Bewertet am 13. März 2020
Veröffentlicht von: FAZ.net

Für die meisten Menschen dürfte es eine schreckliche Vorstellung sein, im Alter das Augenlicht zu verlieren. Als häufigste Ursache dafür gilt die altersbedingte Makuladegeneration, zumindest in westlichen Industriestaaten. Umso wichtiger ist es, hier nach möglichen Angriffspunkten für eine Therapie zu suchen. Ein Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung berichtet aktuell in differenzierter Art und Weise über eine äußerst komplexe Studie, die einen solchen Ansatz womöglich gefunden hat.

Zusammenfassung

Langfristig könnte die Entdeckung zu einer lang ersehnten Therapieoption gegen die altersbedingte Makuladegeneration werden: Forscher um den Tübinger Wissenschaftler Simon Clark fanden heraus, dass das Protein FHR4 im Blut von Patienten mit dieser schweren Netzhauterkrankung in deutlich erhöhter Konzentration nachweisbar ist. Gleichzeitig sind Menschen mit viel FHR4 im Blut auffallend oft Träger bestimmter genetischer Varianten, die mit einem hohen Risiko für eine Makuladegeneration einhergehen. Beides zusammen werten die Wissenschaftler als Hinweise darauf, dass FHR4 bei der Entstehung der Makuladegeneration eine wichtige Rolle spielt. Der journalistische Beitrag beschreibt die komplexen Untersuchungen weitgehend anschaulich und zitiert einen unabhängigen Experten, der die Studienergebnisse kritisch einordnet. An manchen Stellen wäre es allerdings hilfreich gewesen, mehr laienverständliche Formulierungen zu verwenden.

Title

Medizinjournalistische Kriterien

1. Der NUTZEN ist ausreichend und verständlich dargestellt.

Der Artikel beschreibt, dass Wissenschaftler um Simon Clark von der Universität Tübingen womöglich einen (Zitat) „Rädelsführer“ der Makuladegeneration identifiziert haben: das Protein FHR4. Der Text beschreibt zunächst die Vorgeschichte der Entdeckung, dass nämlich der Zusammenhang zufällig beobachtet wurde. Die Forscher hatten das Protein in 50 Geweben gesucht und unter anderem im Auge gefunden, allerdings nur bei manchen Menschen mit altersbedingter Makuladegeneration, wie der journalistische Beitrag deutlich macht. Bereits bekannt war, dass FHR4 in der Leber produziert wird. Wie aber gelangt das Protein von der Leber zum Auge? Die Forscher hatten vermutet, dass es über die Blutbahn transportiert wird. Dies bestätigte sich in ihrer Studie, die aktuell in der Fachzeitschrift Nature Communications erschienen ist. Der journalistische Beitrag erklärt diesen Zusammenhang: Im „Vergleich der Blutwerte von rund 500 Patienten mit altersbedingter Makuladegeneration und etwa gleich vielen Personen ohne das Augenleiden“ war die Konzentration des Proteins im Blut der Erkrankten deutlich erhöht. Im Artikel wird also deutlich, dass dieses Protein bei der Entstehung der Makuladegeneration eine Rolle spielen könnte. Gleichzeitig wird im Text klar, dass es „noch keine Therapiestudien, die hierauf aufbauen“ gibt. Der Nutzen – ein womöglich wichtiger Erkenntnisgewinn für künftige Therapien – wird also verständlich und ausführlich dargelegt. Etwas verwirrend ist allerdings, dass erst am Ende des Artikels erläutert wird, dass die erhöhte Konzentration von FHR4 nur bei 30 der untersuchten Augenpatienten erhöht war, es also viele verschiedene Entstehungsmechanismen und damit Angriffspunkte für Therapien geben dürfte. Dennoch werten wir insgesamt „ERFÜLLT“.

