Bewertet am 10. August 2021
Veröffentlicht von: Münchner Merkur

Seit Beginn der Pandemie haben Ärzt*innen viel über Covid-19 gelernt. Dennoch können sie noch immer schwer vorhersagen, welche ihrer Patient*innen einen schweren Krankheitsverlauf haben werden. Nun berichtet die Onlineseite des „Münchner Merkur“ über einen neuen Biomarker, der diese Vorhersage ermöglichen soll. Leider wird der Aufbau der im Artikel erwähnten Studie kaum erklärt und die Untersuchungsergebnisse nicht durch unabhängige Experten eingeordnet. Stattdessen wurden unkritisch Informationen der Pressemitteilung einer an der Studie beteiligten Universität übernommen.

Zusammenfassung

Der Beitrag greift ein wichtiges Thema auf: Es würde im Klinikalltag helfen, wenn Mediziner schwere Krankheitsverläufe von COVID-19 besser vorhersagen könnten. Dann könnten diese besonders gefährdeten Patienten schneller behandelt und in Spezialabteilungen verlegt werden. Ein Beitrag auf der Onlineseite der Tageszeitung „Münchner Merkur“ berichtet aktuell über einen Biomarker, mit dessen Hilfe die Unterscheidung zwischen leichten und schweren Verläufen möglich werden soll. Leider werden im Artikel keinerlei Zahlen aus der Studie erwähnt, die Untersuchungsergebnisse auch nicht von unabhängigen Experten eingeordnet. Auch erfahren die Leser*innen nicht, ob es bereits ähnliche Forschungsansätze gab.  Fachbegriffe wie „natürliche Killer-T-Zellen“ oder „Zytometrie“ werden nicht ausreichend erklärt. Stattdessen stützt sich der journalistische Beitrag offensichtlich vor allem auf eine Pressemitteilung der Universität Zürich, an der einer der Studienautoren tätig ist.

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Die Kriterien

1. Die POSITIVEN EFFEKTE sind ausreichend und verständlich dargestellt (NUTZEN).

Es wird erklärt, dass man über den Anteil bestimmter Immunzellen, den Killer-T-Zellen, herausfinden kann, wie schwer jemand an Covid-19 erkranken wird. Dies wird schon in der Überschrift angekündigt: „Forscher verzeichnen Durchbruch: Dieser Biomarker kündigt schweren Corona-Verlauf an“. Auch an folgender Stelle im Text wird der Nutzen eines solchen Biomarkers erläutert: „Die genauen Krankheitsverläufe lassen sich trotz Indikatoren wie etwa Risikogruppe bislang nur schwierig ausmachen. Helfen könnte eine aktuelle Studie aus der Schweiz.“ Und schließlich wird etwas konkreter erklärt, wie das funktionieren soll: „Die Forscher haben einen Biomarker entdeckt, der schon am Anfang einer Infektion anzeigt, wie schwer die Person wohl erkranken wird. Konkret handelt es sich um die sogenannten natürlichen Killer-T-Zellen im Blut.“ Der Nutzen für die Kliniken wird auch dargestellt: „Denn dann könnten Krankenhäuser auch bei Bettenknappheit vorzeitig entscheiden, wer intensivmedizinisch behandelt werden muss und bei wem eine ‚einfachere‘ Betreuung ausreicht.“ Mit Hilfe all dieser Erläuterungen wird der Nutzen also deutlich. Allerdings wird er nicht hinreichend quantifiziert. Die Forscher sprechen zwar in der Fachpublikation von einer 100-prozentigen Sensitivität – die auch kurz im journalistischen Beitrag aufgegriffen wird: „Dann können wir mit einer nahezu hundertprozentigen Sicherheit einen schweren Verlauf voraussagen“. Doch für ein Testverfahren ist auch seine Spezifität gleichermaßen entscheidend. Diese wird im Artikel jedoch nicht erwähnt (ebenso wenig übrigens in der Fachpublikation). Daher werten wir insgesamt „NICHT ERFÜLLT“.

