Bewertet am 22. Oktober 2020
Veröffentlicht von: Tagesspiegel

Was für eine Enttäuschung: Remdesivir galt bislang als eines der wenigen Medikamente, die etwas gegen Covid-19 auszurichten schienen. Nun aber zeigen Zwischenergebnisse einer internationalen Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO), dass Remdesivir weder die Sterblichkeit der Patienten senkt, noch die Aufenthaltsdauer im Krankenhaus verkürzt. Über diese wichtigen, neuen Informationen berichtet der Tagesspiegel in einem aktuellen Artikel. Doch leider werden manche Aspekte zu wenig erklärt, andere gar nicht erwähnt, wie etwa die Qualität der bisherigen Studien.

Zusammenfassung

Momentan erhält der Kampf gegen Covid-19 naturgemäß große Aufmerksamkeit. Selbst die Zwischenergebnisse von Medikamentenstudien sind von Interesse, wie auch jene einer großen WHO-Studie zu verschiedenen Wirkstoffen, darunter Remdesivir, über die der Tagesspiegel aktuell berichtet. Bislang hatten Untersuchungen ergeben, dass die Arznei vor allem Patienten mit schweren Krankheitsverläufen helfen kann. Auch eine Anfang Oktober veröffentlichte Arbeit kam zu diesem Schluss. Wie im journalistischen Beitrag berichtet wird, dämpfen die Zwischenergebnisse der WHO-Studie nun diese Hoffnung. Dabei kommen unabhängige Experten zu Wort, die den aktuellen Stand der Forschung zu diesem Medikament einordnen. Das ist lobenswert. Allerdings werden teilweise zu viele Vorkenntnisse von den Leserinnen und Lesern vorausgesetzt, Fachbegriffe an mancher Stelle nicht erklärt. Auch wird die Qualität der aktuellen Studie – auch im Vergleich zu früheren Arbeiten – nicht eingeordnet. Daher dürfte der Text manche Leserinnen und Leser etwas ratlos zurücklassen: Auf welche der Studien sie nun vertrauen sollen, wenn es um Remdesivir geht, wird letztendlich nicht deutlich.

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Die Kriterien

1. Die POSITIVEN EFFEKTE sind ausreichend und verständlich dargestellt (NUTZEN).

Im journalistischen Beitrag erfahren die Leserinnen und Leser, dass sich der erhoffte Nutzen von Remdesivir nicht eingestellt hat, zumindest nicht in einer großen WHO-Studie mit mehr als 11 000 Patienten aus rund 400 Krankenhäusern in 30 Ländern. So zitiert der Text die daran beteiligten Forscher: „Keines der eingesetzten Mittel verminderte nachweislich die Sterblichkeit, die Notwendigkeit einer Beatmung oder die Dauer des Krankenhausaufenthaltes“. Auch heißt es weiter: „Die wenig vielversprechenden Gesamtergebnisse reichen aus, frühe Hoffnungen zu entkräften, die sich aus kleineren oder nicht randomisierten Studien ergeben haben.“ Es wird also deutlich, dass es schwer erkrankten Covid-19-Patienten nicht besser ging als jenen, die das Mittel nicht erhalten hatten. Schade ist, dass dieser fehlende Nutzen nicht in Zahlen ausgedrückt wird, obgleich diese in den von der WHO veröffentlichten Zwischenergebnissen leicht zu finden sind: Dort heißt es, dass elf Prozent jener 2743 Patienten starben, die Remdesivir erhalten hatten. In der etwa gleich großen Kontrollgruppe, waren es 11,2 Prozent – der Unterschied zwischen den beiden Gruppen war also statistisch nicht signifikant (siehe auch www.medrxiv.org/content). Da der fehlende Nutzen dennoch gut deutlich wird, werten wir insgesamt „ERFÜLLT“.

2. Die RISIKEN & NEBENWIRKUNGEN werden angemessen berücksichtigt.

Es wird nur kurz erwähnt, dass die Behandlung mit Remdesivir auch Risiken birgt: „Nach Einschätzung des Robert-Koch-Instituts könnte der Einsatz mehr als zehn Tage nach Symptombeginn sogar nachteilig sein.“ Andere Nebenwirkungen wie zum Beispiel Übelkeit werden allerdings nicht erwähnt. Auch wird nicht erklärt, dass bei manchen Covid-19 Patienten die Konzentration der Leberenzyme im Blut ansteigt, als Anzeichen für Leberprobleme (siehe auch: ema.europa.eu/en/documents). Daher werten wir knapp „NICHT ERFÜLLT“.

