Bewertet am 10. August 2021
Veröffentlicht von: Der Spiegel (online)
Wie lange man auf die Schutzwirkung der Zweifachimpfung gegen das Corona-Virus vertrauen kann, wird in einem Artikel von Der Spiegel (online) diskutiert. So hat Israel am 1. August damit begonnen, Menschen ab dem Alter von 60 Jahren mit einer dritten Impfung von Biontech/Pfizer zu versorgen. Der journalistische Beitrag erklärt ausführlich, welche Daten bislang vorliegen und wie wenig derzeit noch über die langfristige Schutzwirkung der Zweifachimpfung bekannt ist – und welche Fragen zu einer dritten Impfung noch offen sind.

Zusammenfassung

Rund acht Monate nach den ersten Corona-Impfungen wird international über eine möglicherweise nötige dritte Impfung diskutiert. Vor allem Israel, Frankreich und Ungarn preschen hier vor. Die israelische Regierung bietet bereits Menschen ab 60 Jahren eine dritte Impfung mit Biontech an, wenn die zweite Covid-19-Impfung mehr als fünf Monate zurückliegt. Doch ist das von der wissenschaftlichen Datenlage gedeckt? Der Artikel in Der Spiegel (online) klärt über die Studienlage auf und stellt die bisherigen Erkenntnisse zusammen. Dabei wird deutlich, wie viele Unsicherheiten noch im Raum stehen. Auch ethische Fragen werden angerissen, ob nicht erst Länder mit Impfstoffen versorgt werden sollten, in denen die meisten Bewohner dem Virus schutzlos ausgesetzt sind. Nur die möglichen Kosten einer solchen dritten Impfung, Alternativen und mögliche Interessenkonflikte werden im Artikel leider nicht angesprochen.

Title

Die Kriterien

1. Die POSITIVEN EFFEKTE sind ausreichend und verständlich dargestellt (NUTZEN).

Zunächst macht der journalistische Beitrag deutlich, dass der Nutzen einer Impfung in einem hohen Schutz vor einer Covid-19-Erkrankung liegt. Doch wie dauerhaft ist dieser Schutz? Zu diesem Aspekt erläutert der Artikel die Fortsetzung der Zulassungsstudie von Biontech/Pfizer. Die Analysen der Daten ergaben, dass die hohe Schutzwirkung mit der Zeit abnimmt. So reduzierte die Impfung das Erkrankungsrisiko nach der zweiten Dosis anfangs um noch um 91 bis 96 Prozent, ab vier Monaten nur noch um 84 Prozent. „Daraus ergibt sich ein Rückgang der Wirksamkeit gegen Covid-19 von etwa sechs Prozent alle zwei Monate.“, heißt es im journalistischen Beitrag. Auch wird darauf hingewiesen, dass noch unklar ist, „ob die Schutzwirkung der Impfung auch über längere Zeiträume alle zwei Monate um sechs Prozent sinkt“. Das heißt, aus den Analysen dieses Jahres kann nicht auf eine kontinuierlich-lineare Weiterentwicklung geschlossen werden. Der Beitrag führt zudem einen weiteren Nutzen-Aspekt an: Dass nämlich laut den Angaben des Robert-Koch-Instituts die meisten der trotz Impfung im Krankenhaus behandelten Covid-19-Patientinnen und  -Patienten (663 von 757) mindestens 60 Jahre alt waren. Diese Daten stützten „die Entscheidung Israels, genau diese Altersgruppe nun erneut zu impfen“. Positiv ist auch, dass die Zahlen zur Wirksamkeit nicht nur als relative Werte angegeben werden, sondern zumindest zum Teil auch in absoluten Werten. Damit wird verständlicher, was die Prozentzahlen eigentlich bedeuten und auf was sie sich beziehen: „In der Analyse (…) traten 77 Covid-19-Fälle unter vollständig Geimpften auf und 850 unter Ungeimpften. Insgesamt reduzierte die Impfung das Risiko, an Covid-19 zu erkranken, somit um 91 Prozent.“

2. Die RISIKEN & NEBENWIRKUNGEN werden angemessen berücksichtigt.

Konkrete Risiken einer dritten Impfung werden zwar nicht genannt. Doch geht der Beitrag auf Unsicherheiten ein: „Weder die europäische Zulassungsbehörde EMA noch ihr amerikanisches Pendant, die FDA, haben bislang allerdings eine Zulassung für die Gabe von drei Impfdosen eines Covid-19-Impfstoffs erteilt. Das Problem: Es ist noch weitgehend unklar, ab wann eine dritte Auffrischungsimpfung nötig ist, welche Impfreaktionen dabei auftreten können und wie stark die zusätzliche Dosis die Wirksamkeit der Impfstoffe verbessern würde. Die ersten größeren Studien dazu laufen noch.“ Es wird also deutlich, dass momentan noch nicht genügend Daten zu möglichen Risiken vorliegen, um darüber zu entscheiden. Zusätzlich wird nur kurz eine Aussage der israelischen Regierung erwähnt, die allerdings so nicht nachprüfbar ist: „2000 Menschen mit Immunschwäche hätten bereits eine solche dritte Dosis erhalten, ohne dass es schwere Nebenwirkungen gegeben habe, erklärte die Regierung.“ Daher werten wir insgesamt „ERFÜLLT“.