2. Die RISIKEN & NEBENWIRKUNGEN werden angemessen berücksichtigt.

Risiken bzw. mögliche Nachteile zum Beispiel infolge eines falsch interpretierten Tests (der dann zu einer Fehlversorgung fühlen kann) werden nicht thematisiert. Es bleibt völlig offen, wie hoch die Rate für falsch-positive und falsch-negative Ergebnisse ist oder warum dies nicht konkret benannt werden können.

3. Es wird klar, ob eine Therapie/ein Produkt/ein Test VERFÜGBAR ist.

Es wird klar, dass es sich um einen experimentellen Ansatz handelt. Welche nötigen Schritte aber noch gegangen werden müssten, um tatsächlich einen klinisch nutzbaren Test zu entwickeln, wird nicht thematisiert. Daher werten wir nur knapp „ERFÜLLT“.

4. Es werden ALTERNATIVE Behandlungsarten/Produkte/Tests vorgestellt.

Es werden weder andere mögliche Biomarker beschrieben noch andere Methoden erwähnt, die ebenfalls einen schweren Krankheitsverlauf vorhersagen könnten (wie etwa die Sauerstoffsättigung, siehe unten zum Kriterium Einordnung).

5. Die KOSTEN werden im journalistischen Beitrag in angemessener Weise berücksichtigt.

Auf Kosten wird im journalistischen Beitrag nicht eingegangen. Dabei finden sich durchaus Informationen zu den Preisen einer solchen Untersuchung, zum Beispiel hier: labor-gaertner.de  Allerdings dürften die Kosten bei dieser Thematik eine untergeordnete Rolle spielen. Daher werten wir nur knapp „NICHT ERFÜLLT“.

6. Es sind keine Anzeichen von Krankheitserfindungen/-übertreibungen zu finden (DISEASE MONGERING).

Wir haben keine Anzeichen einer Übertreibung gefunden.

7. Der journalistische Beitrag ordnet die QUALITÄT der Belege/der Evidenz ein.

Der Studienaufbau wird im journalistischen Beitrag kurz angerissen: „Die Wissenschaftler analysierten Blutproben von Coronapatienten aus Frankreich und Deutschland und verglichen sie mit Daten von Patienten mit einer schweren Lungenentzündung.“ Es bleibt indes leider unerwähnt, dass es sich nur um eine kleine retrospektive (rückblickende) Studie handelt, an 57 Covid-Patienten, 25 Pneumonie-Patienten und 21 gesunden Kontrollpersonen. Wie wenig aussagekräftig dieses Studiendesign ist, wird ebenfalls nicht erläutert. Daher werten wir insgesamt „NICHT ERFÜLLT“.

8. Es werden UNABHÄNGIGE EXPERTEN oder QUELLEN genannt.

Leider werden im journalistischen Beitrag weder unabhängige Experten noch Quellen genannt. Es wird lediglich deutlich gemacht, dass die Pressemitteilung als Quelle genutzt wird.

9. Es werden, falls vorhanden, INTERESSENKONFLIKTE im Beitrag thematisiert.

Interessenkonflikte werden nicht thematisiert, wir haben jedoch auch keine Hinweise darauf gefunden.

10. Der Beitrag liefert Informationen zur EINORDNUNG der Thematik in einen Kontext (Neuheit, Ethik).

Immerhin heißt es im journalistischen Beitrag kurz: „(…) in vielen wissenschaftlichen Studien belegt, sind Corona-Patienten unterschiedlich stark von Covid-19 betroffen“. Vergangene Studien zum Thema, wie z.B. über die Sauerstoffsättigung als möglicher weiterer Indikator für schwere Krankheitsverläufe werden aber nicht thematisiert (medrxiv.org). Auch bleibt unerwähnt, dass Wissenschaftler bereits bei anderen Erkrankungen versuchen, den Anteil der Killer-T-Zellen zu ermitteln, um damit etwas über den Krankheitsverlauf zu erfahren, zum Beispiel bei Krebs (researchgate.net) oder bei Tuberkulose (researchgate.net). Damit wird nur deutlich, dass dieses Verfahren noch neu bei dieser Erkrankung ist, generell aber nicht so neu ist, wie der Artikel suggeriert. Auch hätte der Unterschied zu den natürlichen Killerzellen der angeborenen Immunabwehr deutlich gemacht werden sollen (siehe auch Kriterium Faktentreue).

