In der aktuellen Pandemie wird viel über die hohe Durchimpfungsrate in Israel berichtet. Da ist es nachvollziehbar, dass eine Auswertung erster Impfdaten zur möglichen Reduktion des Infektionsrisikos große Aufmerksamkeit erhalten. In einem journalistischen Beitrag des Magazins Der Spiegel werden diese Ergebnisse vorgestellt. Es wird auch darauf hingewiesen, dass die Studiendaten bislang noch nicht einmal als Preprint-Artikel einzusehen sind. Insgesamt wäre eine kritischere Auseinandersetzung mit den Studienergebnissen – zum Beispiel durch unabhängige Experten – wünschenswert gewesen.
Zusammenfassung
Ob ein zweifach gegen Sars-CoV-2 geimpfter Mensch das Virus weiter übertragen kann, ist eine wichtige Frage in der aktuellen Pandemie. Nun kommt eine noch unveröffentlichte Analyse von rund 1,8 Millionen Impfdaten in Israel zu dem Schluss, dass das Infektionsrisiko nach der zweiten Dosis mit dem Biontech/Pfizer-Impfstoff um 89,4 Prozent sinkt. Ein Artikel im Magazin Der Spiegel nimmt die Nachricht zum Anlass, über die Auswertung und die mögliche Bedeutung dieser Zahlen für den Verlauf der Pandemie zu berichten. Zwar wird im Artikel angemerkt, dass die Ergebnisse noch bestätigt werden müssen. Dennoch übernimmt der Text die Daten zu unkritisch und lässt sie auch durch keinen Experten einordnen. Mögliche Nebenwirkungen der Impfstoffe werden nicht erwähnt, auch deren Kosten kommen nicht zur Sprache, ebenso wenig wie Alternativen.
Die Kriterien
1. Die POSITIVEN EFFEKTE sind ausreichend und verständlich dargestellt (NUTZEN).
2. Die RISIKEN & NEBENWIRKUNGEN werden angemessen berücksichtigt.
Leider erfährt man nicht, wie häufig Nebenwirkungen auftraten und welche das waren. Aus anderen Studien weiß man, dass zu den am häufigsten beobachteten Reaktionen nach einer Corona-Impfung kurzzeitige Schmerzen an der Einstichstelle gehören, ebenso wie Abgeschlagenheit, Kopf- und Gelenkschmerzen, Schüttelfrost, manchmal auch Fieber oder Übelkeit. In sehr seltenen Fällen kann es auch zu einer allergischen Reaktion kommen.
3. Es wird klar, ob eine Therapie/ein Produkt/ein Test VERFÜGBAR ist.
4. Es werden ALTERNATIVE Behandlungsarten/Produkte/Tests vorgestellt.
5. Die KOSTEN werden im journalistischen Beitrag in angemessener Weise berücksichtigt.
Wie teuer der Impfstoff ist, wird im Artikel nicht thematisiert.
6. Es sind keine Anzeichen von Krankheitserfindungen/-übertreibungen zu finden (DISEASE MONGERING).
An mancher Stelle wird unnötig dramatisiert, etwa hier: „Würde die Impfung in einem großen Prozentsatz der Fälle lediglich vor Covid-19-Symptomen schützen, könnten die Geimpften im schlimmsten Fall zu einem Heer asymptomatisch Infizierter werden, die ahnungslos und sich selbst sicher wähnend andere ansteckten. Dann wären die Immunisierten selbst zwar vor einem schweren Krankheitsverlauf geschützt – alle anderen aber, bis sie selbst geimpft worden sind, umso mehr in Gefahr.“ Daher werten wir knapp „NICHT ERFÜLLT“.
7. Der journalistische Beitrag ordnet die QUALITÄT der Belege/der Evidenz ein.
Im journalistischen Beitrag wird genau beschrieben, um was für eine Untersuchung es sich handelt: Von einer gemeinsam durchgeführten Beobachtungsstudie ist die Rede, in die insgesamt die Daten von rund 1,7 Millionen Geimpften einflossen. Allerdings, auch das lässt sich nachlesen, wurden die Daten bislang weder veröffentlicht, noch wurden sie von weiteren Experten begutachtet: „Die Studie soll erst noch auf einem Preprint-Server und in einem Fachmagazin veröffentlicht werden. Deswegen werden die detaillierten Daten bislang von Biontech und Pfizer nicht kommentiert. Das knapp 22-seitige Papier wurde jedoch bereits in Israel bekannt.“ Es bleibt jedoch unklar, ob das Papier für den journalistischen Beitrag vorlag. Vor allem aber fehlt der Hinweis auf eine große Schwachstelle der Studie: Geimpfte und Ungeimpfte werden unterschiedlich oft getestet, was zu einer groben Verzerrung der Vergleichsdaten führen kann (siehe auch Diskussion hier: twitter.com/ZoeMcLaren und twitter.com/flor8i). Das hätte im journalistischen Beitrag eingeordnet werden müssen.
