Bewertet am 17. Januar 2020
Veröffentlicht von: Der Spiegel (online)
Ein aktueller Online-Artikel des „Spiegel“ liefert womöglich einen Grund mehr, die Neujahrsvorsätze umzusetzen – zumindest, wenn sie darin bestanden, mehr Sport zu treiben: Regelmäßiges Joggen bessere die Elastizität der Hauptschlagader und vermindere damit das Risiko für Herz-Kreislauferkrankungen, so ist es im aktuellen Beitrag zu lesen. Der Text ist verständlich geschrieben und ordnet die Ergebnisse der medizinischen Studie gut ein. Etwas ausführlichere Informationen zur Studie selbst wären noch hilfreich gewesen – noch mehr Erläuterungen zum konkreten Training zum Beispiel und inwiefern andere Einflussfaktoren auf die Blutgefäße wie die Ernährung und der Schlaf einbezogen wurden.

Zusammenfassung

Ein Marathonlauf sei nicht nur ein unvergessliches Erlebnis, sondern auch gut für die Blutgefäße, so berichtet es der „Spiegel“ auf seiner Website. Anschaulich wird aufgegriffen, wie wichtig die Elastizität der Hauptschlagader (Aorta) für das Herz und den Blutkreislauf ist – und wie sich diese bei den Probanden im Laufe des Trainings verbesserte. Wie lang und wie häufig die Probanden tatsächlich trainiert haben, bleibt in der zunächst veröffentlichten Fassung des Textes allerdings unklar – eine Information, die für sportambitionierte Leserinnen und Leser natürlich von großer Bedeutung gewesen wäre. (Auf Grund offenbar vieler Nachfragen wurde diese auf der Webseite inzwischen sogar ergänzt). Auch wird trotz guter Einordnung der Studienergebnisse nicht deutlich, inwiefern diese Studie über andere Untersuchungen zum Ausdauertraining und Herzgesundheit hinausgeht. Daher lässt sich nicht sofort beurteilen, wie neu die in dieser Arbeit gewonnenen Erkenntnisse tatsächlich sind. Insgesamt halten wir den als Positiv-Beispiel vorgeschlagenen Artikel jedoch für gelungen: Er ist verständlich geschrieben, die Studienergebnisse – wenn auch etwas verkürzt – anschaulich dargestellt.

Title

Medizinjournalistische Kriterien

1. Der NUTZEN ist ausreichend und verständlich dargestellt.

Der Artikel erwähnt die Auswirkungen des Marathon-Trainings auf die Aorten-Steifheit und den Blutdruck als Ergebnisse der Studie am University College London, quantifiziert den Nutzen aber nicht. Damit bleiben die Leserinnen und Leser im Unklaren darüber, wie groß der Benefit des Marathontrainings eigentlich war. Zudem führt die Titelzeile „Wie Marathontraining das Herz verjüngt“ in die Irre: Nicht das Herz, sondern die Arterien sind Gegenstand der Studie – gleichwohl gilt die Elastizität der Blutgefäße als Parameter für eine mögliche koronare Herzerkrankung (also das Ausmaß der Verkalkung der Herzkranzgefäße) (emjreviews.com/cardiology und openheart.bmj.com). Eine zentrale Frage ist dabei natürlich, wie dauerhaft die positiven Veränderungen nach dem Marathon sind. Die Forscher untersuchten die Marathonläufer einmal vor Beginn des sechsmonatigen Trainings und einmal im Monat nach dem Marathon. Über Langzeiteffekte kann die Studie also keine Aussagen machen, auf wirklich relevante Endpunkte (mehr Lebensqualität, Lebensverlängerung durch das Training) kann bestenfalls indirekt geschlossen werden. Diese Einschränkungen hätten in dem Artikel jenseits des Expertenzitats zum Effekt („Falls er erhalten bleibt…“) deutlicher erwähnt werden sollen. Auch ein paar mehr Informationen zur Studie selbst wären noch hilfreich gewesen – etwa, inwiefern die Ernährung und die Schlafqualität der Probanden während des Trainings gemessen wurden. Daher werten wir insgesamt „NICHT ERFÜLLT“.

