Bewertet am 28. Juli 2020
Veröffentlicht von: tagesschau.de

Mit großem Interesse werden derzeit Berichte über Fortschritte in der Impfstoffentwicklung gegen das neue Coronavirus gelesen. Umso wichtiger ist es, neue Studienergebnisse zum Thema genau zu beschreiben und vor allem mit Hilfe unabhängiger Experten einzuordnen, was diese Resultate wirklich bedeuten – ohne zu große Versprechungen zu machen. Dies ist dem aktuellen Beitrag auf tagesschau.de weitgehend gelungen; nur an manchen Stellen hätte man sich mehr Erläuterungen und Klarheit gewünscht.

Zusammenfassung

In den vergangenen Wochen haben Medien über verschiedene potentielle Impfstoffentwicklungen berichtet, darunter gilt der mögliche Impfstoff der Universität Oxford als einer der aussichtsreicheren Kandidaten – sofern sich das momentan überhaupt schon beurteilen lässt. Umso wichtiger ist es daher, über neue Studienergebnisse zu diesem bereits öffentlich bekannten Impfstoff zu berichten – und zwar in einer Art und Weise, die weder zu große Hoffnung weckt, noch in seiner Darstellungsweise die Erkrankung Covid-19 allzu sehr dramatisiert. Dies ist im aktuell vorliegenden journalistischen Beitrag auf tagesschau.de gelungen. Darüber hinaus geht der Text ausführlich auf positive und negative Effekte ein, auch wenn er hier zum Teil widersprüchliche Aussagen liefert. Der Aufbau der zugrundeliegenden Studie wird knapp erklärt, externe Experten werden zitiert, mögliche Interessenkonflikte aber nicht ausreichend thematisiert. Der Beitrag enthält interessante Informationen, vermittelt diese jedoch nicht ausreichend attraktiv und verständlich für ein Laienpublikum. Was weitgehend fehlt, ist eine Einordnung der aktuellen Impfstoffstudie in den Gesamtkontext der Vakzinentwicklung. Da der Beitrag jedoch in ein größeres Rechercheprojekt mit ständig aktualisierten Informationen zur Impfstoffentwicklung eingebettet ist (siehe auch: diesen Beitrag ) genügt es in diesem besonderen Fall, im Text nur auf die neuen Impfstoffstudien einzugehen.

Hinweis: Der Beitrag ist online leider nicht mehr verfügbar. 

Title

Die Kriterien

1. Die POSITIVEN EFFEKTE sind ausreichend und verständlich dargestellt (NUTZEN).

Positive Effekte werden in recht allgemeiner Form thematisiert. Es wird zunächst eine „starke Immunantwort” auf die Impfung beschrieben, auch wird erwähnt, dass bei den geimpften Personen „beide Teile des Immunsystem angesprochen“ werden, sie demnach nicht nur Antikörper gegen das neue Coronavirus bilden. Die Probanden zeigen außerdem eine „Reaktion der T-Zellen, die möglicherweise zu einem längeren Schutz führen könnte“. Im Anschluss wird jedoch der gleiche Experte mit der Aussage zitiert, dass das Ergebnis bei den Antikörpern „nicht berauschend“ sei. Da viele Leserinnen und Leser nicht wissen dürften, was T-Zellen sind, werden sie die beiden Aussagen als Widerspruch empfinden, der im Text nicht aufgelöst wird (siehe auch Kriterium 14). Zu den Antikörpern heißt es immerhin noch: „Ihre Zahl liege nicht deutlich höher als bei asymptomatisch Infizierten, also Menschen, die sich angesteckt haben, aber keine Symptome verspüren. Bei ihnen ist die Reaktion des Immunsystems deutlich schwächer ausgeprägt, als bei Patienten, die schwer erkranken. Damit sind sie womöglich nur schlecht vor einer erneuten Ansteckung geschützt.“ Ein anderer Experte dagegen sieht „die Ergebnisse insgesamt positiv“. Er hat Hoffnung, „dass mit einem Impfstoff schwere Verläufe von Covid-19 verhindert werden können“. Es heißt zudem, „dass Antikörper möglicherweise recht rasch wieder verschwinden können“, T-Zellen dagegen „möglicherweise einen länger anhaltenden Schutz gewähren” könnten. Unklarheiten werden thematisiert, „etwa welche Altersgruppen einen Nutzen hätten, wie viele Impfungen nötig seien und wie lange ein möglicher Schutz anhalte.” Allerdings wird dieser womögliche Nutzen des Impfstoffs an keiner Stelle quantifiziert. Daher werten wir insgesamt knapp „NICHT ERFÜLLT“.