8. Es werden UNABHÄNGIGE EXPERTEN oder QUELLEN genannt.
Experten kommen im journalistischen Beitrag nicht zu Wort. Das ist schade, denn gerade bei noch unveröffentlichten Daten wäre eine kritische Einordnung wichtig gewesen. Auch wird im Text auf keine anderen Studien zum Thema eingegangen. Man erfährt jedoch, dass es andere klinische Studien gab, die eine ähnliche Wirksamkeit gezeigt haben. Leider bleibt
dagegen unerwähnt, dass dem Beitrag bereits andere journalistische Artikel in einem israelischen und einem amerikanischen Medium vorausgegangen sind, was nach journalistischen Standards normalerweise üblich ist (siehe etwa hier: technologyreview.com/2021/02/19). Insgesamt werten wir „NICHT ERFÜLLT“.
9. Es werden, falls vorhanden, INTERESSENKONFLIKTE im Beitrag thematisiert.
10. Der Beitrag liefert Informationen zur EINORDNUNG der Thematik in einen Kontext (Neuheit, Ethik).
11. Der Beitrag gibt die wesentlichen Daten und Fakten korrekt wieder (FAKTENTREUE).
Wir finden folgende Ungenauigkeit: „Neue Virusvarianten haben es schwerer. Denn je mehr Menschen Sars-CoV-2 infiziert, desto mehr Gelegenheit hat es, zu mutieren und Varianten zu bilden, die ansteckender sind oder die der Immunantwort teilweise entkommen. Dass dies vor allem dort passiert, wo sich das Virus unkontrolliert ausgebreitet hat, haben die vergangenen Wochen gezeigt.“ Das ist eine irreführende Aussage. In Großbritannien etwa kann nicht davon gesprochen werden, dass sich das Virus „unkontrolliert ausgebreitet“ habe. Zudem zeigt wissenschaftliche Literatur, dass Mutationen in Settings entstehen, in denen Immun-Geschwächte monatelang behandelt werden (siehe auch: sciencemediacentre.org).
Auch bei der Formulierung der Überschrift wäre mehr Vorsicht wünschenswert gewesen: „Biontech-Impfstoff stoppt Virusübertragung zu 89,4 Prozent“ erweckt den Eindruck, als könnte man zu diesem Zeitpunkt bereits klare Schlüsse aus den Studienergebnissen ziehen. Das ist jedoch nicht der Fall.
12. Der Beitrag geht über eine Pressemitteilung/das Pressematerial hinaus (JOURNALISTISCHE EIGENLEISTUNG).
13. Ein Beitrag vermittelt ein Thema interessant und attraktiv (ATTRAKTIVITÄT DER DARSTELLUNG).
Der Artikel fasst die Ergebnisse der Untersuchung sehr übersichtlich zusammen. Der Stil ist dem Thema angemessen.
14. Der Beitrag ist für ein Laienpublikum verständlich (VERSTÄNDLICHKEIT).
Im Beitrag gelingt es größtenteils, die Ergebnisse der Studie und die möglichen Schlussfolgerungen daraus verständlich zu erklären, etwa hier: „(…) was einer Inzidenzrate von 11,5 pro 100.000 Personentagen entspricht – also 11,5 Infektionen pro 100.000 Tagen“. An anderen Stellen setzt der Text dagegen recht viel Wissen voraus: So dürfte nicht jedem klar sein, welche Variante mit B.1.1.7 gemeint ist, und wieso ihre Ausbreitung bei den Effektivitätsdaten eine Rolle spielt. Hier wäre eine kurze Erklärung hilfreich gewesen. Dennoch werten wir insgesamt „ERFÜLLT“.
15. Das THEMA ist aktuell, relevant oder ungewöhnlich. (THEMENAUSWAHL).
Ob der Corona-Impfstoff wirksam ist, ist in der aktuellen Pandemie von großer Bedeutung. Vor allem die Frage nach der Vermeidung von Infektionen ist interessant und wichtig. Denn das Ziel einer Herdenimmunität durch Impfungen kann nur erreicht werden, wenn Geimpfte das Virus nicht an Ungeimpfte weitergeben.
Medizinjournalistische Kriterien: 8 von 15 erfüllt
Wir werten den journalistischen Artikel um einen Stern ab, weil die Qualität der Studie nicht ausreichend eingeordnet wird und keine unabhängigen Experten zu Wort kommen.