2. RISIKEN und Nebenwirkungen werden angemessen berücksichtigt.

Auf mögliche Herz-Kreislauf-Risiken eines Marathons wird im Artikel kurz eingegangen: „Etwa einer von 100000 Marathonläufern erleidet einen Herzstillstand während des Rennens. Vor kurzem hatten Wissenschaftler berichtet, dass bei Hobbysportlern bei einem Marathon ein Blutwert deutlich ansteigt, der auf akute Schäden am Herzmuskel deutet. Sie vermuten deshalb, dass es für Amateure besser sei, es bei einem Halbmarathon zu belassen.“ Auch wird darauf hingewiesen, dass ursprünglich 237 Teilnehmende rekrutiert wurden, 71 davon den Marathon aber nicht mitgelaufen sind, 52 von ihnen wegen einer Verletzung. Welcher Art diese Verletzungen waren und ob sie trainingsbedingt waren, wird allerdings auch aus dem Fachartikel nicht deutlich. Da sie womöglich im Zusammenhang mit der Marathon-Vorbereitung standen, wäre es interessant gewesen, dies bei den Studienautoren zu erfragen. Wir werten dennoch „ERFÜLLT“.

3. Die Qualität der Evidenz (STUDIEN etc.) wird richtig eingeordnet.

Die Qualität und Aussagekraft der Studie wird im journalistischen Beitrag leider nicht thematisiert, etwa dass es sich um eine reine Beobachtungsstudie handelt, deren Endpunkt noch dazu nur ein physiologischer Parameter (Steifheit der Aorta) ist. Zudem wurden die Probanden – anders als im Artikel beschrieben – nicht ein halbes Jahr begleitet, sondern nur vor dem ersten Training und dann wieder nach dem Marathonlauf untersucht. Erstaunlicherweise wurden die Studienteilnehmer nicht gebeten, ihre Trainingszeiten zu notieren, was die Studienautoren in ihrer Fachpublikation auch bedauern. Es bleibt also unklar, wie viel die Probanden tatsächlich trainiert haben; das wird nur aus Daten von 27 000 Marathonläufern und deren Laufzeit berechnet, was die Aussagekraft der Studie einschränkt. Dass die Studie nicht klären kann, ob die „Verjüngung“ der Arterien dauerhaft anhält, wird nur indirekt im Expertenzitat angedeutet. Daher werten wir „NICHT ERFÜLLT“.

4. Es werden weitere EXPERTEN/Quellen zitiert und es wird auf INTERESSENSKONFLIKTE hingewiesen.

Aus der Danksagung der Studie ist herauszulesen, dass der Veranstalter „Virgin London Marathon“ die Studienautoren bei der Suche nach Probanden unterstützt hat. Da daraus jedoch nicht hervorgeht, dass auch eine monetäre Unterstützung stattgefunden hätte, ist dies im journalistischen Artikel wohl zu vernachlässigen. Unbefriedigend ist dagegen, dass keine unabhängigen Expertinnen oder Experten im Artikel vorkommen, die die Studienergebnisse einordnen könnten. Dies wäre gerade angesichts der methodischen Schwächen, die die Studienautoren zum Teil bereits selbst thematisieren, besonders wünschenswert gewesen. Daher werten wir „NICHT ERFÜLLT“.

5. Der Beitrag geht über die PRESSEMITTEILUNG hinaus.

Der Bericht geht über Pressemitteilungen zu der Studie hinaus, die wir bei unserer eigenen Recherche gefunden haben; eine Pressemitteilung war schon im Mai 2019 anlässlich des Europäischen Kardiologenkongresses erschienen (z.B.eurekalert.org/pub_releases). Die Anzahl der Studienabbrecher zum Beispiel wurde offenbar direkt der Fachpublikation entnommen, auch die Angaben Herzrisiken während eines Marathonlaufs stammen offenbar aus anderen Quellen.

6. Der Beitrag macht klar, wie NEU der Ansatz/das Mittel wirklich ist.

Es wird nicht erwähnt, dass es bereits zahlreiche Studien gibt, die den positiven Einfluss von Bewegung auf das Herz-Kreislauf-System belegen. Auch wird nicht dargelegt, ob und inwiefern diese Untersuchung sich in ihrem Ansatz von anderen, älteren Arbeiten unterscheidet. Daher werten wir „NICHT ERFÜLLT“.