3. Es wird klar, ob eine Therapie/ein Produkt/ein Test VERFÜGBAR ist.

Gleich am Anfang des Artikels erfährt man zwar, dass Covid-19-Patienten in Deutschland mit Remdesivir behandelt werden. Doch es wird nicht deutlich, dass es nur für schwer erkrankte Covid-19-Patienten vorgesehen ist, die eine Lungenentzündung haben und eine zusätzliche Sauerstoffzufuhr benötigen. Auch darf das Medikament nur in klinischen Einrichtungen eingesetzt werden, in denen die Patienten engmaschig überwacht werden. Weiterhin wird im journalistischen Beitrag nicht deutlich, dass Remdesivir nur eine bedingte Zulassung für ein Jahr von der EU-Kommission erhalten hat (siehe auch ec.europa.eu/germany/news). Insgesamt werten wir daher knapp „NICHT ERFÜLLT“.

4. Es werden ALTERNATIVE Behandlungsarten/Produkte/Tests vorgestellt.

Alternative Behandlungen werden erwähnt, das Malariamittel Hydroxychloroquin etwa und das HIV-Medikament Lopinavir, das Kortison-Präparat Dexamethason und ein Wirkstoff aus der Gruppe der Interferone. Leider wird keiner dieser Wirkstoffe oder sein Wirkpotenzial im Text erläutert. Daher werten wir insgesamt nur knapp „ERFÜLLT“.

5. Die KOSTEN werden im journalistischen Beitrag in angemessener Weise berücksichtigt.

Wie teuer eine Behandlung mit Remdesivir ist, erfährt man nicht. Auch wird nicht klar, wer die Kosten der Behandlung trägt. Dabei wurde zumindest über die Preisfeststellung des Herstellers Gilead in den USA bereits ausführlich in den Medien berichtet, siehe auch: www.aerzteblatt.de/nachrichten. Angesichts der fortlaufenden Debatte über gerechte Medikamentenverteilung im Verlauf der Pandemie wäre das ein wichtiger Aspekt gewesen. Daher werten wir „NICHT ERFÜLLT“.

6. Es sind keine Anzeichen von Krankheitserfindungen/-übertreibungen zu finden (DISEASE MONGERING).

Über den Krankheitsverlauf von Covid-19 erfährt man nur wenig. Die im Text vorhandenen Informationen sind jedoch korrekt und keineswegs übertrieben.

7. Der journalistische Beitrag ordnet die QUALITÄT der Belege/der Evidenz ein.

Der Artikel liefert viele wichtige Informationen zur Studie. So erfährt man, dass die Daten von 11 000 Patienten aus 400 Krankenhäusern und 30 Ländern ausgewertet wurden. 2743 der Patienten wurden mit Remdesivir behandelt. Außerdem wird früh im Text erklärt, dass diese Studie noch nicht durch unabhängige Wissenschaftler begutachtet worden ist: „Die fachliche Begutachtung der Studie durch unabhängige Experten steht noch aus. Sie wurde bislang nur auf einem Preprint-Server veröffentlicht. Andere Experten zweifeln ihre Aussagekraft an.“ Allerdings wird der Studienaufbau im journalistischen Beitrag nicht erklärt: Hier handelt es sich um eine randomisierte kontrollierte Studie, bei der also der Zufall entschied, welcher Patient Remdesivir oder ein anderes Medikament erhielt. Auch wird nicht deutlich, dass diese Studie nicht verblindet ist: Sowohl Patient wie auch der Arzt wissen, welcher Wirkstoff eingesetzt wird, was die Behandlungsergebnisse – je nach Erwartungen von beiden Seiten – beeinflussen kann.

8. Es werden UNABHÄNGIGE EXPERTEN oder QUELLEN genannt.

Aus dem Angebot des Science Media Centers wurden einige unabhängige Expertenmeinungen für den journalistischen Beitrag herangezogen. Sie tragen zum Verständnis der Studienergebnisse bei. Auch eine Einschätzung des Robert-Koch-Instituts wird im Text erwähnt und ein Mediziner, den die New York Times zitiert, ebenso wie ein kritischer Fachartikel zum Thema.

9. Es werden, falls vorhanden, INTERESSENKONFLIKTE im Beitrag thematisiert.

Interessenkonflikte werden implizit erwähnt: „Auch der Hersteller von Remdesivir kritisiert die Heterogenität im Studiendesign und bezweifelt die Aussagekraft.“ Hier wird also indirekt deutlich, dass der Pharmakonzern Gilead natürlich ein Interesse daran hat, dass sein Medikament in Studien besonders gut abschneidet. Darüber hätte man gern noch mehr erfahren. Insgesamt werten wir daher nur knapp „ERFÜLLT“.

