Bewertet am 31. Juli 2020
Veröffentlicht von: Main-Echo
Was, wenn es möglich wäre, mit der Einnahme des Spurenelements Selen einer Covid-19-Erkrankung vorzubeugen? Über eine kleine Studie, die so einen Zusammenhang vermuten lässt, berichtet ein Artikel im Main-Echo. Auch wenn im journalistischen Beitrag erwähnt wird, dass es sich dabei bislang nur um eine Hypothese handelt, fällt die Gesamtdarstellung der Evidenz zu positiv aus. Eine Einordnung durch einen von der Studie unabhängigen Experten wäre hier wichtig gewesen, um den Leserinnen und Leser einen objektiveren Einblick in die Evidenzlage zu gewähren.

 

Zusammenfassung

In einer kleinen Studie finden Forscher einen statistischen Zusammenhang zwischen einem schweren Verlauf einer Erkrankung an Covid-19 und einem niedrigen Selenspiegel. Ein Artikel im Main-Echo nimmt das zum Anlass, um über Selen als möglichen, vorbeugenden Einsatz gegen die durch das Coronavirus ausgelöste Krankheit zu berichten. Zwar erwähnt der Artikel, dass es sich bislang nur um eine Hypothese handelt, für die es noch an Evidenz fehlt, trotzdem wird den Leserinnen und Lesern ein zu positives Bild der bisherigen Studienlage vermittelt, was allein schon an der verwendeten Sprache des Beitrags liegt, der mit Adjektiven wie „hoffnungsvoll“, „bedeutungsvoll“ und „faszinierend“ nicht spart. Wie dünn die Belege sind, hätte man daher noch klarer herausarbeiten müssen, am besten mit einem unabhängigen Experten, der die Studie und die Schlussfolgerungen des Studienautors kommentiert; zumal bei der Studienautoren Interessenkonflikte vorliegen, die im Artikel indes nicht thematisiert werden. Der mögliche Nutzen einer präventiven Einnahme von Selen bleibt zu vage. Das könnte dazu führen, dass Leserinnen und Leser den möglichen Nutzen überschätzen. Zwar handelt es sich um einen interessanten Ansatz, der im Beitrag beschrieben wird. Insgesamt wäre jedoch eine ausgewogene Einordnung der aktuellen Studie wünschenswert gewesen, um Leserinnen und Leser nicht ggf. in die Irre zu leiten.

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Die Kriterien

1. Die POSITIVEN EFFEKTE sind ausreichend und verständlich dargestellt (NUTZEN).

Der Artikel macht klar: Die Hoffnung der Forscher ist es, mit einer vorbeugenden Einnahme von Selen dem Immunsystem von Risikopatienten so zu helfen, dass sie eine Covid-19-Erkrankung besser überstehen. Ob das jedoch gelingen kann, ist völlige Spekulation. Denn bislang ist es nur eine Hypothese, dass Selen vor einem schweren Verlauf der Infektion schützen kann. Auch das erfährt man im Artikel. Die kleine Studie, auf der die Hypothese beruht, hat nämlich lediglich einen statistischen Zusammenhang zwischen einem geringen Selenwert im Blut und einem schweren bzw. tödlichen Krankheitsverlauf hergestellt. Man lernt zwar, dass der Zusammenhang statistisch signifikant war. Was das genau bedeutet, wird den Leserinnen und Lesern jedoch nicht erklärt. Auch werden keine absoluten Zahlen zum Selenspiegel im Blutserum der Probanden genannt, ebenso wenig wie Referenzwerte der Normalbevölkerung. Auch das Alter der Studienteilnehmer bleibt unerwähnt (die Patienten der Studie waren im Mittel 77 Jahre alt, die sechs Sterbefälle unter ihnen alle älter als 80 Jahre, mit diversen Begleiterkrankungen). Es bleibt also völlig unklar, wie niedrig der Selen-Spiegel im Vergleich zur Normalbevölkerung tatsächlich war und was zum Tode der Patienten führte. Zudem wäre es hilfreich gewesen, mehr über den möglichen Wirkmechanismus einer vorbeugenden Wirkung von Selen bei Covid-19 zu erfahren. Daher werten wir insgesamt „NICHT ERFÜLLT“.

