„Mein groesster wunsch ist eine neue bett und das ich morgen mitkommen darf zum grillen“ – das kommuniziert ein vollständig gelähmter Mann 462 Tage nach der Einpflanzung von Elektroden in sein Gehirn, so berichtet ein Artikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (online) über eine aktuelle Studie. Der journalistische Beitrag beschreibt spannend und anschaulich, wie die Versuche bei diesem Patienten mit einem Complete-Locked-in-Syndrom abgelaufen sind, geht auch auf die Diskussion um einen der Studienautoren ein, den Tübinger Neurowissenschaftler Niels Birbaumer. Leider bleiben mögliche Risiken des Eingriffs jedoch unerwähnt.
Zusammenfassung
Was, wenn vollständig gelähmte Patienten mit Amyotropher Lateralsklerose (ALS) mit der Außenwelt kommunizieren könnten? Ein Artikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (online) berichtet über ein Verfahren, mit dem genau das gelungen ist. Einem Menschen mit einem vollständigen Locked-in-Syndrom gelang es, mit Hilfe implantierter Elektroden, seine Gedanken auszudrücken. Die positiven Effekte des Experiments werden im journalistischen Beitrag beschrieben, Risiken und Nebenwirkungen hingegen werden nicht angesprochen, obwohl es sich um einen Eingriff am Gehirn handelt. Alternative Behandlungsmöglichkeiten werden erwähnt, und es wird hinreichend deutlich, dass die Technik noch nicht breit verfügbar ist. Was dies jedoch für andere ALS-Patienten bedeutet, wird nicht erklärt, auch kommt kein unabhängiger Experte im Text zu Wort. In einem begleitenden Kommentar der Zeitung kommt ein langjähriger Bekannter einer der Studienautoren zu Wort, der in seiner Einschätzung jedoch offensichtlich befangen ist.
Die Kriterien
1. Die POSITIVEN EFFEKTE sind ausreichend und verständlich dargestellt (NUTZEN).
Die positiven Effekte sind verständlich erklärt: „Ein vierunddreißigjähriger, vollständig gelähmter, mit keiner Faser seines Körpers mehr bewegungs- und damit kommunikationsfähiger Mann, ein Patient im sogenannten Complete-Locked-in-Stadium, kurz CLIS, kann sich nun offenbar wieder dank einer neurotechnischen Intervention seiner Familie und der Welt mitteilen.“ Teilweise wird der Nutzen auch in konkrete Zahlen gefasst, wenn es etwa heißt: „An manchen Tagen konnte er kaum hundert Buchstaben ,aufsagen´, an anderen waren es viele ganze Sätze mit mehr als vierhundert Buchstaben. Im Schnitt war es etwas mehr als ein Buchstabe pro Minute – langsam im Vergleich zu anderen gängigen Verfahren, die Muskelbewegungen erfassen oder Augenableitungen nutzen.“
2. Die RISIKEN & NEBENWIRKUNGEN werden angemessen berücksichtigt.
Obwohl es sich um einen Eingriff am Gehirn handelt, gibt der Artikel keinerlei Information über mögliche Risiken und Nebenwirkungen.
3. Es wird klar, ob eine Therapie/ein Produkt/ein Test VERFÜGBAR ist.
Es wird im Text deutlich, dass es sich um eine experimentelle Behandlung handelt. Auch wird konkret erklärt, dass sie noch nicht breit verfügbar ist: „Von einer klinischen Routine jedoch ist ihre Technik dennoch weit entfernt.“ Dennoch wäre es hilfreich gewesen zu wissen, an wen sich Interessierte wenden könnten. Insgesamt werten wir jedoch „ERFÜLLT“.
4. Es werden ALTERNATIVE Behandlungsarten/Produkte/Tests vorgestellt.
Es wird deutlich, dass dies eine sehr spezielle Situation ist, weil der Patient tatsächlich völlig bewegungslos ist. Er leidet an einem Complete-Locked-in-Syndrom, verfügt also nicht über winzige Körperbewegungen wie etwa Augenbewegungen, die bei anderen Verfahren genutzt werden. Deutlich wird auch, dass die Forscher in diesem Fall einen anderen Ansatz gewählt haben als in der Vergangenheit: Statt auf Infrarotmessungen setzen sie diesmal auf Elektroden, die sie ins Gehirn des Patienten implantiert haben. Zudem wird das aktuelle Verfahren kurz mit anderen verglichen: „Im Schnitt war es etwas mehr als ein Buchstabe pro Minute – langsam im Vergleich zu anderen gängigen Verfahren, die Muskelbewegungen erfassen oder Augenableitungen nutzen.“ Daher werten wir insgesamt knapp „ERFÜLLT“.
