Bewertet am 4. Mai 2021
Veröffentlicht von: Die Welt
Erneut ist ein Wirkstoff als neue Therapie gegen Covid-19 im Gespräch und erneut fehlen überzeugende klinische Studien, um die Wirksamkeit der Arznei ernsthaft beurteilen zu können. Diesmal geht es um Ivermectin, eine Arznei, die gut gegen verschiedene Parasiten hilft. Sollte sie Ärzten und Patienten auch in der aktuellen Pandemie helfen? Dieser Frage geht ein aktueller Artikel in „Die Welt“ nach.

Zusammenfassung

Könnte ein bewährtes Medikament gegen Parasiten dabei helfen, Covid-19-Erkrankungen zu behandeln. Der Wirkstoff Ivermectin hat in ersten kleinen Studien Hoffnungen geweckt, dass er gegen Covid-19 helfen könnte. Befürworter der Therapie sehen sich durch die ersten Untersuchungen bestätigt, Kritiker wie die WHO und das Cochrane-Institut dagegen monieren, dass die Studienlange noch längst nicht ausreicht, um das Medikament empfehlen zu können. Ein journalistischer Beitrag in der Tageszeitung „Die Welt“ greift diese Diskussion auf, lässt beide Seiten zu Wort kommen und gibt die Studienlage gut und verständlich wieder. Allerdings wird im journalistischen Beitrag leider nicht erklärt, wie genau Ivermectin gegen Covid-19 helfen soll. Auch die einzige hochwertige klinische Studie zum Medikament wird nur sehr knapp erläutert – der mögliche Nutzen für die Patienten daher leider nicht deutlich.

Title

Die Kriterien

1. Die POSITIVEN EFFEKTE sind ausreichend und verständlich dargestellt (NUTZEN).

Der Artikel erklärt anhand vieler Beispiele, dass der Nutzen von Ivermectin bislang nicht belegt ist.  Aber um welchen Nutzen geht es dabei? Hier bleibt der Artikel sehr schwammig. Im besten Fall hilft das Mittel bei einer Covid-Infektion. Nur wie? Was ist der vermutete Wirkmechanismus, in welcher Krankheitsphase wird das Medikament gegeben und was ist der erhoffte Effekt? Geht es um eine Verringerung der Sterblichkeit oder sollen schwere Verläufe in frühen Krankheitsphasen verhindert werden? Bezogen auf die thematisierte Studie im Fachblatt JAMA heißt es: „(…) am Ende gab es keinen Unterschied zwischen den Gruppen. Im Schnitt litten alle gleich lang unter der Krankheit.“ Daraus können die Leser*innen immerhin indirekt schlussfolgern, dass der Nutzen in einer kürzeren Erkrankungsdauer liegen soll. Es hätte noch erwähnt werden können, dass die mit Ivermectin behandelten Studienteilnehmer im Durchschnitt kürzer an Symptomen litten, dieser Unterschied aber statistisch nicht signifikant war. Beim RKI heißt es dazu, dass es unter anderem Hinweise gibt, dass der Wirkstoff das Entzündungsgeschehen beeinflusst und zu einer schnelleren Genesung bzw. reduzierten Mortalität führen könnte (siehe auch: Therapieübersicht RKI).

2. Die RISIKEN & NEBENWIRKUNGEN werden angemessen berücksichtigt.

Zur Anwendung als Parasitenbekämpfungsmittel heißt es von Seiten des bayerischen Landtagsabgeordneten, dass Ivermectin „praktisch keine Nebenwirkungen“ habe. Etwas später erfährt man jedoch, dass mehr als 50 Nebenwirkungen bekannt sind; Durchfall, Übelkeit, Jucken und Schwindel sogar häufig auftreten. Auf diesen Widerspruch hätte man schon etwas früher im Artikel eingehen können. Auch weiß man, dass das Mittel die Leberwerte beeinflussen kann, was Zeichen einer beginnenden Leberschädigung sein kann (siehe auch: Gelbe Liste). Daher werten wir insgesamt nur knapp „ERFÜLLT“.

3. Es wird klar, ob eine Therapie/ein Produkt/ein Test VERFÜGBAR ist.

Im Artikel wird mehrfach deutlich, dass Ivermectin verfügbar ist, laut Text gibt es das Mittel seit 40 Jahren. Bislang wurde es jedoch gegen Parasiten eingesetzt. „Die Flussblindheit wurde mit ihm fast ausgerottet, vielen Wurmerkrankungen der größte Schrecken genommen“. Es steht auch auf der Liste unentbehrlicher Medikamente der Weltgesundheitsorganisation. In Südamerika und Afrika wird Ivermectin laut Artikel nun zunehmend gegen Covid-19 eingesetzt. Auch in Europa und den USA probieren manche Ärzte das Parasitenmedikament in sogenannten individuellen Heilversuchen aus.