2. Die RISIKEN & NEBENWIRKUNGEN werden angemessen berücksichtigt.

Es heißt zunächst, dass der „Impfstoff sicher sei, kaum Nebenwirkungen verursache”. Später aber heißt es dann: „60 Prozent der Patienten hatten zwar Nebenwirkungen wie Fieber, Kopf- und Muskelschmerzen sowie Reaktionen an der Injektionsstelle, aber sie allen wurden als leicht oder mäßig eingestuft.” Zudem wird noch erwähnt, dass sich „bei einigen Patienten wohl eine deutliche Schmerzreaktion gezeigt habe, so dass die Autoren der Studie empfehlen würden, zusätzlich zur Impfung Paracetamol zu geben”. Ein anderer Experte sagt, dass die Studie für ihn „auf ein akzeptables Sicherheitsprofil des Impfstoffs hinweist“. Wegen der Widersprüchlichkeit werten wir nur knapp „ERFÜLLT“.

3. Es wird klar, ob eine Therapie/ein Produkt/ein Test VERFÜGBAR ist.

Der Beitrag macht deutlich, dass es sich um klinische Tests eines möglichen Impfstoffs handelt, der bislang nicht verfügbar ist. Dies wird auch durch Expertenzitate unterstrichen, zum Beispiel: „…da es sich noch um eine Studie in einer frühen Phase gehandelt habe, wisse man jetzt noch nicht, ob der Impfstoff wirklich vor einer Erkrankung oder einer Ansteckung schütze“. Und auch an dieser Stelle wird das frühe Stadium der Impfstoffentwicklung klar: „Es bleibt noch viel zu tun, bis wir bestätigen können, ob unser Impfstoff bei der Bekämpfung der Covid-19-Pandemie helfen wird“. Zur künftigen Forschung am Impfstoff wird noch erwähnt: „Er wird nun bereits in mehrere großen, abschließenden Phase-3-Studien erprobt – mit Tausenden Teilnehmern in Großbritannien, Südafrika und Brasilien. Die Forscher hoffen hier auf Ergebnisse im Herbst.” Daher werten wir insgesamt „ERFÜLLT“.

4. Es werden ALTERNATIVE Behandlungsarten/Produkte/Tests vorgestellt.

Zeitgleich zur im journalistischen Beitrag beschriebenen britischen Studie wurde im Fachblatt „The Lancet“ auch eine chinesische Studie zu einem weiteren Impfstoffkandidaten publiziert. Dieser potentielle Impfstoff wird im Artikel ebenfalls erwähnt: „Auch die chinesischen Forscher zeigen sich vorsichtig optimistisch. Sie arbeiten an einem ähnlichen Impfstoff-Kandidaten wie die Wissenschaftler in Oxford und haben in ihrer Studie mehr als 500 Probanden in Wuhan untersucht.” Insgesamt wäre es aber wünschenswert gewesen, noch mehr über weitere Impfstoffentwicklungen zu erfahren. Dazu sind bereits grundlegende Informationen in der aktuellen Lancet-Publikation der Universität Oxford zu finden: „There are currently more than 137 candidates undergoing preclinical development and 23 in early clinical development, according to WHO.” („Derzeit befinden sich laut der Weltgesundheitsorganisation WHO mehr als 137 Kandidaten in vorklinischer Entwicklung und 23 in der frühen klinischen Entwicklung.“) Dem Robert-Koch-Institut zufolge sind es sogar rund 150 Kandidaten. Allerdings ist der journalistische Beitrag Teil eines auf der Website des NDR prominent vorgestellten Rechercheprojekts zur Impfstoffentwicklung („Die Jagd nach dem Impfstoff“, siehe auch Zusammenfassung), in dem laufend neue Studien zu Impfstoffkandidaten und Übersichtsgrafiken zum aktuellen Stand der Studien zu finden sind. Daher werten wir insgesamt knapp „ERFÜLLT“.

