Nach Wochen der Ausgangssperre dürften viele Menschen in Deutschland eine Rückkehr zur Normalität herbeisehnen. Kein Wunder also, dass die positiven Ergebnisse einer Studie zur Immunität gegen das neue Coronavirus aus dem Kreis Heinsberg mit Euphorie aufgegriffen wurden. Einem Artikel auf Zeit Online gelingt es dabei zeitnah und auf vorbildliche Weise, die möglichen Schwächen dieser Studie und ihre Hintergründe aufzuzeigen.
Zusammenfassung
Große Verwirrung folgte auf eine Pressekonferenz am 9. April zu den vorläufigen Ergebnissen einer Studie an Einwohnern aus dem Kreis Heinsberg. Zunächst hieß es in dem von den Forschern vorgelegten Dokument, dass sich 15 Prozent der Bevölkerung aus der Region nicht mehr mit Sars-CoV-2 anstecken können, was die Debatte um mögliche Lockerungen der Corona-Maßnahmen befeuerte (siehe auch: www.land.nrw/sites). Im aktuellen journalistischen Beitrag wird jedoch verständlich erklärt, warum es zumindest berechtigte Zweifel an der Aussagekraft des in der Studie verwendeten Corona-Tests gibt. Zudem thematisiert der Artikel das Risiko der Fehlinterpretation und auch, dass die Daten veröffentlicht wurden, bevor sie den Prozess der wissenschaftlichen Publikation und Diskussion durchlaufen haben. Auch der Forscher selbst wird auf die Kritikpunkte angesprochen. Schließlich wird sogar noch der ungewöhnliche Umstand erwähnt, dass der Forscher bereits bei der Durchführung seiner Studie von einer PR-Agentur begleitet wurde. Insgesamt stellt der journalistische Beitrag ausführlich und präzise die wichtigsten Kritikpunkte zur Studie dar.
Medizinjournalistische Kriterien
1. Der NUTZEN ist ausreichend und verständlich dargestellt.
Wie viel Prozent der Bevölkerung bereits Antikörper gegen Sars-CoV-2 im Blut hat, sollte die aktuelle Studie im Kreis Heinsberg herausfinden. Das wird im journalistischen Beitrag deutlich – und auch, dass die Studienergebnisse dabei helfen könnten, über eine Lockerung der Corona-Maßnahmen zu entscheiden. Gleichzeitig wird klar, dass der in der Studie verwendete Antikörpertest womöglich nicht nur vergangene Infektionen mit Sars-CoV-2 detektiert, sondern auch solche mit anderen Coronaviren. Wissenschaftler sprechen von einer Kreuzreaktivität. Im Artikel ist auch zu lesen, dass die Forscher beim Antikörpertest von einer Spezifität von mehr als 99 Prozent ausgehen. Das würde bedeuten, dass der Test zuverlässig fast alle Menschen erkennt, die noch keine Antikörper gebildet haben. Hier allerdings wäre es für die Leser und Leserinnen noch wichtig gewesen zu erfahren, dass neben der Spezifität auch die Sensitivität eines Testverfahrens eine wichtige Rolle spielt – also wie gut die Menschen erkannt werden, die bereits Antikörper gegen das Virus gebildet haben. Wie hoch dieser Wert ist, wird weder von den Forschern noch im journalistischen Beitrag erwähnt.
2. RISIKEN und Nebenwirkungen werden angemessen berücksichtigt.
Generell bergen falsch positive oder falsch negative Diagnose-Test für die getesteten Einzelpersonen immer das Risiko unnötiger Ängste oder trügerischer Sicherheit. Diese individuellen Risiken stehen aber nicht im Mittelpunkt der Studie und müssen daher hier auch nicht unbedingt thematisiert werden. Da die Ergebnisse jedoch in die Grundlagen für politische Entscheidungen einfließen könnten, sollte man zum Beispiel bedenken, dass es auf Grund von fehlerhaften Test-Daten zu einer verfrühten (oder auch späteren) Lockerung der Corona-Maßnahmen kommen könnte. Zwar spricht der Artikel diesen Punkt nur indirekt an. Es wird aber zumindest deutlich, dass es sich bei den Studien- bzw. Testergebnissen um Zahlen handelt, die nicht auf ganz Deutschland übertragbar sind. Insgesamt werten wir daher knapp „ERFÜLLT“.