3. Es wird klar, ob eine Therapie/ein Produkt/ein Test VERFÜGBAR ist.

In Deutschland ist derzeit genügend Impfstoff vorhanden, es gibt sogar Tausende überzählige Impfdosen, die bestellt aber nicht verimpft wurden und nun gespendet werden sollen. Das kommt im Text zwar nicht direkt zur Sprache, es kann aber vorausgesetzt werden, dass eine Impfstoffknappheit derzeit kein Thema ist, zumindest nicht in Europa. Gleichzeitig wird indirekt deutlich, dass derzeit noch keine dritte Impfung in Deutschland verfügbar ist. Zusätzlich geht der Beitrag auf die weltweit sehr ungleich verteilten Impfstoffmenge am Ende des Beitrags ein: „Idealerweise sollten die in den wohlhabenden Ländern übrig gebliebenen Impfstoffe an Länder mit geringeren Beständen gehen, anstatt an Menschen, die zusätzliche Dosen haben wollen, erklärte Krutika Kuppalli, Spezialistin für Infektionskrankheiten an der Medizinischen Universität von South Carolina laut ,New York Times´. Bevor wir darüber reden, dass Menschen eine dritte Dosis des Impfstoffs erhalten, müssen wir sicherstellen, dass jeder eine Dosis bekommen kann.´“

4. Es werden ALTERNATIVE Behandlungsarten/Produkte/Tests vorgestellt.

Ob es Alternativen zur Impfung gibt, wird im Beitrag nicht thematisiert. Der Beitrag konzentriert sich auch völlig auf mRNA-Impfstoffe. Wie es etwa bei anderen Impfstoffen aussieht (z.B. Astra Zeneca) bleibt offen.

5. Die KOSTEN werden im journalistischen Beitrag in angemessener Weise berücksichtigt.

Was würde es kosten, alle doppelt geimpften Menschen über 60 in Deutschland erneut zu impfen? Darauf geht der Beitrag leider nicht ein.

6. Es sind keine Anzeichen von Krankheitserfindungen/-übertreibungen zu finden (DISEASE MONGERING).

Die Risiken für eine Erkrankung oder Covid-19 selbst werden nicht übertrieben dargestellt. Der Text ist insgesamt in einem angenehm unaufgeregten Stil gehalten. Es wird sachlich dargelegt, dass Risikogruppen „teils einen schwächeren Schutz haben“ und dass „generell zu erwarten ist, dass die Wirksamkeit der Impfung bei älteren Menschen etwas schwächer ausfällt, weil ihr Immunsystem nicht mehr so stark reagiert“.

7. Der journalistische Beitrag ordnet die QUALITÄT der Belege/der Evidenz ein.

Der Beitrag macht auch deutlich, dass die Daten aus der Fortsetzung der Zulassungsstudie von Biontech/Pfizer „noch ungeprüft“  sind und dass die Datenbasis der aktuellen Auswertung zur Wirksamkeit von Biontech mit insgesamt 31 Fällen in der Wirkstoff- und Placebogruppe „recht dünn“ ist (hier hatten Geimpfte im Vergleich zu Ungeimpften ein um 97 Prozent geringeres Risiko, schwer an Covid-19 zu erkranken). Auch das Studiendesign der Fortsetzungsstudie wird erklärt (gut 42.000 Probanden mit 77 Covid-19-Fällen unter vollständig Geimpften und 850 unter Ungeimpften). Der Artikel weist zudem daraufhin, dass „noch weitgehend unklar“ ist, „ab wann eine dritte Auffrischungsimpfung nötig ist, welche Impfreaktionen dabei auftreten können und wie stark die zusätzliche Dosis die Wirksamkeit der Impfstoffe verbessern würde“. Denn bis zu einem so neuen Mittel weitere große Studien abgeschlossen sind, braucht es Zeit. Was leider fehlt, sind Hinweise auf andere Studien, etwa zu anderen Impfstoffen.

8. Es werden UNABHÄNGIGE EXPERTEN oder QUELLEN genannt.

Zitiert wird zweimal der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach, zusätzlich als zweite unabhängige Expertin Krutika Kuppalli aus den USA (South Carolina). Beide wurden aber nicht direkt kontaktiert, sondern werden als Sekundärquelle aus anderen Veröffentlichungen zitiert (Twitter / Rheinische Post / NY Times). Keiner der beiden äußert sich zu den bisher vorliegenden Daten zur Drittimpfung. Das ist bedauerlich, dürfte es doch in der weltweit geführten Debatte nicht schwer sein, führende Fachleute zum diesem wichtigen Themenaspekt zu finden. Daher werten wir insgesamt nur knapp „NICHT ERFÜLLT“.

