Bewertet am 8. Juni 2021
Veröffentlicht von: Handelsblatt
Im Frühsommer 2021 nimmt die Anzahl der geimpften Erwachsenen in Deutschland stetig zu, nun sollen endlich auch die Kinder und Jugendlichen ihre Spritze erhalten. Oder etwa nicht? Ein Artikel im Handelsblatt (online) verspricht, die für diese schwierige Entscheidung nötigen Informationen zu liefern. Doch bleiben nach Lektüre des Textes noch viele Fragen offen: Wie unterscheiden sich Impfreaktionen bei Kindern von Erwachsenen? Genügen die bisherigen Studiendaten, um schwere Nebenwirkungen auszuschließen? Mehr Erklärungen zu diesen und ähnlichen Aspekten hätten den Leser*innen sicher weitergeholfen.

Zusammenfassung

Die Europäische Arzneimittelagentur EMA hat die Zulassung des Impfstoffs von Biontech und Pfizer für Kinder und Jugendliche im Alter zwischen 12 und 15 Jahren empfohlen. Fast gleichzeitig fällt die Impfpriorisierung in Deutschland weg. Was das bedeutet, und ob nun alle Teenager geimpft werden sollten, versucht ein aktueller Artikel im Handelsblatt (online) zu beantworten. Der Text verspricht Studien, Fakten und Empfehlungen, liefert diese aber nur teilweise. Die Informationen genügen am Ende nicht, um eine Entscheidung zu treffen. Einige Aspekte werden nicht oder nur am Rande angesprochen, etwa die besondere Abwägung von Impfempfehlungen bei Kindern, die Unsicherheiten in den vorhandenen Daten oder die Rolle der Impfstoffknappheit. Auch die Frage, wie Ärzte ohne eine allgemeine Empfehlung ihre Entscheidung treffen sollen, wird nicht beantwortet.

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Die Kriterien

1. Die POSITIVEN EFFEKTE sind ausreichend und verständlich dargestellt (NUTZEN).

Zum Nutzen heißt es: „Der Impfstoff schütze Kinder zwischen zwölf und 15 Jahren in vollem Umfang, also zu 100 Prozent, wie die Ergebnisse der Studie zeigen. Den Beobachtungen zufolge sei bei mehr als 1000 geimpften Kindern und Jugendlichen kein Fall einer Covid-19-Erkrankung aufgetreten. In der ungeimpften Kontrollgruppe waren es 16 Fälle.“ Allerdings bleibt unklar, dass die 100 Prozent (aufgrund der geringen Anzahl von Infektionen) mit einer Unsicherheit behaftet sind, tatsächlich könnte der Schutz laut Studie zwischen 75 und 100 Prozent liegen. Vor allem aber wird nicht ausreichend klar gemacht, was der gesundheitliche Nutzen für die Kinder und Jugendlichen ist, also welches COVID-19-Risiko für sie eigentlich besteht. Für die Debatte stellt dies aber einen zentralen Punkt dar. So hatte die Ständige Impfkommission (Stiko) zu diesem Zeitpunkt schon verlauten lassen, dass sie die Impfung womöglich nur vorerkrankten Kindern empfiehlt.

Zudem spielt laut Artikel das Argument der Herdenimmunität eine Rolle, wenn es um den Nutzen der Impfung für Kinder und Jugendliche geht. „Zwangsläufig müssten demnach in Zukunft auch Kinder und Jugendliche geimpft werden, um einen flächendeckenden Impfschutz in der Bundesrepublik zu erzielen“, heißt es. Hier hätte man erwähnen können, dass es durchaus umstritten ist, ob eine echte Herdenimmunität überhaupt erreicht werden kann. Hinzu kommt, dass in anderen Altersklassen längst noch nicht alle Impfwilligen geimpft sind. Muss man also bereits alle Jugendlichen impfen, oder könnte man damit auch noch warten, bis mehr Daten vorliegen? Das Für und Wider dieser Abwägung kommt hier etwas zu kurz. Daher werten wir nur knapp „ERFÜLLT“.

2. Die RISIKEN & NEBENWIRKUNGEN werden angemessen berücksichtigt.

Zu Nebenwirkungen erfährt man, dass die Impfreaktionen mit Müdigkeit, Kopfschmerzen und Fieber eher mild ausfielen. Außerdem „gebe es bislang keine Hinweise auf schwere Nebenwirkungen einer Corona-Impfung bei Kindern.“  Wie häufig es aber zu leichten bis moderaten Nebenwirkungen kam, erfahren die Leser*innen nicht. Ebenso wenig wird ihnen erklärt, dass viel mehr Geimpfte nötig sind, um seltene Nebenwirkungen zu entdecken. Da sich die Stiko jedoch auf mögliche schwere Nebenwirkungen beruft, wäre hier eine Experteneinschätzung sinnvoll gewesen. Daher werten wir insgesamt nur knapp „ERFÜLLT“.