2. RISIKEN und Nebenwirkungen werden angemessen berücksichtigt.

In diesem Beitrag geht es um ein neu entdecktes Protein, das bei der Entstehung mancher Formen altersbedingter Makuladegeneration womöglich eine Rolle spielt und damit einen Angriffspunkt für eine künftige Therapie gelten könnte. Da noch nicht einmal Ansätze dieser Behandlung entwickelt worden sind, halten wir es für richtig und noch angemessen, Risiken und Nebenwirkungen des möglichen neuen Ansatzes nicht zu erwähnen. Allerdings hätte man auf die bisher beobachteten Risiken von Antikörper-Therapien gegen andere Proteine eingehen können, die ebenfalls zum so genannten Komplementsystem gehören, einem wichtigen Teil des menschlichen Immunsystems (siehe auch zum Beispiel: klinikum.uni-heidelberg.de/immunologie). Daher werten wir nur knapp „ERFÜLLT“.

3. Die Qualität der Evidenz (STUDIEN etc.) wird richtig eingeordnet.

Dass bei manchen Patienten mit Makuladegeneration erhöhte FHR4-Werte im Blut gefunden werden, ist zunächst eine Korrelation und nicht etwa ein Beweis dafür, dass das Protein die Erkrankung auslöst. Das Forscherteam untersuchte deshalb auf genetischer Ebene, ob die gesteigerten FHR4-Mengen eine Ursache oder eine Folgeerscheinung der Makuladegeneration sind. Der Text berichtet lediglich über das Ergebnis dieser Untersuchung: „Personen mit reichlich FHR4 im Blut waren auffallend oft Träger von genetischen Varianten, die mit einem hohen Risiko für eine altersbedingte Makuladegeneration einhergehen.“ Es hätte deutlicher gemacht werden können, dass erst beide Ergebnisse zusammen „überzeugende Beweise“ liefern, „dass FHR4 ein kritischer Regulator von Komplement im Auge ist“, wie es auch in der Pressemitteilung der Universität Tübingen heißt.
Ferner wird nur recht unspezifisch beschrieben, dass das Blut der augenkranken Männer und Frauen „viel mehr“ FHR-4 enthielt „als jenes der gesunden Vergleichspersonen“ und dass „Personen mit sehr hohen FHR4-Konzentrationen im Blut alle eine Makuladegeneration hatten“. Zwar wird erwähnt, dass 500 Patienten mit altersbedingter Makuladegeneration und etwa ebenso viele gesunde Probanden untersucht wurden. Der genaue Aufbau der Studie bleibt jedoch unklar. Zudem wird erst am Ende des Artikels erwähnt, dass nur ein kleiner Teil der augenkranken Probanden eine erhöhte FHR4-Konzentration im Blut hatten: „So wiesen nur etwa 30 der augenkranken Personen erhöhte Mengen an FHR4 im Blut auf. Bei den Übrigen dürfte der Untergang der Netzhautzellen somit andere Ursachen haben.“ Daher werten wir knapp „NICHT ERFÜLLT“.

4. Es werden weitere EXPERTEN/Quellen zitiert und es wird auf INTERESSENSKONFLIKTE hingewiesen.

Der Text zitiert den Ophthalmologen Frank Holz von der Universitäts-Augenklinik in Bonn zu der wichtigen Frage, welche Therapieoptionen die Entdeckung möglicherweise eröffnet. Holz war nicht an der Studie beteiligt. Mögliche Interessenkonflikte werden nicht thematisiert, wir haben aber auch keine gefunden.

