Bewertet am 20. Juli 2020
Veröffentlicht von: Der Spiegel (online)
Eine Nachricht, die große Hoffnungen weckt: Ein experimenteller Impfstoff gegen das neue Coronavirus hat in ersten Tests ermutigende Ergebnisse gezeigt. Über dieses wichtige Thema berichtet ein Artikel auf Spiegel Online. Gerade weil eine Vakzine gegen den Erreger so sehnsüchtig erwartet wird, ist es umso wichtiger, differenziert und sachlich über das Thema zu berichten. Diese Herausforderung meistert der journalistische Beitrag geradezu vorbildlich. Nur wenige Aspekte wie etwa die möglichen Kosten des Impfstoffs wären noch erwähnenswert gewesen.

Zusammenfassung

Vorsicht ist geboten, wenn es um aktuelle Studien zu potentiellen Wirkstoffen gegen das neue Coronavirus geht. Allzu oft wurden in jüngster Vergangenheit zunächst große Versprechungen gemacht, die sich später nicht halten ließen. So etwa geschehen mit dem Malaria-Medikament Hydroxychloroquin. Umso lobenswerter ist es, wie sachlich und zurückhaltend im vorliegenden Artikel über einen neuen, experimentellen Impfstoff gegen den Erreger berichtet wird: Klar und strukturiert wird auf Nutzen und Nebenwirkungen eingegangen, die zugrundeliegende Studie wird ausführlich erläutert. Selbst mögliche Bedenken zur langfristigen Wirksamkeit von Impfungen werden thematisiert. Bedauerlich ist dagegen, dass nicht auf die möglichen Kosten des Impfstoffs eingegangen wird, da diese in der gegenwärtigen Diskussion um eine globale, gerechte Verteilung von Wirkstoffen gegen Covid-19 eine große Rolle spielen. Auch wird ein Experte leider nur kurz im Text zitiert, dabei hätte er die aktuelle Studie und alternative Forschungsansätze noch mehr einordnen können. Insgesamt ein sehr lesenswerter Beitrag, der durch eine informative Illustration ergänzt wurde.

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Die Kriterien

1. Die POSITIVEN EFFEKTE sind ausreichend und verständlich dargestellt (NUTZEN).

Die positiven Effekte der Studie werden ausgiebig thematisiert: Demnach haben in der Studie „alle Teilnehmer eine Immunantwort gegen das Coronavirus Sars-CoV-2 entwickelt. Diese war in den entsprechenden Labortests ähnlich oder sogar besser als die von Menschen, die kürzlich eine Coronavirus-Infektion durchgemacht hatten. Bei höherer Dosierung des Impfstoffs fiel die Immunantwort besser aus.“ Auch Einschränkungen der Studie werden angesprochen: „Für die veröffentlichte Studie wurden die Teilnehmerinnen und Teilnehmer lediglich knapp 60 Tage begleitet. Das heißt: Es lässt sich noch nichts über die Dauer der Immunantwort ableiten.” Auch wenn die Effekte nicht quantifiziert sind, vermittelt deren Beschreibung hinreichend das Ausmaß. Daher werten wir insgesamt „ERFÜLLT“.

2. Die RISIKEN & NEBENWIRKUNGEN werden angemessen berücksichtigt.

Auf Risiken und Nebenwirkungen wird im journalistischen Beitrag ausführlich Bezug genommen. So heißt es zu den Nebenwirkungen etwa: „Zur Sicherheit des Impfstoffs schreibt Moderna, dass es keine schweren Nebenwirkungen gegeben habe. Allerdings hatte ein Teilnehmer in der Gruppe mit der niedrigsten Impfstoff-Dosierung wenige Tage nach der ersten Impfung eine vorübergehende Nesselsucht an beiden Beinen, eine Form von Hautausschlag. Dieser Proband erhielt deshalb keine zweite Impfdosis.“ Später im Text wird weiter ergänzt: „Nach der zweiten Impfdosis hatte rund die Hälfte der Teilnehmer in den beiden Gruppen mit höherer Impfstoff-Dosierung erhöhte Temperatur, in einem Fall waren es sogar 39,6 Grad. Die häufigste Nebenwirkung, von der fast alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer berichteten, war Schmerz an der Einstichstelle. Dieser war jedoch in den überwiegenden Fällen nur leicht, in wenigen Fällen wurde er als moderat eingestuft. Weitere beobachtete Nebenwirkungen waren Kopf- oder Gliederschmerzen, Abgeschlagenheit, Schüttelfrost und Übelkeit – alles keine ungewöhnlichen Reaktionen nach einer Impfung. Insgesamt gab es bei höherer Dosierung des Impfstoffs auch mehr dieser als mild bis moderat eingestuften Nebenwirkungen.“ Zudem wird ausführlich berichtet, dass derzeit nicht klar ist, wie lange der Impfschutz anhält. Ein Hinweis wäre jedoch wichtig gewesen: Seltene Nebenwirkungen können aufgrund der geringen Teilnehmerzahl auf diese Weise nicht nachgewiesen werden, aber durchaus von Bedeutung sein, weil Milliarden von Menschen mit dem Wirkstoff geimpft werden sollen.

