Bewertet am 15. November 2019
Veröffentlicht von: Tagesspiegel
Mukoviszidose gilt als die häufigste Erbkrankheit in Deutschland. Nun ist in den USA ein Medikament zugelassen worden, das vielleicht 90 Prozent der Patienten helfen könnte. Nächsten Sommer soll es auch hierzulande auf den Markt kommen. Grund genug, um über die Erkrankung und die Therapie zu berichten, zumal der aktuelle Beitrag im Tagesspiegel sich nicht allein auf die neue Behandlung beschränkt, sondern deutlich macht, dass viel mehr nötig ist, um diese Patienten gut zu versorgen.

Zusammenfassung

In einem Beitrag im Berliner Tagesspiegel wird über einen Meilenstein in der Mukoviszidose-Therapie berichtet: die Aussicht auf Hilfe für 90 Prozent aller Betroffenen dieser unheilbaren Erbkrankheit. Solche Versprechungen wecken Hoffnungen – umso wichtiger, sie gut zu überprüfen, auch mit Hilfe anderer Quellen. Das ist hier nach Einschätzung unserer Gutachter nicht ausreichend geschehen. Vielleicht kommt der wissenschaftliche Aspekt aber auch deshalb zu kurz, weil es offensichtlich nicht allein Ziel des Artikels war, die Medikamenten-Neuheit zu beleuchten, sondern vor allem Probleme in der Versorgung der Patienten darzustellen – ein Grund, diesen Beitrag zunächst als positives Beispiel auszuwählen. Dieser einordnende Aspekt ist mit einer exklusiven Nachricht verbunden und macht rund ein Drittel des Textes aus. Positiv ist dabei zu werten, dass der Artikel insgesamt vorbildlich strukturiert ist, er liefert jedoch insgesamt zu wenig Informationen über die im Text erwähnte Studie.

Title

Medizinjournalistische Kriterien

1. Der NUTZEN ist ausreichend und verständlich dargestellt.

Laut den Ergebnissen der zitierten Mukoviszidose-Studie aus dem Fachblatt New England Journal of Medicine konnten die Probanden nach vier Wochen mit der neuen Wirkstoff-Kombination deutlich besser atmen als die Vergleichsgruppe mit einer Scheinbehandlung. Die Verbesserung war auch nach 24 Wochen noch zu beobachten. Das sogenannte forcierte (Aus-)Atemvolumen pro Sekunde war um rund 14 Prozent besser („…kann demnach das Luftvolumen, das CF-Patienten bei Tests innerhalb einer Sekunde einatmen können, um durchschnittlich 14 Prozent steigern.“) Im Beitrag wird dies zwar allgemeinverständlich eingeordnet: „Das klingt nach wenig, kann für die Patienten aber über Leben und Tod entscheiden.“ Doch insgesamt fällt die Beschreibung des Nutzens sehr knapp aus. Daher werten wir knapp „NICHT ERFÜLLT“.

2. RISIKEN und Nebenwirkungen werden angemessen berücksichtigt.

Risiken und Nebenwirkungen werden im Beitrag nicht angesprochen. Dabei heißt es schon in der Zusammenfassung der Studie selbst: „Most patients had adverse events that were mild or moderate. Adverse events leading to discontinuation of the trial regimen occurred in 1% of the patients in the elexacaftor–tezacaftor–ivacaftor group.” Zudem zeigt eine Tabelle zu Nebenwirkungen im Fachartikel, dass Nebenwirkungen nicht selten waren, allerdings teils auf die schwere Krankheit selbst zurückzuführen waren. So litten zwar gut 13 Prozent der Probanden, die das Medikament bekamen, unter ernsthaften Nebenwirkungen, aber auch gut 20 Prozent der Kontrollgruppe mit Scheinbehandlung.

