Bewertet am 21. Dezember 2021
Veröffentlicht von: Tagesspiegel

Über einen originellen Ansatz zur möglichen Bekämpfung der aktuellen Covid-19-Pandemie berichtet Der Tagesspiegel (online). Ein Kaugummi könnte dabei helfen, das Risiko einer Übertragung der Corona-Viren zu reduzieren. Von Beginn wird deutlich, dass es sich bei der vorgestellten wissenschaftlichen Studie nur um erste Ergebnisse aus dem Labor handelt. Allerdings wurde keine unabhängige Expert*in dazu befragt, um die Aussagekraft der Untersuchung einzuordnen.

Zusammenfassung

Ein Kaugummi, um das Infektionsrisiko mit Sars-CoV-2 zu reduzieren, stellt einen innovativen Forschungsansatz dar. Der mögliche Nutzen besagten Kaugummis wird hinreichend deutlich und es wird auch klar, dass es sich um Laborexperimente handelt. Auch wird deutlich, dass es bereits andere Ansätze gibt, jenes Protein ACE-2 gegen das Virus einzusetzen, das auch für den Kaugummi angedacht ist. Auf mögliche Risiken und Nebenwirkungen geht der Beitrag indes nicht ein, unbeteiligte Expert*innen werden nicht zitiert. Der Artikel macht auch nicht deutlich, in welchen Situationen ein solcher Kaugummi letztlich einzusetzen wäre oder dass es sich um eine vergleichsweise günstige Methode handeln könnte. Insgesamt bietet der gut lesbare Artikel einen kurzen Überblick über eine originelle Idee, die aktuelle Pandemie zu bekämpfen.

Title

Die Kriterien

1. Die POSITIVEN EFFEKTE sind ausreichend und verständlich dargestellt (NUTZEN).

Der Beitrag beschreibt, dass in Laborversuchen der Kaugummi Coronaviren unschädlich gemacht hat: „Tatsächlich nahm die Konzentration freier Viren um mehr als 95 Prozent ab.“ Er weist auch darauf hin, dass es sich nur um Laborversuche handelt und Untersuchungen an Menschen erst noch folgen müssen „Ob Ähnliches auch in realen Mündern passiert, müssten aber erst Studien mit Menschen zeigen.“ Bereits die Konjunktive in der Überschrift machen klar, dass zum Nutzen viele Fragen offen sind. Es wird auch deutlich, wie dieser Ansatz funktionieren soll: „Daniell und sein Team kamen auf die Idee, zu diesem Zweck ein Virenfänger-Kaugummi zu entwickeln. Das Prinzip: Spezielle Moleküle würden Viren aus dem Speichel binden und unschädlich machen. (…) Das Fallensteller-ACE-2 im Kaugummi soll also Viren, bevor sie an Zellen andocken oder per Tröpfchen in die Luft oder auf Oberflächen oder die Schleimhäute anderer Menschen gelangen können, im Speichel abfangen.“

Allerdings wäre noch eine Einordnung dazu hilfreich gewesen, welche Rolle Viren in der Nase oder im Rachen (wo üblicherweise die Abstriche für die PCR-Tests oder Schnelltests erfolgen) im Vergleich zum Speichel in der Mundhöhle für die Verbreitung von SARS-CoV-2 spielen. Das hätte unmittelbare Auswirkungen auf die Frage, wie aussichtsreich der Forschungsansatz überhaupt ist. Insgesamt werten wir aber noch „ERFÜLLT“.