3. Die Qualität der Evidenz (STUDIEN etc.) wird richtig eingeordnet.
Im Artikel wird klar, dass die Forscher bislang nur Zwischenergebnisse ihrer Studie vorgestellt haben. Auch wird erklärt, dass das wissenschaftliche Manuskript der Forscher bislang noch nicht von einer Fachzeitschrift geprüft und veröffentlicht wurde. Der federführende Virologe räumt im Beitrag sogar selbst ein, dass die Studie „mit der heißen Nadel gestrickt ist“ und er hier noch nachbessern wird. Gleichzeitig wird klargemacht, dass die Studienergebnisse bereits zu diesem frühen Zeitpunkt vorgestellt wurden, um sie angesichts der dringlichen politischen Entscheidungen öffentlich zu diskutieren – was ungewöhnlich, aber in der gegenwärtigen Situation nachvollziehbar ist.
4. Es werden weitere EXPERTEN/Quellen zitiert und es wird auf INTERESSENSKONFLIKTE hingewiesen.
Es werden verschiedene weitere Wissenschaftler zitiert, etwa Gérard Krause (über das Science Media Center), außerdem der Berliner Virologe Christian Drosten. Thematisiert wird auch die Verbindung des Virologen Hendrik Streeck zu einem Gründer der Social-Media-Agentur Storymachine. Im Artikel wird erwähnt, dass die Agentur nach Angaben der Forscher weder von ihnen noch von der Universität bezahlt wurde, das Vorgehen aber sehr ungewöhnlich ist. Ebenso wird dargestellt, dass der zitierte Experte Drosten selbst an einem Test forscht: „Im Rahmen der Entwicklung eines eigenen Antikörpertests hat eine internationale Forschergruppe um Christian Drosten auch Prototypen des Antikörpertests der Firma Euroimmun überprüft“.
5. Der Beitrag geht über die PRESSEMITTEILUNG hinaus.
Der Artikel nimmt die Informationen aus dem zweiseitigen Dokument zur Pressekonferenz auf – geht aber in seinen Recherchen weit darüber hinaus. Der Beitrag ordnet die Studie Streecks ein und stellt auch die situativen Hintergründe dar: „Der Grund, dass man die Ergebnisse unbedingt noch vor Ostern präsentieren wollte, sei gewesen, dass nach Ostern ja entschieden werden solle, wie es mit den strengen Maßnahmen weitergeht, sagte Streeck am Telefon.“
6. Der Beitrag macht klar, wie NEU der Ansatz/das Mittel wirklich ist.
Aus verschiedenen Aussagen lässt sich das sehr frühe Stadium des Tests erschließen, etwa wenn es heißt: „Bereits am 9. April präsentierte Streeck nun also die ersten Zwischenergebnisse.“ Es wird also deutlich, dass die Studie noch gar nicht abgeschlossen ist. Auch an anderen Stellen des Artikels wird die Neuheit des Ansatzes erläutert: „…ein wissenschaftliches Manuskript, in dem das Vorgehen der Forscher und ihre Interpretation der Ergebnisse genau beschrieben wird, ist bislang nicht veröffentlicht“. Den Leserinnen und Lesern wird zumindest indirekt mehrfach erklärt, dass es sich hier um einen gerade erst entwickelten Test geht, den es in seiner Aussagekraft noch zu prüfen gilt.
7. Es werden ALTERNATIVE Behandlungsarten/Produkte/Tests vorgestellt.
Alternativen zu dem in der Studie eingesetzten Antikörpertest werden nicht vorgestellt. Was allerdings daran liegen dürfte, dass derzeit keine anderen Tests zur Verfügung stehen – zumindest keine, die in einer Studie angewandt werden könnten. Zwar bieten verschiedene Hersteller andere Tests an; das Verfahren, mit dem die Antikörper nachgewiesen werden, ist jedoch im Prinzip das gleiche. Stets kommt der so genannte ELISA (für „enzyme-linked immunosorbent assays“) zum Einsatz (siehe auch: flexikon.doccheck.com/de/ELISA). Von Antikörper-Schnelltests, die mittlerweile auch im Internet zu finden sind, raten Experten ab. Denn zu diesen Produkten liegen noch keine validen wissenschaftlichen Studien vor (siehe auch: sueddeutsche.de/wirtschaft). Ein positives Testergebnis könnte Menschen also in falscher Sicherheit wiegen.
