Bewertet am 21. Januar 2021
Veröffentlicht von: FAZ.net
In den vergangenen Wochen wurden erneut verschiedene Möglichkeiten diskutiert, um die Covid-19-Pandemie rasch einzudämmen. In diesem Zusammenhang war im Dezember im Fachjournal The Lancet eine Strategie veröffentlicht worden, die einen zeitgleichen, harten Lockdown in allen europäischen Ländern vorsieht. Darüber berichtet ein Artikel auf der Webseite der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ). Leider werden die im Fachblatt gestellten Forderungen nicht von unabhängigen Experten bewertet, die Strategie nicht eingeordnet.

Zusammenfassung

In der Fachzeitschrift The Lancet fordern europäische Forscher über Ländergrenzen hinweg harte und strenge Maßnahmen, um die Corona-Krise in ganz Europa in den Griff zu bekommen. Ein Artikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung stellt den Aufruf vor und erklärt, welche Maßnahmen auf Deutschland zukommen würden. Um die Forderungen der Wissenschaftler einzuordnen, hätte man jedoch deutlich machen sollen, auf welchen wissenschaftlichen Daten der Appell beruht, wie gut die Evidenz dafür ist und ob dieser kontinentale, harte Lockdown auch Nebenwirkungen hat. Vor allem aber wird nicht erwähnt, dass die genauen Effekte der einzelnen Lockdown-Maßnahmen bislang nicht bekannt sind (siehe dazu auch diesen Artikel). Gerade angesichts der intensiv geführten Diskussionen zum Thema wären diese Informationen für die Leserinnen und Leser wichtig gewesen.

Diese Bewertung wurde mit Mitteln des Projektes CEOsys – Das Covid19-Evidenz-Ökosystem ermöglicht.

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Die Kriterien

1. Die POSITIVEN EFFEKTE sind ausreichend und verständlich dargestellt (NUTZEN).

Der Beitrag nennt allgemein die positiven Effekte, die die Unterzeichner des Aufrufs von einem verschärften Lockdown erwarten: „Geringe Fallzahlen retten Leben, sie sichern Arbeitsplätze und Unternehmen (…), die Ausbreitung könne damit effektiver kontrolliert werden, sie erlaubten zudem Planbarkeit, die Quarantäne und Kontaktnachverfolgung seien überhaupt nur so durchführbar, und nicht zuletzt bleibe den Menschen die unselige Debatte um eine populationsweite, durch Infektionen herbeigeführte Immunität (…) erspart“. Jedoch wird in keiner Weise deutlich, welche Einschränkungen sich in welchem Maße auf die einzelnen Parameter auswirken würden. Es wird nur sehr allgemein formuliert: „In vier Wochen könnten wir am Ziel sein, die Infektionszahlen auf die zehn Fälle pro Million und Tag zu drücken“. Daher werten wir insgesamt knapp „NICHT ERFÜLLT“.

2. Die RISIKEN & NEBENWIRKUNGEN werden angemessen berücksichtigt.

Selbst wenn die positiven Effekte überwiegen, hätte ein harter Lockdown auch negative Begleiterscheinungen: auf wirtschaftlicher und auf psychologischer Ebene, etwa durch Vereinsamung, auf der Bildungsebene, durch den Ausfall von hochwertigem Unterricht und auf medizinischer Ebene durch ausbleibende oder verschobene Untersuchungen und Behandlungen. Diese Folgen werden im journalistischen Beitrag jedoch nicht angesprochen.

3. Es wird klar, ob eine Therapie/ein Produkt/ein Test VERFÜGBAR ist.

Grundsätzlich ist ein harter Lockdown als Maßnahme natürlich „verfügbar“, das dürfte den Leserinnen und Lesern klar sein, ebenso wie die Tatsache, dass dieser noch nicht eingeführt ist. Es wäre allerdings schön gewesen, mehr darüber zu erfahren, ob es sich bei dem im Aufruf vorgeschlagenen, paneuropäischen Lockdown um ein realistisches, ökonomisch und politisch auch durchsetzbares Konzept handelt. Hierzu hätte man gerne Einschätzungen von Expertinnen und Experten gelesen, die sich dem Aufruf nicht angeschlossen haben bzw. hätte sich kritische Rückfragen an die Autorinnen und Autoren des Manifests gewünscht. Daher werten wir nur knapp „ERFÜLLT“.