5. Die KOSTEN werden im journalistischen Beitrag in angemessener Weise berücksichtigt.

In diesem Entwicklungsstadium dürften zwar noch keine konkreten Informationen zu den Kosten einer Impfung vorliegen. Dennoch wäre es wichtig gewesen, die Problematik der Impfstoffkosten und künftigen gerechten weltweiten Verteilung anzusprechen. Daher werten wir insgesamt „NICHT ERFÜLLT“.

6. Es sind keine Anzeichen von Krankheitserfindungen/-übertreibungen zu finden (DISEASE MONGERING).

Die Covid19-Pandemie und die Notwendigkeit der Impfstoffentwicklung sind nicht übertrieben dargestellt.

7. Der journalistische Beitrag ordnet die QUALITÄT der Belege/der Evidenz ein.

Es gibt einige Angaben zur Studie, zur Zahl der Probanden etwa und auch, dass es sich um eine „frühe klinische Phase“ handelt. Darüber hinaus wird erklärt, dass 1000 freiwillige Probanden an der Studie teilnahmen, eine Hälfte von ihnen den neu entwickelten Impfstoff erhielt, die zweite dagegen zum Vergleich einen anderen Impfstoff gegen bestimmte Bakterien. Das ist lobenswert. Allerdings fehlen auch wichtige Informationen, um die Qualität der Belege einzuordnen. Es wird zum Beispiel nicht erwähnt, dass es sich nur um eine einfach verblindete Studie handelt, d.h. die Probanden zwar nicht wussten, ob sie den Impfstoffkandidaten oder die Kontrolle erhielten, die Ärzte jedoch sehr wohl darüber Kenntnis hatten. Ein Umstand, der die Studienergebnisse im schlimmsten Fall verfälschen kann, weil die Mediziner womöglich mit einer bestimmten Erwartung an die Wirkung des Impfstoffkandidaten herangehen. Auch wurden die immunologischen Tests nicht an allen 1000 Teilnehmern durchgeführt. Vielmehr wurden sie in vielen kleinen Subgruppen angewendet, die T-Zell-Antwort zum Beispiel wurde nur an 43 Probanden überprüft. Zudem fand sich eine stärkere Bildung neutralisierender Antikörper vor allem in jener Gruppe von Probanden, die eine zweite Impfdosis erhielt. Das waren jedoch nur zehn Probanden. Daher werten wir insgesamt knapp „NICHT ERFÜLLT“.

8. Es werden UNABHÄNGIGE EXPERTEN oder QUELLEN genannt.

Neben einer Autorin der Lancet-Studie kommen im journalistischen Beitrag drei weitere Experten zu Wort, die die Studienergebnisse einordnen. Wünschenswert wäre hier noch gewesen, den Expertenstatus von Klaus Überla etwas genauer darzustellen. Zu ihm heißt es nur, dass er „von der Universitätsklinik Erlangen“ sei. Tatsächlich ist Überla in Erlangen aber Direktor des Virologischen Instituts und dort an der Entwicklung einer Passivimpfung gegen Covid-19 beteiligt. (uk-erlangen.de/presse) Insgesamt werten wir dennoch „ERFÜLLT“.

9. Es werden, falls vorhanden, INTERESSENKONFLIKTE im Beitrag thematisiert.

Der Beitrag erwähnt zwar die Zusammenarbeit der Oxforder Arbeitsgruppe mit dem Pharmakonzern AstraZeneca. Aber die verschiedenen Interessenkonflikte der einzelnen Forscher, die im Lancet-Paper detailliert aufgelistet sind, werden nicht angesprochen. So sind mehrere Autoren als Mitgründer oder Berater an der Firma Vaccitech beteiligt, die an der Impfstoffentwicklung mitgewirkt hat, und halten Patente für die genutzte Vektor-Technologie. Da diese Informationen für die Leserinnen und Leser bedeutsam sind, werten wir insgesamt „NICHT ERFÜLLT“.