2. Die RISIKEN & NEBENWIRKUNGEN werden angemessen berücksichtigt.

Im Artikel ist nachzulesen, dass Selen auch ernstzunehmende Nebenwirkungen haben kann: „`Menschen aus den Risikogruppen sollten zuvor mit ihrem Hausarzt sprechen´, empfiehlt der Chefarzt.“ Auch werden konkrete Nebenwirkungen genannt: „Tatsächlich gebe es bei einer überdosierten Einnahme von Selen das Risiko erheblicher Nebenwirkungen wie etwa Sehstörungen.“ Andere, wichtige Nebenwirkungen bleiben dagegen unerwähnt, Gelenkschmerzen und Magen-Darm-Probleme etwa, Nervenleiden, Gedächtnisstörungen und Zahnprobleme, Hautschäden und Haarausfall. Obwohl der Studienautor im Artikel auf mögliche Nebenwirkungen verweist, gibt er an, dass seine Familie täglich 100 Mikrogramm Selen einnimmt, was deutlich über dem von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung empfohlenen Höchstwert von 70 Mikrogramm pro Tag für Männer und 60 Mikrogramm für Frauen liegt (siehe auch: dge.de/wissenschaft). Dies könnte dazu führen, dass die angesprochenen, möglichen Nebenwirkungen von den Leserinnen und Lesern nicht ernst genommen werden, zumal Selenpräparate frei verkäuflich sind. Daher werten wir insgesamt nur knapp „ERFÜLLT“.

 

3. Es wird klar, ob eine Therapie/ein Produkt/ein Test VERFÜGBAR ist.

Angesprochen wird, dass Selen in Lebensmitteln wie Fisch, Fleisch, Eiern oder Milchprodukten vorkommt, man es aber auch als Nahrungsergänzungsmittel einnehmen kann. Dass Selen damit zum Beispiel in Drogerien frei verfügbar ist, wird nicht explizit erwähnt. Allerdings darf man davon ausgehen, dass dies den meisten Leserinnen und Lesern bekannt ist.

4. Es werden ALTERNATIVE Behandlungsarten/Produkte/Tests vorgestellt.

Alternative Behandlungen werden leider nicht thematisiert – zum Beispiel andere Forschungsansätze, die bei Covid-19 vorbeugend wirken sollen oder für eine milderen Verlauf der Krankheit sorgen könnten.

5. Die KOSTEN werden im journalistischen Beitrag in angemessener Weise berücksichtigt.

Mögliche Kosten werden nicht angesprochen. Gerade weil es sich um ein frei verfügbares Nahrungsergänzungsmittel handelt, wäre dies eine wichtige Information gewesen. Daher werten wir „NICHT ERFÜLLT“.

6. Es sind keine Anzeichen von Krankheitserfindungen/-übertreibungen zu finden (DISEASE MONGERING).

Die Covid-19-Erkrankung wird im Text nicht übertrieben dargestellt, auch Krankheitserfindungen sind nicht zu finden.

7. Der journalistische Beitrag ordnet die QUALITÄT der Belege/der Evidenz ein.

Die Leserinnen und Leser erfahren nur in einem Halbsatz, dass die Studie nicht ausreicht, um Menschen Selen zur Prävention einer Covid-19-Erkrankung zu empfehlen: „wohlwissend, dass es für eine solche Empfehlung bislang nur Hinweise und noch keine abschließenden wissenschaftlichen Belege gibt“. Doch geht der Beitrag leider nicht auf die Qualität der Studie ein, eine Beobachtungsstudie mit nur 33 Probanden. Außerdem wird nicht deutlich gemacht, dass in der Untersuchung nur eine Korrelation beobachtet wurde. Ob also der niedrige Selenspiegel im Blut und die Todesfälle kausal miteinander zusammenhängen, kann eine solche Beobachtungsstudie gar nicht belegen. Daher werten wir „NICHT ERFÜLLT“.

8. Es werden UNABHÄNGIGE EXPERTEN oder QUELLEN genannt.

Der Beitrag macht klar, woher die verwendeten Informationen stammen: Er nennt die Fachzeitschrift und lässt den Studienautor zu Wort kommen. Da dieser Unfallchirurg ist, wird zudem erklärt, wie und warum er sich mit den Auswirkungen von Selen beschäftigt. Ein unabhängiger Experte kommt dagegen nicht zu Wort, was für die Einordnung der Studienergebnisse jedoch wichtig gewesen wäre.