4. Es werden ALTERNATIVE Behandlungsarten/Produkte/Tests vorgestellt.

Es werden weitere Handlungsmöglichkeiten angesprochen – von der durch Infektionen mit Sars-CoV-2 herbeigeführten Herdenimmunität bis hin zu Impfungen. Zu Impfungen wird allerdings nur kurz behauptet, diese seien „keine Rettung“. Und die Expertin Priesemann wird zitiert, dass sich bei so hohen Zahlen wie jetzt „die Zahl der Toten nicht reduzieren“ lässt. Warum dies durch gezielte Impfungen in Alten- und Pflegeheimen, verpflichtende Tests für Besucher etc. nicht möglich sein sollte, hinterfragt der Beitrag nicht. Hier hätten wir uns mehr und ausführlichere Erläuterungen gewünscht – und nicht allein die Erwähnung von Alternativen, die nach Ansicht der genannten Expertinnen nicht funktionieren. Daher werten wir insgesamt knapp „NICHT ERFÜLLT“.

5. Die KOSTEN werden im journalistischen Beitrag in angemessener Weise berücksichtigt.

Ökonomische Aspekte spricht der Beitrag nur allgemein an: Die Maßnahmen würden Arbeitsplätze und Unternehmen sichern (mit Verweis auf sich schnell erholende Volkswirtschaften wie Australien). Ob dies gleichermaßen für alle Branchen gilt, wie lange verschiedene Unternehmen dies durchhalten
könnten bzw. welche Kosten durch Ausgleichszahlungen etc. entstehen würden, thematisiert der Beitrag nicht. Ebenso wenig werden die Kosten einer langdauernden Pandemie angesprochen, und diese den kurzfristigen negativen Auswirkungen gegenübergestellt. Daher werten wir knapp „NICHT ERFÜLLT“.

6. Es sind keine Anzeichen von Krankheitserfindungen/-übertreibungen zu finden (DISEASE MONGERING).

Die Covid-19-Pandemie wird nicht übertrieben dargestellt.

7. Der journalistische Beitrag ordnet die QUALITÄT der Belege/der Evidenz ein.

In dem Artikel heißt es nur, dass sich die Forscher einer Publikation im international renommierten Medizin-Journal The Lancet angeschlossen hätten, in der eine gemeinsame „Strategie zur raschen und nachhaltigen Reduktion der Covid-19-Fallzahlen“ gefordert wird. Zudem werden verschiedene Zahlen aus dem Aufruf genannt: die Inzidenz müsse auf zehn Fälle pro einer Million Einwohner und Tag sinken, der R-Wert auf unter 0,7; für die Überwachung seien mindestens 300 Tests pro Million Einwohner erforderlich. Worauf diese Zielvorstellungen beruhen, ob es sich um Schätzungen (auf welcher Grundlage?) oder aus Modellen abgeleitete Zahlen handelt, bleibt unklar. Diese Information wäre jedoch wichtig gewesen, damit die Leserinnen und Leser diese Information einordnen können. Auch wenn solche Vorhersagen immer schwierig sind, so sollte man zumindest erwähnen, welche Berechnungen es dazu gibt und ob die Evidenz dazu eher groß oder klein ist und welche Unsicherheiten solche Vorhersagen und Berechnungen haben.

8. Es werden UNABHÄNGIGE EXPERTEN oder QUELLEN genannt.

Der Beitrag zieht als Quelle ausschließlich den im Lancet veröffentlichten Aufruf und die virtuelle Ankündigung der Initiatorinnen und Initiatoren heran. Es wird am Ende des journalistischen Beitrags lediglich kurz erwähnt, dass manche Forscher wie Hendrik Streeck, oder Jonas Schmidt-Chanasit den Aufruf nicht unterzeichnet haben, ebenso wenig wie Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Andreas Gassen. Doch wäre es gerade bei einem so umstrittenen Thema wichtig gewesen, auch von dem Aufruf unabhängige Experten direkt zu befragen.