2. Die RISIKEN & NEBENWIRKUNGEN werden angemessen berücksichtigt.

Im journalistischen Beitrag wird deutlich, dass bisher nur Laborstudien vorliegen: „Die ersten Forschungsergebnisse stammen aus dem Labor.“ Der Forscher Daniell wird indirekt zur Sicherheit zitiert: „Ein Vorteil des Kaugummis wäre, sagt Daniell,  dass das Enzym nicht oder zumindest kaum in den Körper gelangt: ,ACE-2 bindet an das Spike-Protein von Sars-CoV-2 und hält das Virus im Kaugummi fest‘, so der Dentalmediziner.“ Es bleibt hier unklar, ob das direkte Zitat das indirekte untermauern soll oder es sich um zwei verschiedene Aussagen handelt. Die zweite Aussage wäre zumindest kein Beleg für die erste, weil die beiden Fakten nicht in einem inhaltlichen Zusammenhang stehen. Wirkstoffe aus Kaugummis können verschluckt werden, gerade weil sie sich im Speichel verteilen (den man auch unwillkürlich schluckt). Ob das Protein ACE-2 vom Körper aufgenommen wird, wurde in der Studie nicht untersucht. Insofern beruhen die Aussagen zur Sicherheit allein auf der Einschätzung des Forschers. Daher werten wir „NICHT ERFÜLLT“.

3. Es wird klar, ob eine Therapie/ein Produkt/ein Test VERFÜGBAR ist.

Der Artikel macht mehrfach deutlich, dass sich die Anwendung noch im Experimentalstadium befindet und nicht auf dem Markt ist, etwa hier: „Offiziell gekaut hat den Gummi aber noch kein Mensch. Die ersten Forschungsergebnisse stammen aus dem Labor.“

4. Es werden ALTERNATIVE Behandlungsarten/Produkte/Tests vorgestellt.

Der Beitrag stellt zwei weitere experimentelle Therapieansätze vor, die auf ähnlichen Mechanismen beruhen: „Das österreichische Biotech-Unternehmen Apeiron etwa gab im Oktober den Beginn einer ersten Studie mit Menschen, die gentechnisch hergestelltes ACE-2 (dann APN01genannt) inhalieren würden, bekannt.“ und „Ein Team um Vanessa Monteil vom Stockholmer Karolinska Institut etwa präsentierte schon Anfang des Jahres Laborergebnisse, die darauf hinweisen, dass APN01 kombiniert mit Remdesivir gut wirken und die nötigen Remdesivir-Dosen senken könnte.“ Allerdings wird auf andere, bekannte Alternativen wie das Tragen von Masken, nicht eingegangen. Die sollten jedoch inzwischen hinlänglich bekannt sein. Daher werten wir insgesamt „ERFÜLLT“.

5. Die KOSTEN werden im journalistischen Beitrag in angemessener Weise berücksichtigt.

Kosten werden nicht thematisiert. Zwar liegen bisher nur Ergebnisse aus Laborstudien vor. Dennoch hätte man darauf hinweisen können, dass ein Kaugummi mit einem Proteinzusatz keine allzu teure Methode sein dürfte, zumal dies in der Pressemitteilung kurz thematisiert wird. Daher werten wir „NICHT ERFÜLLT“.

6. Es sind keine Anzeichen von Krankheitserfindungen/-übertreibungen zu finden (DISEASE MONGERING).

Covid-19 wird nicht übertrieben dargestellt.

7. Der journalistische Beitrag ordnet die QUALITÄT der Belege/der Evidenz ein.

Der Beitrag weist darauf hin, dass bisher nur Laborstudien vorliegen und noch Studien an Patienten folgen müssen: „Offiziell gekaut hat den Gummi aber noch kein Mensch. Die ersten Forschungsergebnisse stammen aus dem Labor. Pulverisierte Kaugummis mit ACE-2 wurden mit Coronaviren gemischt. (…) Ob Ähnliches auch in realen Mündern passiert, müssten aber erst Studien mit Menschen zeigen.“ Das fasst einen Teil der Forschung sehr kurz zusammen. An wie vielen Proben von wie vielen Studienteilnehmern die Wirkung des Kaugummis getestet wurde, bleibt allerdings völlig offen. Daher werten wir insgesamt nur knapp „ERFÜLLT“.

8. Es werden UNABHÄNGIGE EXPERTEN oder QUELLEN genannt.

Zum Kaugummi kommt nur der Forscher selbst zu Wort. Es findet sich jedoch keine unabhängige Einordnung der Ergebnisse oder zu der Frage, ob der Ansatz aussichtsreich erscheint.

