schäden am Sehnerv nicht mehr rückgängig zu machen sind. und ein Glaukom im schlimmsten Fall zur Erblindung führen kann. Allerdings wäre es sinnvoll gewesen, dazu Zahlen zu nennen. Laut Igelmonitor kommt es in Deutschland jährlich zu rund 1000 neuen Erblindungen aufgrund eines Glaukoms (siehe auch hier). Das ist also nur ein kleiner Teil der Personen, die an einem Glaukom erkrankt sind. Laut Verbraucherzentrale leiden etwa 1 bis 2 Prozent der Bevölkerung an einem grünen Star. Allerdings wird an mancher Stelle im journalistischen Beitrag unnötig dramatisiert, etwa an diesen beiden Stellen: „für beide geht es heute um ihr Augenlicht“, „wie heimtückisch der Grüne Star ist“. Daher nur knapp „ERFÜLLT“.

7. Der journalistische Beitrag ordnet die QUALITÄT der Belege/der Evidenz ein.

Der journalistische Beitrag und das Experteninterview führen eine Vielzahl von Behauptungen an, für die keinerlei Belege genannt werden. Insbesondere fehlt die Information, dass der Nutzen der Vorsorgeuntersuchung vom IQWiG und vom Igelmonitor tendenziell negativ bewertet wird, da einschlägige Studien fehlen. Auch für viele vorbeugende Maßnahmen, die der Experte im Interview nennt – vom Spazierengehen bis zu Ernährungsratschlägen – gibt es keinerlei Hinweis auf Quellen, die den Nutzen belegen könnten. Daher werten wir insgesamt „NICHT ERFÜLLT“.

8. Es werden UNABHÄNGIGE EXPERTEN oder QUELLEN genannt.

Im Videobeitrag kommt ein Arzt zu Wort, der die Untersuchung anbietet und für nützlich hält. Seine Aussagen werden weder hinterfragt noch kommentiert. Immerhin kommt im auf den Beitrag folgenden Interview ein weiterer Experte zu Wort, der Oberarzt und WDR-Gesundheitsexperte Heinz-Wilhelm Esser, Facharzt für Innere Medizin und Pneumologie, Kardiologie am Krankenhaus Remscheid und Moderator verschiedener Gesundheitssendungen (siehe auch hier). Dass bei einem Internisten eine besondere Expertise bezüglich der Glaukom-Früherkennung vorliegt, darf zumindest bezweifelt werden. Leider fragt die Moderatorin auch nicht nach, ob er seine Behauptungen belegen kann. Kritiker dieser individuellen Gesundheitsleistungen (IGeL) oder auch ein Vertreter der Krankenkassen kommen nicht zu Wort. Allein die Eingangsfrage der Moderatorin beim Experteninterview hat einen kritischen Anklang: „Was hast du für Tipps für Patienten, die jetzt diese IGeL-Leistung vielleicht auch, ich mach mal in Anführungsstrichen, ‚aufgeschwatzt‘ bekommen?“. Leider hakt sie nach der vagen Antwort ihres Gegenübers leider nicht mehr nach. Daher werten wir knapp „NICHT ERFÜLLT“. Statt auf Evidenz setzt der Beitrag nur auf Eminenz.

9. Es werden, falls vorhanden, INTERESSENKONFLIKTE im Beitrag thematisiert.

Interessenkonflikte (zum Beispiel die Abwägung, zu IGeL-Leistungen ermuntern oder auf sie verzichten) werden nicht thematisiert. Dies wäre ein wichtiger Aspekt gewesen, da der Augenarzt in seiner Praxis natürlich daran verdient.

10. Der Beitrag liefert Informationen zur EINORDNUNG der Thematik in einen Kontext (Neuheit, Ethik).

Man erfährt nicht, seit wann die Untersuchung angeboten wird und ob etwas über deren bisherigen Nutzen bekannt ist. Die Problematik von IGeL insgesamt wird nicht angesprochen. Warum zahlen die Kassen die Glaukom-Früherkennung nicht, wenn sie doch so nützlich erscheint?