9. Es werden, falls vorhanden, INTERESSENKONFLIKTE im Beitrag thematisiert.

Es werden keine Interessenkonflikte angesprochen, uns sind jedoch auch keine bekannt, die hier hätten genannt werden müssen.

10. Der Beitrag liefert Informationen zur EINORDNUNG der Thematik in einen Kontext (Neuheit, Ethik).

An einer Stelle des Artikels wird kurz angerissen, welche Erfahrungen es mit einem solchen Lockdown in Deutschland bereits gibt: „Mit dem ersten verschärften Lockdown im Frühjahr war in Deutschland ein Wert von 0,7 durchaus erreicht worden.“ Hier hätten wir uns noch ein paar mehr Informationen gewünscht: Was genau weiß man über die Effektivität eines solchen Lockdowns (hier und auch in anderen Ländern) und wie lässt sich der Lockdown aus dem Frühjahr mit dem geforderten vergleichen. Daher werten wir insgesamt knapp „NICHT ERFÜLLT“.

11. Der Beitrag gibt die wesentlichen Daten und Fakten korrekt wieder (FAKTENTREUE).

Faktenfehler sind uns nicht aufgefallen. Allerdings wird etwas pauschal erwähnt, dass die „Lockerungslautsprecher“ verstummt seien. Das allerdings ist nicht ganz richtig: Es gibt auch weiterhin Wissenschaftler, die den Kurs der aktuellen Lockdown-Politik kritisieren, einen Inzidenz-Zielwert von unter 50 für unrealistisch halten und einige der Maßnahmen als nicht verhältnismäßig ansehen.

12. Der Beitrag geht über eine Pressemitteilung/das Pressematerial hinaus (JOURNALISTISCHE EIGENLEISTUNG).

Der Artikel gibt zu großen Teilen zwar den Inhalt des Aufrufs und der Pressemitteilung wieder, geht an manchen Stellen jedoch auch darüber hinaus, etwa, wenn die Daten auf die Situation in Deutschland bezogen werden und auch kurz erklärt wird, wer sich nicht an dem Aufruf beteiligt. Daher werten wir knapp „ERFÜLLT“.

13. Ein Beitrag vermittelt ein Thema interessant und attraktiv (ATTRAKTIVITÄT DER DARSTELLUNG).

Der Beitrag ist interessant und gut zu lesen. Negativ fällt auf, dass der Artikel durch die mitschwingenden, pointierten Bewertungen (Schnapsidee, Vision, Talkshow-Experten) in Teilen recht kommentarhaft wirkt, häufig ohne die Bewertungen sachlich zu begründen.

14. Der Beitrag ist für ein Laienpublikum verständlich (VERSTÄNDLICHKEIT).

Der Artikel ist in weiten Teilen zwar anspruchsvoll geschrieben, dürfte aber nach Monaten der Corona-Berichterstattung für die meisten Leserinnen und Leser nachvollziehbar sein. Trotzdem gibt es Passagen, an denen wir uns mehr Erklärungen gewünscht hätten. So heißt es in dem Artikel: „Um die Fallzahlen so schnell zu drücken, müsste der R-Wert, der die Infektionstätigkeit in einem Land oder einer Region widerspiegelt, in ganz Europa auf möglichst unter 0,7 gedrückt werden. Am Freitagabend lag der R-Wert zum Ende der ersten Lockdown-Woche bei 1,05.“ Zwar hat jeder in den vergangenen Monaten wahrscheinlich vom R-Wert gehört, das heißt jedoch nicht, dass ihn auch jeder wirklich versteht. Daher sollten solche Fachbegriffe noch immer erklärt werden. Das gilt auch, wenn zum Beispiel von Immunpässen die Rede ist.

15. Das THEMA ist aktuell, relevant oder ungewöhnlich. (THEMENAUSWAHL).

Das Thema ist aktuell und auch relevant, da sich die Forderungen der Experten auf die politischen Entscheidungen der Regierungen auswirken.

Medizinjournalistische Kriterien: 7 von 15 erfüllt

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Kriterium erfüllt

Kriterium nicht erfüllt

Kriterium nicht anwendbar