Bewertet am 22. Februar 2022
Veröffentlicht von: Der Standard

Können querschnittsgelähmte Menschen wieder gehen lernen? Ein aktueller Artikel in der österreichischen Tageszeitung „Der Standard“ geht auf eine aktuell publizierte Studie im Fachblatt Nature Medicine ein, in der Forschende über drei Patienten berichten, denen ebendies gelang. Mit Hilfe von speziellen Neuroimplantaten konnten sie mit Unterstützung eines Rollators wieder eine bestimmte Strecke laufen. Leider wird im journalistischen Beitrag jedoch zu wenig über Nutzen und Risiken des Eingriffs berichtet, auch wird die Studie nur kurz in den Gesamtkontext der Forschung zu Querschnittslähmungen gestellt.

Zusammenfassung

Große Hoffnungen sind stets damit verbunden, wenn Forschende über Ansätze berichten, Querschnittsgelähmten das Laufen wieder zu ermöglichen. Umso wichtiger ist es daher, die Erfolge richtig einzuordnen und mögliche Risiken zu benennen. Ein journalistischer Beitrag in „Der Standard“ greift eine hoch interessante Studie im Fachblatt Nature Medicine auf, in der über eben solche Versuche an drei Patienten berichtet wird. Auch kommt ein an der Studie unbeteiligter Experte zu Wort. Allerdings wird der Nutzen und auch die technischen Details des Therapieansatzes nur vage beschrieben, mögliche Risiken nicht erwähnt. Ebenso wenig geht der Artikel weder auf mögliche Interessenkonflikte noch auf Forschungsansätze anderer Arbeitsgruppen ein. Insgesamt geht der journalistische Beitrag nur wenig über die vorliegende Pressemitteilung zur Studie hinaus.

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Die Kriterien

1. Die POSITIVEN EFFEKTE sind ausreichend und verständlich dargestellt (NUTZEN).

Es wird deutlich, dass die „sogenannte Elektrostimulation zur Überwindung von Querschnittslähmungen beitragen kann“. Ergänzend heißt es noch: „Die große Weiterentwicklung seien die längeren und breiteren implantierten Elektroden, sagt Bloch. ,Das gibt uns eine präzise Kontrolle über die Neuronen, die bestimmte Muskeln regulieren.‘“ Und schließlich werden noch weitere körperliche Aktivitäten in Aussicht gestellt: „So wird neben dem Gehen etwa auch Schwimmen oder Radfahren möglich.“ Es fehlen jedoch genauere Informationen dazu: Wie lange können sie diese Aktivitäten ausüben, war der Erfolg bei allen drei Patienten gleich groß? Daher werten wir insgesamt nur knapp „ERFÜLLT“.

2. Die RISIKEN & NEBENWIRKUNGEN werden angemessen berücksichtigt.

Es gibt keinerlei Informationen zu Risiken und Nebenwirkungen. Können die Implantate dauerhaft im Körper bleiben? Welche Risiken sind damit möglicherweise verbunden? Diese Fragen werden leider im journalistischen Beitrag nicht angesprochen.

3. Es wird klar, ob eine Therapie/ein Produkt/ein Test VERFÜGBAR ist.

Es wird zwar deutlich, dass erst drei Patienten damit behandelt wurden, es sich also nicht um eine breit verfügbare Therapie handelt. Doch fehlt leider jegliche Information dazu, ob es beispielweise möglich ist, als Patient an der Studie teilzunehmen oder auch, bis wann die Therapie breiter verfügbar sein könnte. Da solche Berichte bei Betroffenen große Hoffnungen wecken, wären solche Informationen enorm wichtig gewesen. Daher werten wir nur knapp „ERFÜLLT“.

4. Es werden ALTERNATIVE Behandlungsarten/Produkte/Tests vorgestellt.

Es wird zwar kurz über vorausgegangene Experimente zur Elektrostimulation berichtet, nicht aber über andere experimentelle Ansätze zur Therapie von Querschnittslähmungen, etwa Versuche mit Stammzellen und zur Regeneration von Rückenmarksgewebe (siehe z.B. hier oder hier).

5. Die KOSTEN werden im journalistischen Beitrag in angemessener Weise berücksichtigt.

Die Kosten spricht der Beitrag nicht an, und damit auch nicht die Frage, ob solche Verfahren für eine breite Anwendung überhaupt in Frage kommen.

6. Es sind keine Anzeichen von Krankheitserfindungen/-übertreibungen zu finden (DISEASE MONGERING).

Die gravierenden Einschränkungen durch eine Querschnittslähmung werden nicht übertrieben dargestellt.