7. Es werden ALTERNATIVE Behandlungsarten/Produkte/Tests vorgestellt.

Es wird im Beitrag kurz erwähnt, dass der Effekt „ähnlich groß“ sei wie bei Medikamenten gegen Bluthochdruck. Hier hätte man sich noch mehr Informationen gewünscht, welche gängigen Alternativen das Training konkret ersetzen könnte. Auch ein Vergleich mit anderen Sportarten zur Prävention hatte eventuell interessant sein können. Daher werten wir nur knapp „ERFÜLLT“.

8. Es wird klar, ob oder wann ein(e) Therapie/Produkt/Test VERFÜGBAR ist.

Da Leserinnen und Lesern klar sein dürfte, dass das Training für einen Marathon für gesunde Menschen allseits möglich und verfügbar ist, muss das im Text nicht erwähnt werden. Insofern werten wir das Kriterium als „ERFÜLLT“.

9. Der Beitrag geht (angemessen) auf die KOSTEN ein.

Dass das Training für einen Marathon nicht mit Therapiekosten verbunden ist, kann man als bekannt voraussetzen und muss daher nicht thematisiert werden. Interessant wäre noch gewesen, zu erfahren, wie viele Medikamentenkosten gespart werden könnten, wenn mehr Menschen regelmäßig joggen würden. Insgesamt werten wir jedoch knapp „ERFÜLLT“.

10. Der Beitrag vermeidet Krankheitsübertreibungen/-erfindungen (DISEASE MONGERING).

Das Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen wird nicht übertrieben dargestellt.

Allgemeinjournalistische Kriterien

1. Das THEMA ist aktuell, relevant oder ungewöhnlich.

Es ist interessant zu sehen, was man mit Sport erreichen kann. Berichterstattung zu diesem Thema ist interessant und wichtig für die Gesellschaft, gerade auch als Ansporn. Was die Aktualität betrifft, könnte man indes einwenden, dass die Nachricht selbst schon im Mai 2019 erstmals auf dem Markt war – eben durch die Pressemitteilung und Präsentation der Studie auf der Fachtagung der europäischen Kardiologen. Die Praxis der Wissenschafts-PR, Ergebnisse mehrfach als neu zu „verkaufen“, ist diskussionswürdig. Gleichwohl passen gute Vorsätze zum Jahresbeginn, und der entsprechende Fachartikel ist soeben erst erschienen – es sind also aus journalistischer Sicht zwei neue aktuelle Anlässe gegeben.

2. Die journalistische Darstellung des Themas ist gelungen (VERSTÄNDLICHKEIT/VERMITTLUNG).

Der Text beginnt mit einem angenehm persönlichen Ton („die vielleicht schönste Erkenntnis“). In den darauffolgenden Absätzen erhalten Leserinnen und Leser dann eine Zusammenfassung der Studie, die sich gut liest, ohne sich in zu vielen Details zu verlieren. Die Auswirkungen einer höheren Aortensteifheit auf das Herz hätte noch mit ein paar Zeilen mehr erklärt werden können, so bleibt sie etwas unverständlich: „Denn die Aorta sorgt durch genau abgepasstes Weiten und Verengen dafür, dass das Blut möglichst gleichmäßig durch den Körper fließt, obwohl das Herz in Stößen pumpt. Wird die Hauptschlagader steifer, steigt das Risiko für Herz-Kreislauf-Krankheiten.“ Insgesamt ist der Artikel jedoch gut geschrieben und logisch aufgebaut.

3. Die Fakten sind richtig dargestellt.

Der Satz „Alte Männer mit hohem Blutdruck profitieren besonders“ ist falsch: In die Studie aufgenommen wurden nur Teilnehmer mit normalem Blutdruck. 138 Marathonläufer und Läuferinnen zwischen 21 und 69 Jahren nahmen an der Studie teil, das Durchschnittsalter betrug 37 Jahre. In die Gruppe der Älteren gehörten alle über dem Durchschnittsalter von 37 Jahren. Im Fließtext heißt es dann aber weiter unten richtig: „ältere Läufer, die zu Beginn der Studie einen vergleichsweise hohen Blutdruck hatten“. Daher werten wir knapp „NICHT ERFÜLLT“.

Medizinjournalistische Kriterien: 6 von 10 erfüllt

Allgemeinjournalistische Kriterien: 2 von 3 erfüllt

Title

Kriterium erfüllt

Kriterium nicht erfüllt

Kriterium nicht anwendbar