3. Es wird klar, ob eine Therapie/ein Produkt/ein Test VERFÜGBAR ist.

Im Beitrag wird ausführlich auf die mögliche künftige Verfügbarkeit des potentiellen Wirkstoffs eingegangen: „Der Impfstoff mRNA-1273 soll ab Ende Juli in einer Phase-III-Studie geprüft werden, an der rund 30.000 Probanden teilnehmen. Die Studie soll bis Oktober 2022 dauern, Ergebnisse kann es aber schon vorher geben.“ Allerdings wird nicht erläutert, ob der Impfstoff auch zeitnah in ausreichender Menge hergestellt werden kann, um die Pandemie effektiv einzudämmen. Da dieser Aspekt jedoch in der aktuellen Situation hoch relevant ist, werten wir nur knapp „ERFÜLLT“.

4. Es werden ALTERNATIVE Behandlungsarten/Produkte/Tests vorgestellt.

Es werden im Artikel alternative Impfstoff-Ansätze thematisiert: „Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO werden aktuell 23 mögliche Impfstoffe bereits in klinischen Studien getestet. Des Weiteren sind 140 in der vorklinischen Entwicklung.“ Allerdings fehlt der Hinweis, dass andere Ansätze, wie der von Oxford/Astra Zeneca offenbar bereits weiter sind (Phase III Studien), siehe auch: ox.ac.uk/news, economist.com/britain.
Ebenso wenig wird erwähnt, dass es bereits Studien zu Medikamenten gibt, die gegen das neuartige Coronavirus helfen sollen. Da es sich im vorliegenden Beitrag aber um einen Überblick zu Impfstoffen handelt, finden wir das nachvollziehbar. Insgesamt werten wir daher „ERFÜLLT“.

5. Die KOSTEN werden im journalistischen Beitrag in angemessener Weise berücksichtigt.

Leider wird dieser Aspekt im Text nicht thematisiert. Dabei sind die Kosten gerade in der aktuellen Diskussion um eine möglichst gerechte globale Verteilung künftiger Impfstoffe relevant, da ein hoher Preis den Zugang zu diesen Vakzinen für manche Länder erschweren dürfte. Auch wenn die Kosten eines experimentellen Impfstoffs noch nicht endgültig feststehen können, hätte zumindest erwähnt werden können, ob sich das Unternehmen Moderna dazu in irgendeiner Weise geäußert hat. Daher werten wir „NICHT ERFÜLLT“.

6. Es sind keine Anzeichen von Krankheitserfindungen/-übertreibungen zu finden (DISEASE MONGERING).

Covid-19 wird nicht übertrieben bedrohlich dargestellt. Es sind auch keine Hinweise auf Krankheitserfindungen vorhanden.

7. Der journalistische Beitrag ordnet die QUALITÄT der Belege/der Evidenz ein.

Die Qualität der Belege beziehungsweise die Art der Studie wird ausführlich thematisiert. Es handelt sich demnach um eine „Phase-I-Studie, in der 45 gesunde Probandinnen und Probanden im Alter von 18 bis 55 Jahren den neuartigen Coronavirus-Impfstoff erhielten. Die Teilnehmer bekamen diesen zweimal gespritzt. Getestet wurden drei unterschiedlich hohe Dosierungen (25, 100 und 250 Mikrogramm) bei je 15 Probanden. In dieser Studienphase sollte geprüft werden, ob der Impfstoff eine Immunantwort hervorruft und wie sicher er ist.” Am Ende des Textes findet sich zudem eine ausführliche Erklärung über die verschiedenen Phasen klinischer Forschung.