10. Der Beitrag liefert Informationen zur EINORDNUNG der Thematik in einen Kontext (Neuheit, Ethik).

Bis auf die genannte chinesische Studie (bei Alternativen besprochen), findet sich kein Hinweis auf die äußerst intensiven und vielfältigen alternativen Bemühungen einen Covid-19-Impfstoffkandidaten zu entwickeln. Nur bei einem der Forscher wird dies erwähnt. Hier hätte man sich eine vergleichende Einschätzung gewünscht und auch eine Aussage darüber, wann mit der Einführung der ersten Impfstoffe gerechnet wird.
Zudem fehlt eine Einordnung der Studie in die Vielzahl von Ansätzen zur Impfstoffentwicklung, die derzeit in Fachjournalen und Medien in großer Eile präsentiert werden. Laut Robert-Koch-Institut sind es derzeit rund 150 mögliche Impfstoff-Kandidaten (siehe auch: https://vac-lshtm.shinyapps.io/ncov_vaccine_landscape/). Da jedoch der Beitrag im Rahmen eines größeren Projekts vorgestellt wird, das genau diese Einordnung laufend vornimmt, werten wir dennoch insgesamt knapp „ERFÜLLT“.

11. Der Beitrag gibt die wesentlichen Daten und Fakten korrekt wieder (FAKTENTREUE).

Für etwas problematisch halten wir, dass im Beitrag nur die Gesamtzahl von „mehr als 1000 freiwilligen Probanden“ genannt wird, ohne zu erklären, dass die berichteten Ergebnisse zu den Immunantworten sich nicht auf die ganze Teilnehmerzahl beziehen (siehe auch Kriterium 7). Zudem werden die Probanden an einigen Stellen im Text als „Patienten“ beschrieben, was nicht richtig ist. Es handelte sich ja um gesunde Probanden. Daher werten wir nur knapp „ERFÜLLT“.

12. Der Beitrag geht über eine Pressemitteilung/das Pressematerial hinaus (JOURNALISTISCHE EIGENLEISTUNG).

Der Beitrag zitiert mehrere nicht an der Studie beteiligte Experten und geht damit klar über das Pressematerial der Universität Oxford hinaus.

13. Ein Beitrag vermittelt ein Thema interessant und attraktiv (ATTRAKTIVITÄT DER DARSTELLUNG).

Ein eher unauffälliger Text, der nacheinander unterschiedliche Experten zitiert. Dabei wäre es hilfreich gewesen, wenn die Punkte, zu denen sie sich äußern, deutlicher herausgearbeitet worden wären. Die Expertenzitate sind aneinandergereiht, anstatt die Aussagen nach Themen zu gliedern. Zudem weckt der Einstieg („Britische und chinesische Forscher haben (…).“) die Erwartung, dass hier zwei Studien vergleichend vorgestellt werden. Tatsächlich aber wird dann nur die Oxford-Studie beschrieben und von Experten kommentiert. Die zweite Studie dagegen wurde ohne Zusammenhang zur ersten ans Ende des Textes gesetzt. Hier wäre ein stärkerer Bezug wünschenswert gewesen. Daher werten wir insgesamt „NICHT ERFÜLLT“.

14. Der Beitrag ist für ein Laienpublikum verständlich (VERSTÄNDLICHKEIT).

Der Beitrag macht an mehreren Stellen Aussagen, die verwirrend wirken. So werden die Nebenwirkungen zunächst als kaum vorhanden beschrieben, dann aber als „leicht bis mäßig“ bezeichnet. Zudem traten sie offensichtlich bei 60 Prozent der Probanden auf. Später ist von einem akzeptablen Sicherheitsprofil die Rede, ohne zu erläutern, was das bedeutet. Zur Immunreaktion heißt es zunächst, sie sei „stark“, dann aber hinsichtlich der Antikörper „nicht berauschend“. Hier hätte deutlich gemacht werden müssen, was mit einer starken Immunantwort gemeint ist und welche Rolle die T-Zellen dabei spielen. Zum besseren Verständnis wäre eine Infografik hilfreich gewesen. Zudem dürfte die Beschreibung der „beiden Teile des Immunsystems“ für Laien nicht ausreichend verständlich sein. Daher werten wir „NICHT ERFÜLLT“.

15. Das THEMA ist aktuell, relevant oder ungewöhnlich. (THEMENAUSWAHL).

Das Thema ist relevant, mit der Veröffentlichung der aktuellen Studie(n) in einem renommierten Fachjournal besteht auch ein wissenschaftlich aktueller Anlass.

Medizinjournalistische Kriterien: 9 von 15 erfüllt

Title

Kriterium erfüllt

Kriterium nicht erfüllt

Kriterium nicht anwendbar