11. Der Beitrag gibt die wesentlichen Daten und Fakten korrekt wieder (FAKTENTREUE).

Uns sind keine direkten Faktenfehler aufgefallen. Allerdings hätte der Hinweis auf Bluthochdruck als Risikofaktor der Ergänzung bedurft, denn auch die Therapie des Bluthochdrucks kann die Entstehung eines Glaukoms fördern: Wenn Medikamente, zu einem starken nächtlichen Abfall des Blutdrucks führen, kann dies den Sehnerv schädigen. Insbesondere im Experteninterview werden viele Behauptungen aufgeführt, die äußerst fragwürdig erscheinen und die mangels Quellenangaben nicht zu überprüfen sind. So etwa die These, eine vorwiegend pflanzliche, regionale und saisonale Ernährung sei „gut für die Augen“, wobei der Kontext auch eine Vorbeugung gegen Glaukome nahelegt. Oder die Behauptung, Spazierengehen senke den Augeninnendruck.

Es finden sich auch missverständliche Formulierungen im Beitrag, zum Beispiel: „Betroffene merken das erst, wenn sie bestimmte Gegenstände zumeist in den Außenbereichen des Gesichtsfeldes nicht mehr wahrnehmen.“ Patienten sehen dann jedoch einen bestimmten Bereich gar nicht mehr, was sie zunächst gar nicht merken, weil das Gehirn solche „blinden Flecken“ automatisch mit Umgebungsinformationen auffüllt. Das hätte noch deutlicher erklärt werden müssen.

12. Der Beitrag geht über eine Pressemitteilung/das Pressematerial hinaus (JOURNALISTISCHE EIGENLEISTUNG).

Der Beitrag beruht offenbar nicht auf einer Pressemitteilung oder anderem Pressematerial. Daher gehen wir von einer journalistischen Eigenleistung aus.

13. Ein Beitrag vermittelt ein Thema interessant und attraktiv (ATTRAKTIVITÄT DER DARSTELLUNG).

Grundsätzlich ist es bei einem medizinischen Thema oft angebracht, Patientenbeispiele zu suchen. Doch bieten die beiden gewählten Beispiele wenig Informationen, auch erfährt man wenig über die Einzelpersonen, sie bleiben sehr statisch und plakativ. Das Experteninterview im Anschluss an den Fernsehbeitrag wird in einem unkritischen Plauderton gehalten, was vermutlich so gewollt ist, bei einem so kontroversen Thema doch etwas deplatziert erscheint.

14. Der Beitrag ist für ein Laienpublikum verständlich (VERSTÄNDLICHKEIT).

Ein Punkt, den der Beitrag anspricht, ist, dass die Glaukom-Früherkennung i.d.R. nicht von den Kassen bezahlt wird. Gleichzeitig hebt der Beitrag den Nutzen hervor. Welche Argumente gegen die Früherkennung als Kassenleistung angeführt werden, bleibt jedoch völlig unklar. Damit ist ein wesentlicher Aspekt des Beitrags für nicht vorinformierte Zuschauerinnen und Zuschauer unverständlich.

Immerhin aber bemüht sich der Beitrag, den Zuschauer*innen zu erklären, wie ein Glaukom entsteht und was bei den Früherkennungsuntersuchungen genau angesehen wird. Daher werten wir knapp „NICHT ERFÜLLT“.

15. Das THEMA ist aktuell, relevant oder ungewöhnlich. (THEMENAUSWAHL).

Das Glaukom ist eine häufige Erkrankung, die bei manchen Patient*innen zur Erblindung führen kann. Das Thema in einer Verbrauchersendung aufzugreifen, ist also lobenswert. Allerdings ist kein aktueller Anlass für die Sendung erkennbar, neue Studien werden nicht vorgestellt, es wird nicht recht deutlich, warum der Beitrag gerade jetzt erscheint. Daher werten wir nur knapp „ERFÜLLT“.

Medizinjournalistische Kriterien: 7 von 15 erfüllt

Abwertung um einen Stern, da zentrale Kriterien wie Nutzen, Risiken und Qualität der Evidenz nicht erfüllt sind.

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Kriterium erfüllt

Kriterium nicht erfüllt

Kriterium nicht anwendbar