4. Es werden ALTERNATIVE Behandlungsarten/Produkte/Tests vorgestellt.

Alternativen werden nur kurz thematisiert: „Auf den Intensivstationen stehen wir mit dem Rücken zur Wand, wir haben kaum Alternativen“. Das deutet zwar an, dass es in der Therapie nicht sonderlich viele Optionen gibt. Mittlerweile gibt es einige wenige Medikamente, zu denen bereits klinische Studien vorliegen, zum Beispiel zu Kortisonpräparaten. Dazu wären ein paar mehr Informationen hilfreich gewesen. Eine Übersicht findet sich etwa auf der Seite des CEOsys-Projekts, das die Belege zum Thema für die im Artikel angesprochene S3-Leitlinie  gesichtet hat und zusammengestellt hat: (Link und PDF)

Alles in allem werten wir „NICHT ERFÜLLT“.

5. Die KOSTEN werden im journalistischen Beitrag in angemessener Weise berücksichtigt.

Im Beitrag wird detailliert auf die Kosten von Ivermectin eingegangen, schließlich ist der günstige Preis des Medikaments eines der Argumente, die für einen Einsatz sprechen würde – wenn sich der Wirkstoff in weiteren klinischen Studien bewährt. Daher ist es hilfreich, dass die Kosten angesprochen werden: „(…) kosten vier Tabletten gerade einmal um die 60 Euro.“ Auch der Vergleich zu anderen Covid-Therapien wird gezogen: „(…) das ist nicht viel bei einer Krankheit wie Covid-19, bei der die Behandlungspreise schnell in die Tausende gehen“.

6. Es sind keine Anzeichen von Krankheitserfindungen/-übertreibungen zu finden (DISEASE MONGERING).

Wir haben keine Anzeichen einer Übertreibung gefunden.

7. Der journalistische Beitrag ordnet die QUALITÄT der Belege/der Evidenz ein.

Der Artikel berichtet von den Hoffnungen der Befürworter, macht aber vor allem auch deutlich, dass die Evidenz für einen Einsatz bislang fehlt: „In der einzigen Studie zum Thema, die es je in ein angesehenes Fachmagazin geschafft hat, fiel das Medikament als Covid-Therapeutikum durch. 200 frisch Infizierte nahmen Ivermectin, weitere 200 schluckten ein Scheinpräparat; am Ende gab es keinen Unterschied zwischen den Gruppen. Im Schnitt litten alle gleich lang unter der Krankheit. Die meisten anderen Studien haben es nie in eine Fachzeitschrift geschafft (…)Und die Studie, die dem Ivermectin zu seiner Popularität in Südamerika verholfen hat, wurde wegen gefälschter Daten zurückgezogen.“ Da verwundert es nicht, dass sich auch die WHO Ende März klar gegen den breiten Einsatz des Antiparasitikums Ivermectin zur Therapie von Covid-19 ausgesprochen hat (siehe auch: WHO). Allerdings wäre es schön gewesen, etwas mehr über die klinische Studie zu erfahren. So wird zum Beispiel nicht klar, dass es sich um eine randomisierte, doppelt verblindete Studie handelt, was noch einmal unterstreicht, wie aussagekräftig diese Studie ist. Insgesamt werten wir aber „ERFÜLLT“.

8. Es werden UNABHÄNGIGE EXPERTEN oder QUELLEN genannt.

Nicht nur die Befürworter einer Therapie mit Ivermectin kommen zu Wort. Auch wird eine Reihe von Wissenschaftler zitiert, die anhand bisheriger Untersuchungen einordnen, wie groß die Evidenz für die Therapie bislang ist. Dazu gehört Stefan Kluge, Intensivmediziner und Mitautor der aktuellen Covid-Behandlungsleitlinie oder die Biologin Stephanie Weibel und der Intensivmediziner Peter Kranke die im Rahmen des Cochrane-Netzwerks einen Überblick über die wissenschaftliche Bewertung von Ivermectin erstellen.  „Aktuell können wir nur sagen: Wir wissen es nicht“, sagen beide. Die Studien, die für eine Wirksamkeit sprechen, würden wieder durch ähnlich viele aufgewogen, die das Gegenteil besagten: „,Klarheit in dieser Frage können wir deshalb nur bekommen, wenn es endlich größere und bessere Studien gibt‘, sagt Stephanie Weibel.“

9. Es werden, falls vorhanden, INTERESSENKONFLIKTE im Beitrag thematisiert.

Interessenkonflikte werden nicht thematisiert, wir haben jedoch auch keine Hinweise darauf gefunden.

10. Der Beitrag liefert Informationen zur EINORDNUNG der Thematik in einen Kontext (Neuheit, Ethik).

In welch schwieriger Situation sich die Medizin momentan befindet, wird im journalistischen Beitrag sehr gut deutlich. Es gibt kaum Medikamente, die Menschen mit einem schweren Covid-Verlauf nachweislich helfen können. Bis ein neuer Wirkstoff diesen Nachweis erbracht hat, kann es lange dauern. Zudem sind klinische Studien teuer, sodass nicht alle Therapiekandidaten aktuell untersucht werden können.

