Bewertet am 1. Oktober 2021
Veröffentlicht von: Der Spiegel (online)

Noch ist unklar, wie viele Corona-Infizierte Langzeitfolgen davontragen werden. Klar ist jedoch durchaus, dass die Folgen zumindest für manche der Patienten gravierend sein können. Auch deshalb haben Heilversuche an Long-Covid-Patienten mit dem Wirkstoff BC 007 am Universitätsklinikum Erlangen große Aufmerksamkeit erregt. Der Spiegel (online) greift das Thema auf und ordnet den Sachverhalt mit Hilfe unabhängiger Experten auf gelungene Art ein. Sehr anschaulich wird über die Erfahrung eines Patienten berichtet, der Text ist auch weitgehend gut verständlich.

Zusammenfassung

Ein Artikel von Der Spiegel (online) berichtet über einen offenbar erfolgreichen Heilversuch an einem Long-Covid-Patienten. Häufig sind journalistische Beiträge über solche individuellen Therapieversuche, zu denen es an aussagekräftigen Studien fehlt, problematisch, weil sie zu früh zu viel Hoffnung wecken können. In diesem Fall halten wir die Berichterstattung jedoch für gerechtfertigt. In einer Situation, in der es an wirksamen erprobten Therapien fehlt, hat der Fall viel Aufmerksamkeit erhalten, daher scheint ein einordnender Beitrag wichtig. Der Artikel macht auch mit Zitaten unbeteiligter Experten deutlich, wie gering die Aussagekraft über den individuellen Fall hinaus ist, und dass erst künftige Studien zeigen werden, ob tatsächlich ein wirksames Medikament vorliegt. Auch wenn der Text weitgehend gut verständlich ist, hätte der Zusammenhang zur Forschung am grünen Star und zur Herzmuskelschwäche noch ausführlicher erklärt werden können. Insgesamt jedoch ein Beitrag, der sehr gelungen die Thematik des Heilversuchs aufgreift und fachlich einordnet.

Title

Die Kriterien

1. Die POSITIVEN EFFEKTE sind ausreichend und verständlich dargestellt (NUTZEN).

Der Wirkstoff BC 007 soll Autoimmunantikörper aus dem Blut von Long-Covid-Patienten eliminieren. Tatsächlich waren bei den beiden beschriebenen Fällen direkt nach der Infusion keine Autoantikörper mehr messbar. Als Leser erfährt man, dass es den Patienten, die das Mittel bekommen haben, schon bald besser ging. „,Ich konnte mich mit den Ärzten um mich herum unterhalten, plötzlich konnte ich wieder logische Zusammenhänge nachvollziehen und Nachfragen stellen´, erinnert er sich. ,Im Anschluss bin ich dann auf mein Zimmer gegangen und konnte tatsächlich ein Buch lesen, die Treppen selbstständig hinuntergehen, ohne den Handlauf zu benutzen.´“ Ob die Verbesserung jedoch wirklich auf das Medikament zurückzuführen ist, kann nach einem Fallbericht niemand sagen. In dem Artikel heißt es dazu: „Ungeklärt bleibt, ob die ursprünglichen Beschwerden überhaupt durch die Autoantikörper ausgelöst wurden und ob nicht auch die positive Erwartungshaltung der Patienten eine Rolle gespielt hat.“ Allerdings wäre es wichtig und interessant gewesen, auch etwas über die beiden anderen erfolgreichen Heilversuche zu erfahren. Daher werten wir nur knapp „ERFÜLLT“.

2. Die RISIKEN & NEBENWIRKUNGEN werden angemessen berücksichtigt.

Nebenwirkungen sollen laut Artikel bislang nicht aufgetreten sein, allerdings wurden erst vier Patienten behandelt – ob es noch weitere Heilversuche gab, wird aus dem journalistischen Beitrag nicht deutlich. Immerhin liefern Daten aus einer klinischen Studie zur Therapie einer anderen Erkrankung mit dem Wirkstoff BC 007 Hinweise darauf: „Immerhin kann man aus den Ergebnissen bereits schließen, dass das Mittel zumindest in den drei Monaten Beobachtungszeitraum sicher zu sein scheint, in der Studie sind bisher keine schwerwiegenden Nebenwirkungen bei den insgesamt gut 100 Probandinnen und Probanden aufgetreten.“ Dass seltene Nebenwirkungen in einer so kleinen Studie oft nicht erkannt werden, bleibt allerdings unerwähnt. Daher werten wir nur knapp „ERFÜLLT“.