11. Der Beitrag gibt die wesentlichen Daten und Fakten korrekt wieder (FAKTENTREUE).

Es heißt: „Killerzellen gehören zu den weißen Blutzellen und sind für die frühe Immunabwehr zuständig.“ So wird der Eindruck erweckt, T-Zellen gehörten zur angeborenen Immunabwehr, die zunächst aktiviert wird. Das ist jedoch falsch: Die Killer-T-Zellen gehören zur erworbenen Immunabwehr.

12. Der Beitrag über eine Pressemitteilung/das Pressematerial hinaus (JOURNALISTISCHE EIGENLEISTUNG).

Der Beitrag geht inhaltlich nicht über die Pressemitteilung hinaus. Die Zitate wurden allesamt dem Pressematerial entnommen. Zumindest wird am Ende des Artikels darauf hingewiesen, dass Informationen der Pressemitteilung entnommen wurden.

13. Ein Beitrag vermittelt ein Thema interessant und attraktiv (ATTRAKTIVITÄT DER DARSTELLUNG).

Der Text ist in nachrichtlichem Stil geschrieben. Ein wenig mehr Abwechslung im Satzbau und der Wortwahl hätten dem Artikel allerdings gutgetan. Daher werten wir nur knapp „ERFÜLLT“.

14. Der Beitrag ist für ein Laienpublikum verständlich (VERSTÄNDLICHKEIT).

Leider finden sich an manchen Stellen Fachbegriffe, die nicht ausreichend erläutert werden: „Wie die Universität Zürich schreibt, setzte das Forscherteam auf eine hochdimensionale Zytometrie-Methode, mit der Eiweiße auf sowie innerhalb von Zellen untersucht und miteinander verglichen werden können.“ Dies klingt zunächst nach einer Erklärung, dürfte Laien jedoch eher ratlos zurücklassen. Auch folgende Textpassage dürfte für die Leser*innen ohne Fachkenntnisse schwer verständlich sein: „Nach Abgleich der Immunantwort von Corona-Patienten mit denen der Vergleichsgruppe war klar, dass Sars-Cov-2 für ein individuelles Blutbild sorgt: ,Die Immunantwort in den unterschiedlichen Lungenentzündungen sind sehr ähnlich und Teil einer allgemeinen Entzündungsreaktion, wie man sie häufig bei Patienten auf der Intensivstation sieht. T-Zellen und natürliche Killerzellen verhalten sich bei Covid-19 jedoch einzigartig und definieren eine Art Muster im Immunsystem: die Covid-19-spezifische Immunsignatur´, erklärt Becher.“ Auch wird nicht recht deutlich, dass tatsächlich drei Gruppen von Patient*innen in die Untersuchung miteinbezogen wurden. Daher werten wir insgesamt „NICHT ERFÜLLT“.

15. Das THEMA ist aktuell, relevant oder ungewöhnlich. (THEMENAUSWAHL).

Ob und wie man einen schweren Krankheitsverlauf bei Covid-19 voraussagen könnte, stellt ein relevantes und aktuelles Thema dar. Allerdings ist die hier zu Grunde gelegte Studie nur klein und wenig aussagekräftig. Daher werten wir nur knapp „ERFÜLLT“.

Medizinjournalistische Kriterien: 5 von 15 erfüllt

Abwertung um einen Stern, da dreimal nur knapp „ERFÜLLT“ und die Pressemitteilung als einzige, wesentliche Quelle verwendet wurde.

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Kriterium erfüllt

Kriterium nicht erfüllt

Kriterium nicht anwendbar