7. Der journalistische Beitrag ordnet die QUALITÄT der Belege/der Evidenz ein.

Es wird im Wesentlichen ein Fallbeispiel für die neue Therapie vorgestellt. Kurz erwähnt wird, dass die Technik bei insgesamt drei Patienten zur Anwendung kam. Doch wird nicht klar, wie genau die Experimente aufgebaut waren, ob sie bei den drei bislang behandelten Patienten bereits abgeschlossen sind. Auch bleibt unerwähnt, ob die Ergebnisse bei allen drei Patienten ähnlich gut ausfielen. Ebenso wenig wird erklärt, dass sich aus Versuchen an einer so kleinen Anzahl nur sehr beschränkt Schlussfolgerungen für eine breite Anwendung der Therapie ziehen können. Ob noch weitere Probanden eingeplant sind, bleibt ebenfalls unklar.

8. Es werden UNABHÄNGIGE EXPERTEN oder QUELLEN genannt.

Hauptquelle des journalistischen Beitrags stellt eine Pressemitteilung zu einem Paper in „Nature Medicine“ dar. Am Ende des Artikels findet sich zusätzlich noch eine kurze, kritischen Einschätzung eines nicht an dieser Publikation beteiligten Wissenschaftlers, Winfried Mayr. Es wird im Beitrag jedoch nicht deutlich, welche Expertise Winfried Mayr hat, nicht einmal sein Fachgebiet oder Institut werden genannt, sondern lediglich die Med-Uni Wien. Zudem ist Mayr laut eigenen Angaben im Ruhestand (siehe Interessenkonflikte), auch das hätte im Beitrag erwähnt werden sollen. Mayr schränkt ein, dass das Verfahren vor allem für Patientinnen und Patienten mit einer „diskompletten Lähmung“ anwendbar sei. In der wissenschaftlichen Veröffentlichung und der Pressemitteilung wird dagegen gerade betont, dass die drei Patienten an einer vollständigen Verletzung des Rückenmarks („complete spinal injury“) litten. Hier wäre zwingend eine Nachfrage nötig gewesen, um diesen Widerspruch zu klären. Allerdings stammt sein Kommentar aus einem Briefing des Science Media Centers Germany.

Es wäre wünschenswert gewesen, in diesem Zusammenhang das Science Media Center als Quelle zu erwähnen, ebenso wie auch die Pressemitteilung des EPFL. Daher werten wir insgesamt nur knapp „ERFÜLLT“.

9. Es werden, falls vorhanden, INTERESSENKONFLIKTE im Beitrag thematisiert.

Der vom Science Media Center befragte Experte Winfried Mayr äußerte sich dort folgendermaßen zu möglichen Interessenkonflikten: „Dr. Minassian war vor Jahren vorübergehend als Postdoc in einem meiner Projekte angestellt, daher haben wir einige gemeinsame Publikationen. Er hat 2016 auf eine Stelle im EPFL gewechselt und es gibt seither weder Kontakt noch gemeinsame Aktivitäten. Er ist kürzlich an die Med-Uni Wien zurückgekehrt, während ich inzwischen im Ruhestand bin.“ Das hätte erwähnt werden sollen, da im journalistischen Beitrag Dr. Minassian besonders hervorgehoben wird. Zudem wird die Verbindung mehrerer  Studienautoren mit dem Unternehmen „ONWARD Medical“ als Berater und Besitzer von Aktien im Beitrag nicht genannt. Auch dass einige der beteiligten Forscher Patente innehaben, die mit den vorgestellten Arbeiten in Verbindung stehen, erfahren Leserinnen und Leser nicht (siehe hier).

10. Der Beitrag liefert Informationen zur EINORDNUNG der Thematik in einen Kontext (Neuheit, Ethik).

Anfangs wird immerhin erwähnt, dass es vor Jahren relevante Entwicklungen gab. „Die Bilder gingen Ende 2018 um die Welt: David Mzee, der seit 2010 durch eine bei einem Sportunfall erlittene partielle Rückenmarksverletzung gelähmt war, stand aus seinem Rollstuhl auf und begann mithilfe einer Gehhilfe Schritte zu machen.“ Doch werden die vorgestellten, aktuellen Fallbeschreibungen in keinen größeren Kontext gestellt: Wie viele Menschen sind von Querschnittslähmungen betroffen? Wie werden sie bisher behandelt? Wie wurden die Versuchspersonen für diese Studie ausgewählt und welche ethischen Gesichtspunkte sind bei solchen Versuchen / experimentellen Therapien zu beachten? Daher werten wir insgesamt knapp „NICHT ERFÜLLT“.