5. Die KOSTEN werden im journalistischen Beitrag in angemessener Weise berücksichtigt.
Der Kostenaspekt wird nicht thematisiert, erscheint jedoch zunächst zweitrangig bei einem Einzelfall im experimentellen Stadium. Daher werten wir „ERFÜLLT“.
6. Es sind keine Anzeichen von Krankheitserfindungen/-übertreibungen zu finden (DISEASE MONGERING).
Die Krankheit wird sachlich eingeordnet: „Der Mann war an Amyotropher Lateralsklerose (ALS) erkrankt, einem seltenen nervenzerstörenden Leiden, das bei ihm ausgesprochen früh begann und schnell eskalierte. Die fortschreitende Lähmung bei ALS-Patienten erfasst nach und nach jeden Körperteil, jedes Organ. Statistisch trifft sie jährlich etwa zwei von hunderttausend Menschen.“
7. Der journalistische Beitrag ordnet die QUALITÄT der Belege/der Evidenz ein.
Es wird klar, dass es sich hier um eine Einzelfallstudie handelt: „Dieser besondere Fall ist nun ausführlich in der aktuellen Publikation dokumentiert.“ Allerdings werden die damit verbundenen Unsicherheiten nicht thematisiert, zum Beispiel, ob und wie sich die Ergebnisse auf andere Patienten übertragen lassen. Auch bleibt unklar, ob das Verfahren von der Forschergruppe bereits an anderen Patienten ausprobiert wurde. Daher werten wir insgesamt „NICHT ERFÜLLT“.
8. Es werden UNABHÄNGIGE EXPERTEN oder QUELLEN genannt.
Im Artikel gibt es keine Einordnung durch unabhängige Expert*innen. Ein begleitender Kommentar der Tageszeitung geht zwar auf die Forschungsvorgeschichte und Kritik an den Studienautoren Birbaumer und Chaudhary ein. Doch handelt es sich um einen Forscher, der Birbaumer seit 25 Jahren kennt und wie Birbaumer an der Uni Tübingen ein Labor betreibt, also nicht völlig unbefangen ist. Allein zur Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) wurde offenbar Kontakt aufgenommen. Daher werten wir insgesamt „NICHT ERFÜLLT“.
9. Es werden, falls vorhanden, INTERESSENKONFLIKTE im Beitrag thematisiert.
Laut Fachartikel liegen keine Interessenkonflikte vor, Birbaumer selbst hält zwei Patente, die hier jedoch keine Rolle spielen. Erstautor Ujwal Chaudhary hält keine Patente, ist jedoch laut Fachartikel mit der ALS Voice gGmbH verbunden, einer offenbar in Gründung befindlichen Firma, die das Verfahren möglicherweise kommerzialisieren will. Laut Webseite ist er dort Geschäftsführer. Diese Information wäre für den journalistischen Beitrag interessant gewesen. Der Autor des begleitenden Kommentars kennt den Seniorautor Birbaumer seit 25 Jahren, was aber transparent gemacht wird. Alles in allem werten wir daher nur knapp „ERFÜLLT“.