3. Es wird klar, ob eine Therapie/ein Produkt/ein Test VERFÜGBAR ist.

Es wird klar, dass das Medikament bislang nicht verfügbar ist: Zum einen fehlen die für einen breiten Einsatz nötigen Studien, die einer Zulassung vorausgehen müssen. Zum anderen gibt es derzeit auch nicht genug BC 007 für weitere Heilversuche („Nun gibt es keine Dosen mehr, Nachschub kann erst produziert werden, wenn es dafür einen Grund gibt, etwa die Verwendung innerhalb einer klinischen Studie.“) Darüber hinaus wird darüber informiert, dass das Medikament im Falle einer Zulassung möglicherweise schnell zur Verfügung stehen könnte („…,Wenn alles perfekt läuft, könnten wir vielleicht im Spätverlauf des nächsten Jahres mit einer Zulassung rechnen.´ Dann könnte BC 007 schnell zum Einsatz kommen, denn die Herstellung sei relativ einfach. ,Das Medikament ist extrem stabil, es kann bei Zimmertemperatur gelagert werden und verfällt nicht nach kurzer Zeit´“).

4. Es werden ALTERNATIVE Behandlungsarten/Produkte/Tests vorgestellt.

„Eine spezifische Therapie gegen Long Covid gibt es bisher nicht“, erfährt man im journalistischen Beitrag. Dennoch gibt es bereits Behandlungsmöglichkeiten, die im Artikel hätten erwähnt werden können. Leider erfährt man auch nicht, ob es zumindest andere Ansätze, Wirkstoffe oder Therapien gibt, die für diese Patienten geprüft werden.

5. Die KOSTEN werden im journalistischen Beitrag in angemessener Weise berücksichtigt.

Zu Kosten macht der Beitrag keine Aussage. Zumindest ein Hinweis, ob es sich um ein in der Herstellung sehr teures oder eher kostengünstiges Medikament handeln würde, wäre eine interessante Information gewesen.

6. Es sind keine Anzeichen von Krankheitserfindungen/-übertreibungen zu finden (DISEASE MONGERING).

Der Beitrag übertreibt die Long-Covid-Problematik nicht. Er macht klar, dass es sich nicht um ein einheitliches Krankheitsbild handelt, und dass bislang wenig über die Ursachen bekannt ist („,Es gibt Menschen, die nach einer Covid-19-Erkrankung strukturelle Organschädigungen haben, etwa durch den Aufenthalt auf der Intensivstation oder weil das Virus das Lungengewebe zerstört hat. Dann hat man Menschen, die ein sogenanntes Fatigue-Syndrom entwickeln, und es gibt Menschen mit ganz diffusen Symptomen. Wir glauben nicht, dass das alles die gleichen Krankheitsbilder sind. Daher kann es auch kein Medikament geben, das gegen alles wirkt.´ Auch die psychosomatische Komponente bei Long Covid gelte es zu berücksichtigen.“)

7. Der journalistische Beitrag ordnet die QUALITÄT der Belege/der Evidenz ein.

An mehreren Stellen weist der Beitrag darauf hin, dass die Aussagekraft eines solchen individuellen Heilversuchs sehr begrenzt ist, und dass es an Studien fehlt, die die Wirksamkeit des Medikaments belegen könnten, etwa hier: „Heilversuche sind ärztliche Behandlungen, die von medizinischen Standards abweichen und zum Einsatz kommen, wenn andere Therapieoptionen ausgeschöpft oder nicht vorhanden sind. Ärztinnen und Ärzte entscheiden individuell, ihre Patienten mit Methoden zu behandeln, die teilweise keine wissenschaftlichen Grundlagen haben – etwa mit nicht zugelassenen Medikamenten.“  Und hier wird erklärt, warum klinische Studien wichtig sind: „Um die Sicherheit und Wirksamkeit von Medikamenten systematisch für bestimmte Krankheiten und Bevölkerungsgruppen zu erforschen, muss eine klinische Studie durchgeführt werden. Bei Long Covid kommt erschwerend hinzu, dass die Ursachen für die Symptome bislang noch nicht ausreichend untersucht sind.“ Auch in den Zitaten der befragten Experten (siehe auch Kriterium 8) wird deutlich, dass es keine ausreichenden Belege für die Wirksamkeit gibt – so fragt ein Experte „ob es eine laufende, placebokontrollierte Studie gebe, wie der genaue Wirkmechanismus sei, bei welchen Long-Covid-Patienten es angewendet werden solle. Er hält eine kontrollierte Studie für wichtig, um valide Informationen zur Beurteilung zu haben. Solange es die nicht gibt, ist Koczulla skeptisch.“

8. Es werden UNABHÄNGIGE EXPERTEN oder QUELLEN genannt.

Neben der behandelnden Ärztin und einem Vertreter des Unternehmens, das das Medikament herstellt, werden weitere Experten befragt, die sich eher skeptisch äußern. So warnt Tobias Welte von der Medizinischen Hochschule Hannover „davor, den Betroffenen zu viel Hoffnung zu machen. Denn wenn überhaupt, käme BC 007 nur für eine sehr kleine Gruppe von Patienten infrage – und eine Zulassung ist noch weit entfernt.“ Zusätzlich kommt Rembert Koczulla zu Wort, Chefarzt der Pneumologie in der Schön-Klinik im Berchtesgadener Land.