11. Der Beitrag gibt die wesentlichen Daten und Fakten korrekt wieder (FAKTENTREUE).

Der Beitrag führt aus, dass den Patienten ein Herzschrittmacher in den Bauch transplantiert worden sei. Laut Paper handelt es sich um den Activa RC implantable pulse generator (IPG). Dies ist jedoch ein Neurostimulator. Vermutlich handelt es sich hier um einen Übersetzungsfehler – in der englischsprachigen Pressemitteilung zum Fachartikel ist von einem „Pacemaker“ die Rede.

12. Der Beitrag geht über eine Pressemitteilung/das Pressematerial hinaus (JOURNALISTISCHE EIGENLEISTUNG).

Der Beitrag übernimmt einige Passagen aus der Pressemeldung im Wortlaut, zum Beispiel: „Die Bilder gingen Ende 2018 um die Welt: David Mzee, der seit 2010 durch eine bei einem Sportunfall erlittene partielle Rückenmarksverletzung gelähmt war, stand aus seinem Rollstuhl auf und begann mithilfe einer Gehhilfe Schritte zu machen.“ (Zum Vergleich die Pressemeldung: „Das Bild ging Ende 2018 um die Welt. David Mzee, der nach einem Sportunfall mit teilweiser Rückenmarksverletzung querschnittsgelähmt war, konnte seinen Rollstuhl verlassen und dank einer Gehhilfe wieder gehen.“)

Immerhin gehen die Kommentare jenes Experten, der vom Science Media Center befragt wurde, über die Pressemitteilung hinaus. Daher werten wir knapp „ERFÜLLT“.

13. Ein Beitrag vermittelt ein Thema interessant und attraktiv (ATTRAKTIVITÄT DER DARSTELLUNG).

Das Fallbeispiel ist sicher gut geeignet, Leserinnen und Leser für das Thema zu interessieren. Insgesamt aber bleibt der Text zu sehr im Duktus der Pressemitteilung. So wird der Wechsel eines an der Studie beteiligten Wissenschaftlers von einer Hochschule zur anderen und zurück erwähnt, bevor überhaupt die Studienergebnisse beschrieben werden: „Ko-Autor ist Karen Minassian, der 2016 von der Med-Uni Wien an die EPFL wechselte und vor kurzem wieder an die Med-Uni Wien zurückkehrte.“

14. Der Beitrag ist für ein Laienpublikum verständlich (VERSTÄNDLICHKEIT).

Der journalistische Beitrag schafft es, zumindest eine grobe Vorstellung von der Funktionsweise des Geräts zu vermitteln. Wichtige Fragen bleiben jedoch ungeklärt: Wie genau werden die Elektroden eingesetzt, wie invasiv ist das Verfahren? Wie sieht das Training aus? Zudem finden sich vereinzelt etwas sperrige Formulierungen: „Letztlich ermöglicht dies eine größere Selektivität und Genauigkeit bei der Steuerung der Bewegungsabläufe für eine bestimmte Aktivität.“ Oder auch hier: „Zum einen könnten damit vor allem Patientinnen und Patienten mit einer sogenannten „diskompletten Lähmung“ behandelt werden, bei der noch Reste der Aktivität der Nervenfasern vorhanden sind.“ Was genau eine diskomplette Lähmung ist und wie groß der Anteil der Patienten mit dieser Art von Lähmung ist, wird jedoch nicht erklärt. Und schließlich bleibt auch diese Textpassage unverständlich: „Sein linker Fuß hebt sich daraufhin wie von Geisterhand und senkt sich einige Zentimeter vor ihm zu Boden.“ Woher wissen die Autoren, dass sich der Fuß wie von Geisterhand abhebt? Sie waren ganz offensichtlich nicht dabei.

15. Das THEMA ist aktuell, relevant oder ungewöhnlich. (THEMENAUSWAHL).

Es handelt sich um eine Aufsehen erregende Studie, die aktuell im Fachblatt Nature Medicine erschienen ist. Zusätzlich gibt es noch einen lokalen, österreichischen Bezug: Einer der Studienautoren arbeite an der Med-Uni Wien.

Medizinjournalistische Kriterien: 6 von 15 erfüllt

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Kriterium erfüllt

Kriterium nicht erfüllt

Kriterium nicht anwendbar