3. Es wird klar, ob eine Therapie/ein Produkt/ein Test VERFÜGBAR ist.

Die Europäische Arzneimittelagentur (Ema) hat den Impfstoff der Firmen Biontech/Pfizer für Kinder ab zwölf Jahren zugelassen. Aber was bedeutet das für die Verfügbarkeit und den Einsatz des Impfstoffs? Das wird im journalistischen Beitrag nicht ganz klar. Grundsätzlich gilt: Wenn eine Zulassung besteht, kann auch geimpft werden, unabhängig von der Empfehlung der Stiko. Das hätte man noch etwas klarer machen können. Genauso wie die Frage, wie Ärzte in Zeiten des Impfstoffmangels hier abwägen sollten. Etwas später im Artikel heißt es noch, dass sich unter bestimmten Voraussetzungen Jugendliche ohne die Zustimmung der Eltern impfen lassen können. Daher werten wir insgesamt nur knapp „ERFÜLLT“.

4. Es werden ALTERNATIVE Behandlungsarten/Produkte/Tests vorgestellt.

Im Text wird erwähnt, dass der US-Hersteller Moderna die EU-Zulassung seines Corona-Impfstoffs für Kinder beantragt hat. Somit wird indirekt deutlich, dass der Impfstoff von Biontech/Pfizer derzeit der einzige zugelassene Impfstoff für diese Altersgruppe ist. Auch wird die Nichtimpfung als Alternative zur Impfung im journalistischen Beitrag angesprochen. Experten gehen davon aus, dass sich jeder, der nicht geimpft ist, mit der Zeit infizieren wird. Trotzdem steht die Frage im Raum, ob eine flächendeckende Impfung von Kindern wirklich notwendig und zum jetzigen Zeitpunkt auch sinnvoll ist. Diese Diskussion mit ihren unterschiedlichen Argumenten kommt im vorliegenden Artikel jedoch etwas zu kurz. Daher werten wir nur knapp „ERFÜLLT“.

5. Die KOSTEN werden im journalistischen Beitrag in angemessener Weise berücksichtigt.

Die Kosten der Impfung für Kinder werden nicht thematisiert. Bei der Frage, ob die gesetzlichen Krankenkassen für die Impfung bezahlen, richtet sich der Gemeinsame Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen normalerweise nach der Stiko-Empfehlung. Bei der Corona-Impfkampagne ist dies aber ohnehin über den Bund geregelt. Das hätte man generell noch einmal erklären können. Daher werten wir „NICHT ERFÜLLT“.

6. Es sind keine Anzeichen von Krankheitserfindungen/-übertreibungen zu finden (DISEASE MONGERING).

Die Covid-19-Erkrankung wird im Artikel kaum thematisiert und daher auch weder verharmlost noch übertrieben dargestellt.

7. Der journalistische Beitrag ordnet die QUALITÄT der Belege/der Evidenz ein.

Es heißt äußerst knapp: „Den Beobachtungen zufolge sei bei mehr als 1000 geimpften Kindern und Jugendlichen kein Fall einer Covid-19-Erkrankung aufgetreten. In der ungeimpften Kontrollgruppe waren es 16 Fälle.“ Es wird nicht klar, dass es sich um eine randomisierte, kontrollierte Studie handelt. Vor allem aber wird nicht erklärt, dass die Anzahl der Probanden zu gering ist, um seltene Nebenwirkungen aufzuspüren. Daher werten wir „NICHT ERFÜLLT“.

8. Es werden UNABHÄNGIGE EXPERTEN oder QUELLEN genannt.

Offensichtlich wurden keine Experten für den Artikel befragt, sie werden nur indirekt aus anderen Medien zitiert. Daher werten wir nur knapp „ERFÜLLT“.

9. Es werden, falls vorhanden, INTERESSENKONFLIKTE im Beitrag thematisiert.

Es wird deutlich, dass die im Artikel erwähnte Impfstudie vom Hersteller finanziert wurde: „Die Angaben basieren auf der zuvor genannten Studie des Unternehmens.“