9. Es werden, falls vorhanden, INTERESSENKONFLIKTE im Beitrag thematisiert.

Der Beitrag macht deutlich, dass der zitierte Forscher federführend an der Idee und der Studie beteiligt war: „Daniell und sein Team kamen auf die Idee, zu diesem Zweck ein Virenfänger-Kaugummi zu entwickeln.“ Zu weiteren Interessenkonflikten findet sich im Fachartikel auch kein Hinweis. In einer Datenbank zeigt sich, dass der Erstautor zahlreiche Patente besitzt, jedoch keines zu diesem Kaugummi, siehe auch: patents.google.com/patent

10. Der Beitrag liefert Informationen zur EINORDNUNG der Thematik in einen Kontext (Neuheit, Ethik).

Der Artikel weist darauf hin, dass es sich bei einem Kaugummi um einen neuen Ansatz handelt. Er diskutiert aber nicht andere orale, bereits getestete Optionen wie Mundspülungen. Auch bleibt offen, ob „Kaugummis“ nicht auch schon für andere Zwecke in ähnlicher Form eingesetzt wurden. In welchem Kontext diese Kaugummis eingesetzt werden könnten, wird ebenfalls nicht erwähnt. So wird in der Pressemitteilung explizit auf die Situation beim Zahnarzt hingewiesen, bei dem in großer Nähe und ohne Mundschutz des Patienten gearbeitet werden muss. Dort könnte die Gabe eines solchen Kaugummi vorab hilfreich sein. Daher werten wir insgesamt nur knapp „ERFÜLLT“.

11. Der Beitrag gibt die wesentlichen Daten und Fakten korrekt wieder (FAKTENTREUE).

Im Artikel heißt es: „Tatsächlich nahm die Konzentration freier Viren um mehr als 95 Prozent ab.“ Tatsächlich aber wurde die Konzentration der Viren gar nicht direkt bestimmt, sondern die ACE-2-Aktivität. Insgesamt werten wir jedoch „ERFÜLLT“.

12. Der Beitrag geht über eine Pressemitteilung/das Pressematerial hinaus (JOURNALISTISCHE EIGENLEISTUNG).

Der Beitrag stellt zwei weitere experimentelle Therapieansätze vor, die in der Pressemitteilung nicht genannt werden.

13. Ein Beitrag vermittelt ein Thema interessant und attraktiv (ATTRAKTIVITÄT DER DARSTELLUNG).

Der Artikel lässt sich gut lesen, wechselt zwischen langen und kurzen Sätzen. Der Forscher wird zweimal zitiert, der Beitrag deutet auch die Hintergrundgeschichte der Idee an. Angesichts des frühen Stadiums der Forschungsergebnisse ist es angemessen, das nicht zu vertiefen (etwa die Kooperation der beteiligten Forscher), auch wenn das Material der Pressemitteilung dazu eingeladen hätte.

14. Der Beitrag ist für ein Laienpublikum verständlich (VERSTÄNDLICHKEIT).

Die Mechanismen, mit denen versucht wird, über ACE-2 die Viren einzufangen, werden verständlich erklärt, auch durch Begriffe wie „Virenfänger“ oder „Fallensteller-ACE-2“. Lediglich die Formulierung „Offiziell gekaut hat den Gummi noch kein Mensch.“ erscheint ein wenig schief, um auszudrücken, dass das Kaugummi bisher nur in zerbröselter Form in der Petrischale wirken konnte. Dies wäre ja keine Frage von „offiziell“ oder „inoffiziell“.

15. Das THEMA ist aktuell, relevant oder ungewöhnlich. (THEMENAUSWAHL).

In der aktuellen Pandemie-Situation ist die Frage, wie sich das Risiko für Infektionen senken lässt, sehr relevant. Hierbei handelt es sich zudem um einen originellen Ansatz (Kaugummi), der indes nicht ganz zeitnah veröffentlicht wurde: Die Studie erschien bereits am 10. November. Angesichts der Vorläufigkeit des Ergebnisses lässt sich die Verspätung noch verschmerzen.

Medizinjournalistische Kriterien: 12 von 15 erfüllt

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Kriterium erfüllt

Kriterium nicht erfüllt

Kriterium nicht anwendbar