5. Der Beitrag geht über die PRESSEMITTEILUNG hinaus.

Der Artikel geht deutlich über die Pressemitteilung hinaus. Die Leser erfahren durch den Augenarzt Frank Holz, wie der Stand bei der Therapieentwicklung ist. Zudem wird der mögliche Mechanismus der Krankheitsentstehung geschildert: Weshalb reichert sich das Immunprotein FHR4 im Auge an und treibt hier sein Unwesen? Am wahrscheinlichsten findet der britische Biochemiker folgendes Szenario: „Im fortgeschrittenen Alter, wenn die kleinen Blutgefäße zunehmend undicht werden, strömt vermehrt FHR4 aus dem Blut in den Augenhintergrund und facht hier entzündliche Reaktionen an. Je größer dabei sein Gehalt im Blut, desto eher fügt es der Netzhaut möglicherweise Schaden zu.“ Es wird also unter anderem deutlich, dass mit dem Hauptautor der Studie direkt gesprochen wurde. Lobenswert ist zudem, dass die in der Pressemitteilung der Universitätsklinik Tübingen gewählte und möglichst zu vermeidende Formulierung des „Durchbruchs“ im journalistischen Beitrag nicht übernommen wird (siehe auch: medizin.uni-tuebingen.de).

6. Der Beitrag macht klar, wie NEU der Ansatz/das Mittel wirklich ist.

Im journalistischen Beitrag wird dargelegt, dass die besprochene Studie vermutlich eine wichtige, neue Erkenntnis über die Entstehung der altersbedingten Makuladegeneration gewonnen hat. Es wird jedoch auch erwähnt, dass das sogenannte Komplementsystem als Teil des Immunsystems schon länger im Zentrum der Forschung steht: „Unklar war bislang allerdings, welches der zahlreichen Mitglieder dieser Familie von Immunproteinen der Netzhaut so zusetzt, dass es zu einer Erblindung kommen kann.“

7. Es werden ALTERNATIVE Behandlungsarten/Produkte/Tests vorgestellt.

Es wird deutlich, dass für die sogenannte trockene Makuladegeneration noch keine Therapieoption zur Verfügung steht – anders als für die sich daraus entwickelnde Spätform, die feuchte Makuladegeneration: „Sollte er (Anm: der neue Ansatz mit FHR4) sich bewähren, könnte man vielen Patienten mit der ,trockenen‘ Spätform der altersbedingten Makuladegeneration erstmals eine wirksame Therapie anbieten. Bislang gelingt das nur bei Personen mit der ,feuchten‘ Spätform“, wird der Ophtalmologe Holz zitiert. Ob Alternativen zum möglichen Auslöser FHR-4 in der Forschung untersucht werden, kommt kurz im Zitat des unabhängigen Experten zur Sprache. Daher werten wir insgesamt „ERFÜLLT“.

8. Es wird klar, ob oder wann ein(e) Therapie/Produkt/Test VERFÜGBAR ist.

Es wird klar, dass anders für die trockene Makuladegeneration, die in 80 bis 90 Prozent der Fälle vorliegt, noch keine Therapie zur Verfügung steht. Auch macht der Beitrag keine voreiligen Versprechungen, was eine mögliche neue Behandlung angeht. Dabei hätte noch deutlicher gemacht werden können, dass bis zur Entwicklung einer auf diesen Studienergebnissen aufbauenden Behandlung noch viele Jahre vergehen können.

9. Der Beitrag geht (angemessen) auf die KOSTEN ein.

Da es hier um Ursachen- und Grundlagenforschung geht und noch nicht um eine Therapie, können Kosten nicht direkt beziffert werden. Allerdings wäre es denkbar gewesen, die Kosten bisheriger Therapien zu erwähnen, zu denen es in der Vergangenheit viele Diskussionen gab, siehe zum Beispiel: sueddeutsche.de/wissen. So hätten die Leser und Leserinnen eine Vorstellung davon bekommen, wie hoch die Kosten einer künftigen Therapie in etwa sein könnten. Insgesamt werten wir daher knapp „NICHT ERFÜLLT“.