8. Es werden UNABHÄNGIGE EXPERTEN oder QUELLEN genannt.

Es wird im Beitrag auf die Weltgesundheitsorganisation (WHO) verwiesen: „Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO werden aktuell 23 mögliche Impfstoffe bereits in klinischen Studien getestet. Des Weiteren sind 140 in der vorklinischen Entwicklung (Stand: 14. Juli).“ Auch werden andere Unternehmen zu deren Stand der Impfstoff-Forschung erwähnt: „Viele dieser Projekte machen Fortschritte. Anfang Juli veröffentlichten beispielsweise die Unternehmen Biontech und Pfizer Zwischenergebnisse einer Phase-I/II-Studie…“ Am Ende des Artikels wird als unabhängiger Experte noch ein Mitglied der Ständigen Impfkommission zitiert, dem die sehr rasche Entwicklung der Impfstoffe Sorgen bereitet: „Wir können nicht einfach auf eine ausreichende Impfstoffprüfung verzichten, nur weil das jetzt so drängt.“ Allerdings wäre es hier hilfreich gewesen, wenn eine Expertin oder ein Experte die im Bericht vorgestellte Studie zum experimentellen Impfstoff des Unternehmens Moderna in den Kontext der aktuellen Impfstoff-Forschung zum neuen Coronavirus eingeordnet hätte. Daher werten wir nur knapp „ERFÜLLT“.

9. Es werden, falls vorhanden, INTERESSENKONFLIKTE im Beitrag thematisiert.

Es wird deutlich, dass der Pharma-Konzern „Moderna” die Forschung durchführt.

10. Der Beitrag liefert Informationen zur EINORDNUNG der Thematik in einen Kontext (Neuheit, Ethik).

Der in der aktuellen Studie getestete, experimentelle Impfstoff wird in den Kontext der allgemeinen Impfstoffentwicklung gestellt: „Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO werden aktuell 23 mögliche Impfstoffe bereits in klinischen Studien getestet. Des Weiteren sind 140 in der vorklinischen Entwicklung (Stand: 14. Juli). Viele dieser Projekte machen Fortschritte.“ Es wird durch die begleitende Infografik auch deutlich, dass bislang noch kein einziger dieser so genannten mRNA-Impfstoffe zugelassen wurde, diese Art von Vakzine also sehr neu ist. Daher werten wir insgesamt „ERFÜLLT“.

11. Der Beitrag gibt die wesentlichen Daten und Fakten korrekt wieder (FAKTENTREUE).

Wir haben keine Fehler gefunden.

12. Der Beitrag geht über eine Pressemitteilung/das Pressematerial hinaus (JOURNALISTISCHE EIGENLEISTUNG).

Der journalistische Beitrag geht deutlich über die vorhandenen Pressemitteilungen zur aktuellen Impfstoff-Studie hinaus (siehe dazu auch: investors.modernatx.com/news-releases und news.emory.edu/stories). Zusätzlich werden zum Beispiel die verschiedenen Phasen klinischer Studien erläutert. Auch wird erklärt, dass die Immunität gegen das Coronavirus nach einer Impfung womöglich mit der Zeit wieder abnimmt. Schließlich werden sogar konkurrierende Impfstoff-Kandidaten genannt.

13. Ein Beitrag vermittelt ein Thema interessant und attraktiv (ATTRAKTIVITÄT DER DARSTELLUNG).

Der Artikel ist durch Zwischenfragen klar strukturiert, so dass Leserinnen und Leser sich bei der Lektüre rasch orientieren und gezielt informieren können. Der Text ist angenehm nüchtern, jegliche Dramatisierung der aktuellen Situation ohne Impfstoff gegen das Coronavirus wird vermieden.

14. Der Beitrag ist für ein Laienpublikum verständlich (VERSTÄNDLICHKEIT).

Der Text ist für Leser und Leserinnen verständlich aufbereitet, unbekannte Begriffe werden meist erklärt, etwa: „Die zuständige US-Behörde FDA hat kürzlich bekannt gegeben.“ Auch komplexe Zusammenhänge werden erläutert: „Die Daten sind ein Zwischenergebnis. Für die veröffentlichte Studie wurden die Teilnehmerinnen und Teilnehmer lediglich knapp 60 Tage begleitet. Das heißt: Es lässt sich noch nichts über die Dauer der Immunantwort ableiten.“ Oder „Bei ´mRNA-1273´ handelt es sich um einen mRNA-Impfstoff, der einen Bauplan für ein Virusprotein enthält. Dieser liegt in Form sogenannter Messenger-RNA vor, eine Art von Molekül, die in Zellen natürlicherweise als Blaupause für Proteine agiert.“

15. Das THEMA ist aktuell, relevant oder ungewöhnlich. (THEMENAUSWAHL).

Das Thema ist relevant, da es sich um neue Studienergebnisse zu einem wichtigen Impfstoff-Kandidaten gegen das neue Coronavirus handelt.

Medizinjournalistische Kriterien: 14 von 15 erfüllt

Abwertung um einen Stern, da drei Kriterien nur knapp „ERFÜLLT“.

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Kriterium erfüllt

Kriterium nicht erfüllt

Kriterium nicht anwendbar