10. Der Beitrag liefert Informationen zur EINORDNUNG der Thematik in einen Kontext (Neuheit, Ethik).

Eine ausführlichere Einordnung der Thematik wäre wünschenswert gewesen. So sind Kinder in der Regel kerngesund. Und Impfungen sind medizinische Interventionen. Daher muss man hier besonders sorgfältig abwägen. Die Impfstoffe, die in Deutschland bei Kindern eingesetzt werden, sind gerechtfertigt und sinnvoll, weil sie die Geimpften vor schweren Erkrankungen schützen. Nun sind im Fall von Corona schwere Verläufe bei Kindern sehr selten. Und noch immer ist nicht klar, wie häufig es tatsächlich zu Langzeitbeschwerden (Long Covid) nach einer Erkrankung kommt. Klar ist aber, dass solche Verläufe Kinder noch lange belasten können. In seltenen Fällen können Kinder zudem nach einer Corona-Infektion auch an PIMS erkranken, dem Pediatric Inflammatory Multisystem Syndrome, bei dem sich mehrere Organe entzünden (siehe auch: Bericht in der Fachzeitschrift Acta Paedriatrica sowie Zahlen zu dieser Altersgruppe in Großbritannien (Figure 2)). All das muss man wissen, wenn man jetzt entscheidet, wer geimpft werden muss. Zusätzlich muss man sich das aktuelle Infektionsrisiko ansehen. Denn es stellt sich auch die Frage, ob man in einer Zeit der niedrigen Inzidenzen und der Impfstoffknappheit vielleicht noch abwarten sollte, um auf bessere Daten zu warten. All dies wird im Artikel jedoch nur ansatzweise erwähnt, daher werten wir knapp „NICHT ERFÜLLT“.

11. Der Beitrag gibt die wesentlichen Daten und Fakten korrekt wieder (FAKTENTREUE).

Echte Faktenfehler sind uns nicht aufgefallen, wohl aber ein paar Ungenauigkeiten: Die Impfung schützt Kinder zu 100 Prozent, heißt es. Die geringe Zahl der Studienteilnehmer lässt aus statistischen Gründen noch keine so genaue Aussage über die Schutzwirkung zu. Der tatsächliche Wert kann auch etwas niedriger liegen. Zudem wird nicht klar gesagt, was mit den 100 Prozent gemeint ist, nämlich der Schutz vor einer symptomatischen Infektion. Das heißt nicht, dass Kinder sich nicht trotzdem unbemerkt infizieren und das Virus so weitergeben können.

Auch wird im journalistischen Beitrag erwähnt, dass etwa 70 Prozent der gesamten Bevölkerung in Deutschland geimpft werden muss um die so genannte „Herdenimmunität“ zu erreichen (siehe auch: https://jamanetwork.com/journals/jama/fullarticle/2772167). Inzwischen weiß man jedoch, dass für die Virus-Varianten Alpha und Delta eine höhere Durchimpfungsrate nötig ist. Auch wird nicht erklärt, dass nicht alle Geimpften automatisch immun gegen das Virus werden, weil die verschiedenen Impfstoffe eben nicht zu 100 Prozent vor einer Infektion schützen. Der Prozentsatz an geimpften Menschen dürfte daher deutlich über jenem der immunen liegen. Daher werten wir insgesamt nur knapp „ERFÜLLT“.

12. Der Beitrag geht über eine Pressemitteilung/das Pressematerial hinaus (JOURNALISTISCHE EIGENLEISTUNG).

Eine Pressemitteilung zum Thema lag uns nicht vor, daher gehen wir von einer journalistischen Eigenleistung aus. Wir haben auch keine Hinweise darauf, dass eine Pressemitteilung die alleinige Quelle des Beitrags war.

13. Ein Beitrag vermittelt ein Thema interessant und attraktiv (ATTRAKTIVITÄT DER DARSTELLUNG).

Der Artikel will den Leser*innen die wichtigsten Infos mitteilen. Die Frage/Antwort-Struktur ist da eine gute Wahl, weil sie übersichtlich ist, keine Einführung braucht und nachrichtlich gehalten werden kann.

14. Der Beitrag ist für ein Laienpublikum verständlich (VERSTÄNDLICHKEIT).

Der Artikel ist auch für Laien gut verständlich. Fremdwörter werden vermieden oder erklärt. Diese Passage dürfte jedoch manchen Leser*innen Probleme bereiten: „De facto durchläuft ein Impfstoff im Zuge seiner Zulassung grundsätzlich drei Phasen. Dabei stehen Arzneimittelhersteller und Arzneimittelbehörden in einem engen Austausch und werten die Ergebnisse mitunter gemeinsam aus.“ Welche Phasen das sind und wie dieser Austausch aussieht und zudem welche Relevanz das für den Sachverhalt hat, bleibt unklar. Daher werten wir nur knapp „ERFÜLLT“.

15. Das THEMA ist aktuell, relevant oder ungewöhnlich. (THEMENAUSWAHL).

COVID-19-Imfungen bei Kindern und Jugendlichen sind ein relevantes und aktuelles Thema.

Medizinjournalistische Kriterien: 12 von 15 erfüllt

Wir werten den Beitrag um einen Stern ab, da siebenmal nur knapp „ERFÜLLT“

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Kriterium erfüllt

Kriterium nicht erfüllt

Kriterium nicht anwendbar