10. Der Beitrag liefert Informationen zur EINORDNUNG der Thematik in einen Kontext (Neuheit, Ethik).

n den vergangenen Monaten war Remdesivir oft in den Schlagzeilen. Viele der Leserinnen und Leser dürften also bereits von dem Wirkstoff gehört haben. Dennoch setzt der Artikel sehr viel Grundwissen voraus. Nur kurz werden frühere Studien zu Remdesivir erwähnt, ob und wie sie sich in der Qualität von der aktuellen Studie unterscheiden, wird indes nicht deutlich. Es wäre auch hilfreich gewesen, den Wirkmechanismus von Remdesivir nochmals zu erklären. Zudem bleibt unerwähnt, dass Remdesivir ursprünglich für die Bekämpfung von Ebolaviren entwickelt wurde, sich aber dann in Zellversuchen zeigte, dass der Wirkstoff die Vermehrung von Coronaviren hemmen kann. Im Tierversuch hatten Forscher zudem beobachtet, wie unter der Behandlung weniger Covid-19-Symptome und Lungenschäden auftraten. Ohne diese Erklärungen dürfte es vielen Leserinnen und Lesern schwerfallen, die Zwischenergebnisse der WHO-Studie und ihre Bedeutung einzuordnen. Daher werten wir insgesamt knapp „NICHT ERFÜLLT“.

11. Der Beitrag gibt die wesentlichen Daten und Fakten korrekt wieder (FAKTENTREUE).

Ein paar Unstimmigkeiten fallen auf, etwa: „Remdesivir schnitt in der Studie nicht besser ab als das Malariamittel Hydroxychloroquin, das HIV-Medikament Lopinavir oder Behandlungen mit einem antiviral wirkenden Hormon aus der Gruppe der Interferone.“ Diesen Vergleich nehmen die Studienautoren aber gar nicht vor. Auch ist folgende Aussage nicht ganz korrekt: „Die Sterblichkeit, die Notwendigkeit ins Krankenhaus eingeliefert zu werden und die Aufenthaltsdauer dort blieben mit oder ohne die Medikamentengabe gleich.“ Die WHO-Studie berücksichtigte nur Patientinnen und Patienten, die bereits in ein Krankenhaus eingewiesen worden waren. Daher werten wir insgesamt knapp „NICHT ERFÜLLT“.

12. Der Beitrag geht über eine Pressemitteilung/das Pressematerial hinaus (JOURNALISTISCHE EIGENLEISTUNG).

Im journalistischen Beitrag kommen unabhängige Experten zu Wort, die die Zwischenergebnisse der WHO-Studie einordnen. Damit geht der Text deutlich über die Pressemitteilung hinaus.

13. Ein Beitrag vermittelt ein Thema interessant und attraktiv (ATTRAKTIVITÄT DER DARSTELLUNG).

Für dieses Thema einen nachrichtlichen Stil zu wählen, ist sicher richtig. Auch ist der Text logisch aufgebaut. Ein paar mehr Sprachbilder und auflockernde Formulierungen hätten dem Artikel jedoch an mancher Stelle gutgetan.

14. Der Beitrag ist für ein Laienpublikum verständlich (VERSTÄNDLICHKEIT).

Der Artikel ist voller Informationen, die oft nicht ausreichend erklärt oder eingeordnet werden. Für den Laien dürfte es daher schwer sein, dem Artikel zu folgen, wenn etwa von „antiviral wirkenden Hormon aus der Gruppe der Interferone“ die Rede ist oder von der „Heterogenität im Studiendesign“. So heißt es bei der Kritik an der WHO-Studie zum Beispiel, dass sie „losgelöst von der Realität der Pandemie“ sei. Was das genau bedeuten soll, wird nicht klar. Auch die Einschätzung eines Experten dürfte für Laien unverständlich sein: „Dass Interferon sogar eher einen negativen Effekt auf den Krankheitsverlauf hat, sei aber überraschend“. Manche Passagen hängen zudem etwas in der Luft: „Was uns leider noch fehlt, ist eine Antwort auf die Frage, wie wir sinnvoll die beiden Therapiestrategien Dexamethason und Remdesivir kombinieren“, wird ein Experte gegen Ende des Beitrags zitiert. Von diesem Medikament war bisher nirgends die Rede, es wird weder vorgestellt noch eingeordnet. Daher werten wir insgesamt knapp „NICHT ERFÜLLT“.

15. Das THEMA ist aktuell, relevant oder ungewöhnlich. (THEMENAUSWAHL).

Das Thema ist äußerst relevant und sehr aktuell. Die Studie wurde m 15. Oktober veröffentlicht, der Beitrag ist am 16. Oktober erschienen.

Medizinjournalistische Kriterien: 9 von 15 erfüllt

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Kriterium erfüllt

Kriterium nicht erfüllt

Kriterium nicht anwendbar