Im aktuellen Artikel wird allerdings die Möglichkeit erwähnt, die Ergebnisse des neuen Antikörpertests mit Bestätigungsuntersuchungen zu überprüfen: „Um einschätzen zu können, wie oft es bei dem von Streeck und seinem Team verwendeten Test zu solchen Verwechslungen gekommen sei, brauche man Bestätigungsuntersuchungen im Labor.“ Dafür bringen Forscher das Coronavirus mit dem Serum des Patienten unter Laborbedingungen in einer Zellkultur zusammen. Wenn im Serum des Patienten tatsächlich Antikörper gegen den Erreger vorliegen, müssten sie das Virus abfangen (die Forscher sprechen von „neutralisieren“) und damit daran hindern, die Zellen zu befallen. Ob dies tatsächlich der Fall ist, wird in der Zellkultur überprüft.
8. Es wird klar, ob oder wann ein(e) Therapie/Produkt/Test VERFÜGBAR ist.
Es wird zumindest indirekt kurz angedeutet, dass verlässliche Tests nicht – und somit schon gar nicht für jedermann – verfügbar sind: „Es ist höchst fraglich, ob es derzeit schon kommerzielle Tests gibt, die eine Infektion mit dem neuen Coronavirus trennscharf von einer Infektion mit anderen saisonalen Coronaviren unterscheiden können.“ Daher werten wir knapp „ERFÜLLT“.
9. Der Beitrag geht (angemessen) auf die KOSTEN ein.
Wie viel der Test kostet, geht aus dem Artikel nicht hervor. Auch welche Kosten für die gesamte Studie angefallen sind und wer sie übernommen hat, erfährt man nicht. Da in Zukunft vermutlich sehr viele Menschen auf Antikörper untersucht werden müssen, wäre dieser Aspekt jedoch interessant gewesen. Daher werten wir „NICHT ERFÜLLT“.
10. Der Beitrag vermeidet Krankheitsübertreibungen/-erfindungen (DISEASE MONGERING).
Im Artikel geht es um die Frage, wie viele Menschen sich bereits mit Sars-CoV-2 infiziert und Antikörper gebildet haben. Die Infektion und manchmal daraus resultierende Erkrankung Covid-19 wird im Beitrag nicht übertrieben dargestellt.
Allgemeinjournalistische Kriterien
1. Das THEMA ist aktuell, relevant oder ungewöhnlich.
Wie viele Menschen womöglich bereits eine Infektion mit Sars-CoV-2 überstanden haben, ist angesichts der Debatte um eine Lockerung der Corona-Maßnahmen hoch relevant. Die aktuellen Zwischenergebnisse der Heinsberg-Studie zeitnah kompetent zu erläutern und kritisch einzuordnen, ist daher sehr wichtig, um die Leserinnen und Leser aktuell zu informieren.
2. Die journalistische Darstellung des Themas ist gelungen (VERSTÄNDLICHKEIT/VERMITTLUNG).
Schon zu Beginn des Artikels wird klar, dass es sich bei diesem Artikel um eine kritische Auseinandersetzung mit dem Inhalt und der Art der Präsentation der Heinsberg-Studie handelt. Jeder Kritikpunkt wird anschließend ausführlich beleuchtet und begründet. Die Zitate aus der Pressekonferenz und vom Experten helfen dabei, am inhaltlich nicht ganz einfachen Thema dran zu bleiben.
Schwierige Begriffe wie „seropositiv“ oder „Kreuzreaktivität“ werden – meisten – gut erklärt. Auch komplexe Zusammenhänge werden verständlich dargestellt: „Das sei aber offenbar nur zu einem sehr geringen Teil der Fall, der Hersteller gebe die Spezifität mit mehr als 99 Prozent an. Das würde heißen, in weniger als einem Prozent der Fälle zeigt der genutzte Test ein falsch positives Ergebnis an.“ An manchen Stellen allerdings wird im Artikel das Geschehen auch direkt kommentiert: „Wer anschließend verfolgte, wie nach und nach Schlagzeilen entstanden, die pauschal von Lockerungen sprachen, konnte sich nur wundern.“ Hier hätte in einem Bericht etwas mehr Distanz gewahrt werden können.
3. Die Fakten sind richtig dargestellt.
Wir haben keine Faktenfehler gefunden.