Auch wird der Forschungsstand zum Medikament umfassend eingeordnet. Mit Hilfe von Zitaten des Experten Stefan Kluge wird die Aussagekraft bisheriger Studien auch sogleich eingeordnet: „,Wir können nur Medikamente empfehlen, die bewiesen haben, dass sie wirken‘, sagt er. Einen solchen Beweis konnten aber weder er noch seine Kollegen beim Studium der entsprechenden Forschungsarbeiten finden“. Später im Beitrag verweist ein Anhänger des Ivermectin dann auf eine Metaanalyse amerikanischer Wissenschaftler, die den Stand der Forschung zu Ivermectin analysiert haben. Weiter heißt es: „Darin fanden sich zunehmende Belege dafür, dass Ivermectin sowohl sicher als auch wirksam bei der Behandlung von Covid-19-Patienten ist‘“. Und die Ergebnisse von Versuchen in Zellkulturen werden gleich eingeordnet: „Werden befallene Zellen im Labor in ein Ivermectin-Bad getaucht, das zeigten Melbourner Forscher im vergangenen Frühjahr, stellen die Erreger die Vermehrung ein. Dasselbe gilt allerdings auch für viele andere Chemikalien, etwa Benzin. Auf Menschen lässt sich die Erkenntnis aus dem Reagenzglas allerdings kaum übertragen.“ Schließlich noch der wichtige Hinweis: „(…) die Studie, die dem Ivermectin zu seiner Popularität in Südamerika verholfen hat, wurde wegen gefälschter Daten zurückgezogen.“ Daher werten wir insgesamt „ERFÜLLT“.

11. Der Beitrag gibt die wesentlichen Daten und Fakten korrekt wieder (FAKTENTREUE).

Faktenfehler sind uns nicht aufgefallen.

12. Der Beitrag über eine Pressemitteilung/das Pressematerial hinaus (JOURNALISTISCHE EIGENLEISTUNG).

Der Beitrag geht mit den vielen Experten und Informationen zum Wirkstoff weit über die Pressemitteilung zum Thema hinaus.

13. Ein Beitrag vermittelt ein Thema interessant und attraktiv (ATTRAKTIVITÄT DER DARSTELLUNG).

Der Beitrag ist spannend geschrieben und lässt sich sehr leicht lesen. Die vielen Zitate, Bilder und einfachen Erklärungen legen ein nicht ganz einfaches Thema gut verständlich dar. Vor allem der Zwiespalt zwischen dem dringenden Bedarf an Therapien einerseits und der Wichtigkeit von ordentlichen klinischen Studien andererseits holt das Thema aus der reinen Faktenecke und verleiht ihm etwas Emotionales. „Wie begeistert, ja geradezu besessen viele von dem Mittel sind, kann Stefan Kluge, der Leiter der Intensivmedizin am Hamburger Uniklinikum Eppendorf (UKE), berichten. Als Mitautor der Leitlinie, die in Deutschland den Ärzten die besten Mittel zur Corona-Therapie empfiehlt, erhalte er Berge von, obskuren E-Mails‘, werde beschimpft und bedrängt, endlich auch der Ivermectin-Therapie das Vertrauen auszusprechen.“ Und später heißt es noch in einem weiteren Zitat von Kluge: „Wir können nur Medikamente empfehlen, die bewiesen haben, dass sie wirken“.

14. Der Beitrag ist für ein Laienpublikum verständlich (VERSTÄNDLICHKEIT).

Auch wer von diesem Mittel noch nichts gehört hat, wird diesen Artikel verstehen. Fachbegriffe kommen kaum vor oder werden erklärt, wie etwa der individuelle Heilversuch. „Ein Arzt kann unter diesem Label auch nicht zugelassene Medikamente verschreiben. Er muss allerdings auch eher haften, wenn Folgeschäden auftreten.“ Allerdings widerspricht sich der Artikel an mancher Stelle, etwa bei den Nebenwirkungen (siehe Kriterium 2). Hier hätte an mancher Stelle eine klarere Struktur den Text noch etwas verständlicher gemacht. Daher werten wir nur knapp „ERFÜLLT“.

15. Das THEMA ist aktuell, relevant oder ungewöhnlich. (THEMENAUSWAHL).

Aufgrund der Popularität des Medikaments ist das Thema relevant, den aktuellen Anlass liefert offensichtlich die Unterstützung eines bayerischen Landtagsabgeordneten innerhalb der CSU. Die wissenschaftliche Studie zu Ivermectin ist allerdings bereits im März im Fachblatt JAMA erschienen. Auch werden inzwischen viele Arzneimittel mit zweifelhaftem Nutzen bei Covid-19 eingesetzt. Daher erscheint die Thematisierung nicht zwingend. Daher werten wir nur knapp „ERFÜLLT“.

Medizinjournalistische Kriterien: 13 von 15 erfüllt

Abwertung um einen Stern, da viermal nur knapp erfüllt.

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Kriterium erfüllt

Kriterium nicht erfüllt

Kriterium nicht anwendbar