10. Der Beitrag liefert Informationen zur EINORDNUNG der Thematik in einen Kontext (Neuheit, Ethik).
Der Artikel ordnet den Hintergrund der persönlichen Forschungsgeschichte des Erst- und des Seniorautors Niels Birbaumer ein, bei der es unter anderem um unterstellten Forschungsbetrug geht, bis hin zum Entzug von Forschungsgeldern der DFG. Die Studie selbst wird im journalistischen Artikel als Durchbruch präsentiert. „Kann man von einem Wunder sprechen? Darf man das überhaupt, wenn es um Wissenschaft geht? Wer überzeugt ist, dass Gedankenlesen nicht funktioniert, nicht mit den heutigen Mitteln und Methoden der Hirnforschung, der muss sich wohl oder übel mit dem Wunderglauben begnügen und den Kopf weiter darüber schütteln, was soeben in der Zeitschrift ,Nature Communications` veröffentlicht worden ist.“ Dabei versäumt es der Artikel jedoch zu erklären, dass der Einsatz von Elektroden gar nicht neu ist, sondern bereits 2016 in einer Arbeit vorgestellt wurde. Der Unterschied besteht allein darin, dass die damals behandelte Patientin noch zu kleinen Muskelbewegungen der Augen fähig war, also nicht an einem kompletten Locked-in-Syndrom litt. Daher werten wir insgesamt „ NICHT ERFÜLLT“.
11. Der Beitrag gibt die wesentlichen Daten und Fakten korrekt wieder (FAKTENTREUE).
Im Vorspann ist die Formulierung „Dann lernt er, durch Drähte im Hirn zu sprechen“ ein wenig verwirrend, da sie suggeriert, der Patient würde tatsächlich wieder „sprechen“. Tatsächlich gelingt es nur, neuronale Signale, die der Patient augenscheinlich willentlich nach längerem Training erzeugen kann, als ‚ja‘ und ’nein‘ zu deuten und damit einzelne Buchstaben zu Wörtern zusammenzufügen.
Tatsächlich findet sich auch eine fehlerhafte Angabe im Text: „Nicht bis zum Jahr 2019, ebenjenem Jahr, in dem die Familie des jungen CLIS-Patienten Kontakt zu einer Tübinger Forschergruppe um Niels Birbaumer aufgenommen hatte.“ Kontakt bestand jedoch schon früher, in der Fachpublikation heißt es: „The patient anticipated complete loss of eye control and asked for an alternative communication system, which motivated the family to contact authors NB and UC for alternative approaches. Initial assessment sessions were performed in February 2018”. Daher werten wir insgesamt nur knapp “ERFÜLLT”.
12. Der Beitrag geht über eine Pressemitteilung/das Pressematerial hinaus (JOURNALISTISCHE EIGENLEISTUNG).
Der Artikel geht deutlich über die Presseankündigung des Fachmagazins hinaus.
13. Ein Beitrag vermittelt ein Thema interessant und attraktiv (ATTRAKTIVITÄT DER DARSTELLUNG).
Der Artikel ist interessant geschrieben, leitet mit einem feuilletonistischen Vergleich ein und verknüpft die wissenschaftliche Beschreibung der Erkrankung und des Verfahrens mit der Beschreibung des persönlichen Schicksals des Patienten und seinen Versuchen, sich auszudrücken. Diese Schwierigkeit wird selbst in den fehlerhaften Sätzen, die im Artikel inklusive der Fehler zitiert sind, deutlich und lässt Leserinnen und Leser zugleich mitleiden und hoffen mit dem Patienten. Negativ fällt allerdings die teils überzogene Sprache auf: „Ein wissenschaftliches Revival mit Ansage.“ Oder auch: „Kann man von einem Wunder sprechen?“ Hier wäre ein distanzierterer Ton wünschenswert gewesen. Daher werten wir nur knapp „ERFÜLLT“.
14. Der Beitrag ist für ein Laienpublikum verständlich (VERSTÄNDLICHKEIT).
Der Text erklärt die Forschung wie auch die Forschungsgeschichte nachvollziehbar und verständlich. Fachbegriffe werden vermieden, der Ablauf der Experimente ausführlich erläutert.
15. Das THEMA ist aktuell, relevant oder ungewöhnlich (THEMENAUSWAHL).
Der Artikel wurde einen Tag nach Veröffentlichung des Fachartikels publiziert, ist damit aktuell. Auch wenn es sich bei ALS um eine seltene Erkrankung handelt, ist das Verfahren samt der Diskussion um den Wissenschaftler Niels Birbaumer interessant.
Medizinjournalistische Kriterien: 11 von 15 erfüllt
Abwertung um einen Stern, weil viermal nur knapp „erfüllt“ gewertet und weil Nebenwirkungen und Risiko nicht thematisiert werden.