9. Es werden, falls vorhanden, INTERESSENKONFLIKTE im Beitrag thematisiert.

Der Artikel versäumt es zu erwähnen, dass einer der Studienautoren Anteile an der selenOmed GmbH hat und ein weiterer dort als CEO arbeitet – obwohl das der Fachstudie zu entnehmen ist. Das Unternehmen bietet Beratung, Produkte und Service rund um die Analyse und das Monitoring des Selenstatus an. Hier liegt also ein Interessenkonflikt vor, der den Leserinnen und Lesern jedoch verborgen bleibt. Daher werten wir „NICHT ERFÜLLT“.

10. Der Beitrag liefert Informationen zur EINORDNUNG der Thematik in einen Kontext (Neuheit, Ethik).

Im Beitrag wird auf die Neuheit des Forschungsansatzes verwiesen: „Die Hinweise auf die erhebliche Bedeutung des Mikronährstoffs Selen auf den Verlauf von Covid-19- Erkrankungen seien weltweit erstmals von seiner Arbeitsgruppe veröffentlicht worden.“ Hier wird sich allerdings ganz auf die Aussage der Studienautoren selbst verlassen, eine Einordnung oder Kommentierung findet nicht statt. Dabei ist schon lange bekannt, dass Selen zumindest allgemein bei der Immunabwehr eine wichtige Rolle spielt (siehe auch: pubmed.ncbi.nlm.nih.gov). Das wird im journalistischen Beitrag nicht deutlich. Daher werten wir „NICHT ERFÜLLT“.

11. Der Beitrag gibt die wesentlichen Daten und Fakten korrekt wieder (FAKTENTREUE).

Wir haben keine Faktenfehler gefunden.

12. Der Beitrag geht über eine Pressemitteilung/das Pressematerial hinaus (JOURNALISTISCHE EIGENLEISTUNG).

Eine Pressemitteilung haben wir nicht gefunden, daher müssen wir hier von einer journalistischen Eigenleistung ausgehen.

13. Ein Beitrag vermittelt ein Thema interessant und attraktiv (ATTRAKTIVITÄT DER DARSTELLUNG).

Jede Möglichkeit, einen schweren Verlauf der Covid-19-Erkrankung zu verhindern, dürfte für die meisten Leser ohnehin interessant sein. Dem Beitrag gelingt es auch, den vor allem nachrichtlichen Inhalt ansprechend zu vermitteln. Allerdings fehlt dem Text an vielen Stellen die journalistische Distanz zum Studienautor („Ergebnisse klingen faszinierend“, „hofft der erfahrene Mediziner“, „Professor Moghaddam hat seine lebenspraktischen Schlüsse aus den eigenen Forschungsergebnissen allerdings bereits gezogen“), was die Attraktivität des Textes für manche Leserinnen und Leser deutlich schmälern dürfte. Daher werten wir nur knapp „NICHT ERFÜLLT“.

14. Der Beitrag ist für ein Laienpublikum verständlich (VERSTÄNDLICHKEIT).

Der Beitrag ist auch für Laien verständlich geschrieben, wobei indes auch keine medizinischen Details zur Studie selbst oder zur möglicherweise immunstärkenden Wirkung von Selen erklärt werden.

15. Das THEMA ist aktuell, relevant oder ungewöhnlich. (THEMENAUSWAHL).

Das Thema ist aktuell, da es sich um eine recht neue Studie zum neuen Coronavirus SARS-CoV-2 handelt. Die mögliche Behandlung oder Prävention eines schweren Krankheitsverlaufs sind in der derzeitigen Lage grundsätzlich von Interesse, zumal es sich teilweise um Forscher aus dem Einzugsbereich der Regionalzeitung handelt.

Medizinjournalistische Kriterien: 7 von 15 erfüllt

Abwertung um einen Stern (von 3 auf 2 Sterne) wegen fehlender Einordnung und zu positivem Bild der Studienergebnisse.

 

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Kriterium erfüllt

Kriterium nicht erfüllt

Kriterium nicht anwendbar