9. Es werden, falls vorhanden, INTERESSENKONFLIKTE im Beitrag thematisiert.

Interessenkonflikte werden nur kurz thematisiert: „Derzeit wird aber vor allem über eine dritte Dosis des bekannten Mittels von Biontech/Pfizer gesprochen, auch weil der Hersteller selbst dafür wirbt.“ Es wird dagegen nicht erwähnt, dass Autoren der Nature-Studie über den nachlassenden Impfschutz Verbindungen zu Pfizer angeben. Daher werten wir insgesamt knapp „NICHT ERFÜLLT“.

10. Der Beitrag liefert Informationen zur EINORDNUNG der Thematik in einen Kontext (Neuheit, Ethik).

Die neuen Entwicklungen in der Corona-Impfstoff-Forschung werden im Beitrag gut eingeordnet. Ebenso die politischen Debatten: „Auch in Deutschland wird seit Beginn der Impfkampagne darüber diskutiert, ob und wann es nötig werden könnte, mindestens die Risikogruppen erneut gegen Covid-19 zu impfen. Ähnlich wie bei der Grippe ist eine jährliche Auffrischung denkbar, womöglich auch mit Impfstoffen, die noch genauer an neue Varianten wie etwa die inzwischen in Deutschland dominante Delta-Linie angepasst wurden.“ Zudem wird auch der ethische Aspekt angesprochen, ob Drittimpfungen moralisch verwerflich sind, angesichts der generellen Impfstoffknappheit außerhalb der Industrieländer.

11. Der Beitrag gibt die wesentlichen Daten und Fakten korrekt wieder (FAKTENTREUE).

Faktenfehler haben wir keine gefunden. Nur eine Passage ist etwas irreführend: „Im Untersuchungszeitraum der Studie war die Delta-Variante noch nicht so verbreitet, wie sie es inzwischen ist. Es gab aber einzelne Fälle mit der Beta-Variante, die ebenfalls zu den besorgniserregenden Virus-Linien zählt.“ Denn auch die Alpha-Variante zählt zu den „besorgniserregenden“ Varianten. Insgesamt werten wir jedoch „ERFÜLLT“.

12. Der Beitrag über eine Pressemitteilung/das Pressematerial hinaus (JOURNALISTISCHE EIGENLEISTUNG).

Zwar wird ausführlich aus den Pfizer-Daten zitiert, aber der Beitrag geht deutlich über offizielle Verlautbarungen hinaus.

13. Ein Beitrag vermittelt ein Thema interessant und attraktiv (ATTRAKTIVITÄT DER DARSTELLUNG).

Studiendetails zu Impfwirkungen sind komplex, und es ist nicht einfach, diese spannend zu beschreiben. Somit kann ein solcher Erklärtext auch nicht eine so attraktive Wirkung entfalten wie eine gute Reportage. Leser*innen und Nutzer*innen müssen sich darauf mit Wissensdurst einlassen. Dann erfahren sie eine Menge.

14. Der Beitrag ist für ein Laienpublikum verständlich (VERSTÄNDLICHKEIT).

Das ist hier gut gelöst. Trotz der komplexen Thematik ist der Text sehr verständlich und viele wissenschaftliche Aspekte sind aufgegriffen, die in einer oft eher politisch orientierten Berichterstattung zu kurz kommen. Beispielhaft für den guten Erklärmodus sei der Textanfang genannt, der nicht zu viel voraussetzt, sondern niedrigschwellig beginnt: „Manche Impfungen halten ein Leben lang, die gegen Masern zum Beispiel. Andere müssen immer mal wieder aufgefrischt werden, um eine gute Wirksamkeit aufrechtzuerhalten, die gegen Tetanus etwa alle zehn Jahre.“ Nur wenige Passagen sind etwas irreführend: „So wurden in Deutschland laut Robert Koch-Institut bislang etwa 757 Menschen wegen Covid-19 im Krankenhaus behandelt, obwohl sie vollständig geimpft waren. Das sind wenige. Insgesamt haben hierzulande bereits mehr als 42 Millionen Menschen die nötigen Dosen für einen vollen Impfschutz erhalten.“ Das ist in Hinblick auf die die Diskussion um eine Drittimpfung etwas verwirrend, weil diese Zahlen wenig über die Langzeit-Wirkung aussagen. Schließlich wurden die meisten Menschen vor weniger als sechs Monaten geimpft.

15. Das THEMA ist aktuell, relevant oder ungewöhnlich. (THEMENAUSWAHL).

Das Thema ist relevant, da ein längerfristiger Schutz vor Sars-Cov-2 für viele Menschen wichtig ist. Zudem hat Impfvorreiter Israel Ende Juli entschieden, ab 1. August Menschen ab 60 Jahren eine dritte Dosis von Biontech/Pfizer anzubieten, wenn deren zweite Covid-19-Impfung mehr als fünf Monate zurückliegt.

Medizinjournalistische Kriterien: 11 von 15 erfüllt

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Kriterium erfüllt

Kriterium nicht erfüllt

Kriterium nicht anwendbar