10. Der Beitrag vermeidet Krankheitsübertreibungen/-erfindungen (DISEASE MONGERING).

Der Text geht nur wenig auf die Krankheit ein, übertreibt dabei jedoch nicht. Im ersten Satz wird sie als „häufigste Ursache für eine Altersblindheit in der westlichen Welt“ eingeordnet. Ansonsten wird die Krankheit nur noch am Ende des Beitrags bei der Differenzierung zwischen trockener und feuchter AMD konkretisiert, letztere könne „das Sehvermögen nachhaltig einschränken. Mit Medikamenten, die das krankhafte Blutgefäßwachstum unterdrücken, lässt sich ein solches Schicksal häufig abwenden.“

Allgemeinjournalistische Kriterien

1. Das THEMA ist aktuell, relevant oder ungewöhnlich.

Der Text bezieht sich auf eine im Februar 2020 veröffentlichte Studie in der Zeitschrift Nature Communications. Damit wurde das Thema zwar nicht sofort aktuell aufgegriffen, jedoch relativ zeitnah umgesetzt. Zumal ist das Thema Makuladegeneration für viele Menschen relevant, da die Erkrankung die häufigste Ursache für eine Erblindung in der westlichen Welt darstellt – und Forscher noch nicht herausgefunden haben, wie sie genau entsteht.

2. Die journalistische Darstellung des Themas ist gelungen (VERSTÄNDLICHKEIT/VERMITTLUNG).

Das – zugegebenermaßen schwierige – Thema wird leider nicht durchgängig verständlich gemacht. Zwar versucht sich der Text an mehreren originellen Formulierungen, wie etwa „unter dringendem Tatverdacht steht“ oder „Rädelsführer der schweren Netzhauterkrankung“. Doch diese gewählten Metaphern überzeugen nicht immer und insgesamt bleiben zu viele Fachausdrücke, die Außenstehende eher abschrecken dürften. Das Komplementsystem wird nicht richtig erklärt, sondern nur als „entwicklungsgeschichtlich alter Ast des Immunsystems“ bezeichnet. Einmal wird es auch als Komplementärsystem bezeichnet, was die Leserinnen und Leser verwirren könnte. Und dann geht es nicht nur um das Protein FHR4, sondern auch um sein Gen und schließlich sogar um das Gen eines anderen Komplement-Proteins, nämlich „Faktor D“. Schwer verständlich ist auch die Textpassage, die das unheilvolle Wirken von FHR4 im Auge erklärt: „Das Immunprotein infiltriere den Augenhintergrund nicht etwa, um dort Krankheitserreger zu bekämpfen. Die Hauptaufgabe des Komplementsystems bestehe zwar darin, solche Eindringlinge abzuwehren. Bei der altersbedingten Makuladegeneration gebe es aber keine Indizien für eine Infektion.“ An solchen Stellen verliert man vermutlich viele Leserinnen und Leser. Deshalb werten wir dieses Kriterium als „NICHT ERFÜLLT“.

3. Die Fakten sind richtig dargestellt.

Eine missverständliche Formulierung fiel uns auf. Zur Therapie der feuchten Makuladegeneration heißt es im Text: „Da die neuen Blutbahnen sehr durchlässig sind und leicht bluten, können sie das Sehvermögen nachhaltig einschränken. Mit Medikamenten, die das krankhafte Gefäßwachstum unterdrücken, lässt sich ein solches Schicksal häufig abwenden.“ Tatsächlich können die Medikamente „ein solches Schicksal“ nicht im Sinne einer Heilung abwenden, sondern das Fortschreiten der Erkrankung nur stoppen oder verlangsamen (siehe auch zum Beispiel: cms.augeninfo.de/hauptmenu/augenheilkunde). Da manche Leser und Leserinnen diese Formulierung missverstehen könnten, werten wir insgesamt nur knapp „ERFÜLLT“.

Medizinjournalistische Kriterien:  8 von 10 erfüllt

Allgemeinjournalistische Kriterien: 2 von 3 erfüllt

Title

Kriterium erfüllt

Kriterium nicht erfüllt

Kriterium nicht anwendbar