9. Es werden, falls vorhanden, INTERESSENKONFLIKTE im Beitrag thematisiert.

Der Beitrag erwähnt keine Interessenkonflikte. Laut Fallstudie papers.ssrn.com/sol3 sind bei der zitierten Ärztin Bettina Hohberger keine gegeben. Wir haben auch sonst keine Hinweise auf Interessenkonflikte gefunden, die hier zu nennen wären und werten daher „ERFÜLLT“. Dass die Aussagen des Firmenvertreters interessengeleitet sind, dürfte klar sein.

10. Der Beitrag liefert Informationen zur EINORDNUNG der Thematik in einen Kontext (Neuheit, Ethik).

Eine komplette Neuentwicklung ist der Wirkstoff nicht, das wird im journalistischen Beitrag deutlich. Im Artikel erfährt man, dass er eigentlich für eine andere Krankheit entwickelt wurde: „Ursprünglich wurde BC 007 für Patienten mit einer bestimmten Form von Herzmuskelschwäche entwickelt, die ebenfalls durch Autoantikörper bedingt sein kann. Es ist noch nicht zugelassen, derzeit befindet es sich in Phase II einer klinischen Studie.“ Hier hätte man noch kurz erklären können, was es bedeutet, wenn ein Medikament in der zweiten Phase der klinischen Studien ist. In diesen Untersuchungen werden die Sicherheit und Wirksamkeit einer Therapie erstmals an Patienten getestet. Das dürften die meisten Leser nicht wissen.

11. Der Beitrag gibt die wesentlichen Daten und Fakten korrekt wieder (FAKTENTREUE).

Wir haben keine Faktenfehler gefunden.

12. Der Beitrag geht über eine Pressemitteilung/das Pressematerial hinaus (JOURNALISTISCHE EIGENLEISTUNG).

Der Beitrag geht mit der Schilderung des individuellen Falls und mit der Befragung kritischer externer Experten klar über die Pressemitteilung hinaus.

13. Ein Beitrag vermittelt ein Thema interessant und attraktiv (ATTRAKTIVITÄT DER DARSTELLUNG).

Der Beitrag bemüht sich mit der Beschreibung des vorgestellten Patienten um eine lockere Darstellung. Indes wirkt diese an einigen Punkten etwas aufgesetzt, etwa hier: „…trägt eine Sportsonnenbrille mit pinken Gläsern auf seinem Basecap, an deren Rändern grau melierte, kurze Haare hervorschauen“. Unangemessen reißerisch erscheint die Aussage, dass die WhatsApp-Nachricht eines Freundes dem Patienten „das Leben gerettet haben könnte“ – von lebensbedrohlichen Symptomen des Protagonisten ist ansonsten nicht die Rede. Insgesamt wird die Person recht ausführlich dargestellt, manche inhaltlichen Punkte kommen dabei etwas zu kurz – etwa Hintergrundinformationen zu Long-Covid. Insgesamt werten wir jedoch knapp „ERFÜLLT“.

14. Der Beitrag ist für ein Laienpublikum verständlich (VERSTÄNDLICHKEIT).

Insgesamt ist der Artikel gut zu lesen. Fachbegriffe wie etwa der Heilversuch oder die Theorien zur Entstehung von Long Covid werden so erklärt, dass sie auch für Laien verständlich sind. Nur in den Passagen, in denen es um die Wirkweise des experimentellen Medikaments geht, wird es für Laien womöglich verwirrend. Warum es sowohl gegen Herzmuskelschwäche und Glaukom als auch gegen Long-Covid wirken könnte, hätte ausführlicher erklärt werden müssen, im Text heißt es: „Ursprünglich wurde BC 007 für Patienten mit einer bestimmten Form von Herzmuskelschwäche entwickelt, die ebenfalls durch Autoantikörper bedingt sein kann. Es ist noch nicht zugelassen, derzeit befindet es sich in Phase II einer klinischen Studie. Hohberger interessierte sich für einen Einsatz des Medikaments bei Glaukom-Patienten. Doch als sie ähnliche Autoimmunprozesse bei den Long-Covid-Betroffenen beobachtete, kam ihr die Frage: Könnte BC 007 auch bei bestimmten Formen von Long Covid wirken?“ Warum dies eine naheliegende Frage sein könnte, und welche Zusammenhänge hier möglicherweise bestehen, können die Leserinnen und Leser nur vermuten. Darum werten wir nur knapp „ERFÜLLT“.

15. Das THEMA ist aktuell, relevant oder ungewöhnlich. (THEMENAUSWAHL).

Angesichts der großen Zahl von Covid-19 Patientinnen und Patienten ist Long-Covid ein erhebliches Gesundheitsproblem, das möglicherweise noch lange nach dem Ende der Pandemie relevant bleiben wird. Mit den Berichten über erfolgreiche Heilversuche gibt es zudem einen aktuellen Anlass zur Berichterstattung.

Medizinjournalistische Kriterien: 13 von 15 erfüllt

Abwertung um einen Stern, weil vier Kriterien nur knapp „ERFÜLLT“.

Title

Kriterium erfüllt

Kriterium nicht erfüllt

Kriterium nicht anwendbar