3. Die Qualität der Evidenz (STUDIEN etc.) wird richtig eingeordnet.

Die – vielleicht – bahnbrechenden Ergebnisse der Studie lassen sich nur dann verlässlich einordnen, wenn man etwas über den Aufbau der Untersuchung erfährt: Wie gut ist das Studiendesign? Wie fügt sich die Studie in die weitere Forschung ein? Das wird hier leider versäumt. Dabei handelt es sich hier um einen hochwertigen Studienaufbau, randomisiert und doppel-verblindet. Das heißt, die Probanden sind den beiden Gruppen zufällig zugeordnet und weder die Teilnehmer noch die Ärzte wissen, wer das Medikament und wer ein Placebo bekommt. In diesem Fall erhielten 200 Patienten ab zwölf Jahren in 13 Ländern von Juni 2018 bis April 2019 die neue Wirkstoffkombination und 203 eine Scheinbehandlung (Placebo). Zumindest einige Informationen zur Studie und deren Aussagekraft wären für die Leserinnen und Leser interessant gewesen.

4. Es werden weitere EXPERTEN/Quellen zitiert und es wird auf INTERESSENSKONFLIKTE hingewiesen.

Unabhängige Experten, die die neue Studie einordnen, werden im Text leider nicht genannt. Das wäre wichtig, denn es geht um eine Neuentwicklung einer Pharmafirma – sie hat ein Interesse daran, dass das sich neue Arzneimittel gut verkauft. Und sie hat die Studie mitfinanziert, wie sich der Pressemitteilung der Universitätsklinik von Texas entnehmen lässt. Dort arbeitet die Studienleiterin, die ebenfalls Geld von der Herstellerfirma Vertex bekommt (was bei einer Zulassungsstudie indes nicht überraschend ist). Allerdings geht es in dem Beitrag vor allem darum, dass auch die neue Behandlung wenig hilft, wenn die Versorgung der Mukoviszidose-Patientin mangelhaft ist, die Bewertung der Studie und möglicher Interessenskonflikte stehen also nicht im Fokus. Daher werten wir nur knapp „NICHT ERFÜLLT“.

5. Der Beitrag geht über die PRESSEMITTEILUNG hinaus.

Der Beitrag beschreibt die Details zur Erbkrankheit Mukoviszidose sehr eigenständig und übernimmt keine Formulierung direkt aus der Pressemitteilung. Zudem ist der Aspekt zur langfristigen Versorgung der betroffenen Patienten losgelöst vom neuen Medikament.

6. Der Beitrag macht klar, wie NEU der Ansatz/das Mittel wirklich ist.

Schon in der Unterzeile wird klar, dass es um ein neu entwickelte Wirkstoff-Kombination geht. Im Text steht dann, dass dieses Mittel „nun“ in den USA von der Arzneimittelbehörde zugelassen worden ist und es wird sogar die Historie weiterer Vorläufermedikamente skizziert. Auch wenn eine ganz präzise Zeitangabe für die Zulassung fehlt, bewerten wir das Kriterium als „ERFÜLLT“.

7. Es werden ALTERNATIVE Behandlungsarten/Produkte/Tests vorgestellt.

Ob es für Betroffene eine Alternative zur jahrelanger Tabletteneinnahme gibt, thematisiert der Beitrag nicht. Sehr allgemein heißt es im Beitrag nur, dass „verschiedene Behandlungsmethoden“ die Lebenserwartung von unter 40 auf rund 50 Jahre erhöht haben. Und dass die genannte Firma schon 2012 ein anderes Mukoviszidose-Medikament auf den Markt gebracht hatte, das jedoch nur „für sechs Prozent der Patienten geeignet“ war. Insgesamt werten wir dieses Kriterium als knapp „NICHT ERFÜLLT“.

8. Es wird klar, ob oder wann ein(e) Therapie/Produkt/Test VERFÜGBAR ist.

Es wird klar, dass die neue Wirkstoffkombination gerade erst in den USA zugelassen wurde. Außerdem wird explizit erklärt, dass die neue Arznei in Deutschland „voraussichtlich im Sommer 2020 durch die europäische Zulassungsbehörde genehmigt werden“ wird. Woher dieses Wissen stammt, ist nicht transparent, trotzdem werten wir das Kriterium damit als „ERFÜLLT“.

9. Der Beitrag geht (angemessen) auf die KOSTEN ein.

Die Frage, wie teuer eine Behandlung wird und ob die gesetzliche Krankenkasse sie bezahlt, ist für Betroffene eine sehr wichtige Information. In diesem Fall ist das nur halb eingelöst: Es geht um eine spektakuläre Summe, die auch prominent erwähnt wird: Das neue Präparat könnte, so heißt es im Text, das Leben vieler Mukoviszidose-Patienten verlängern, „wenn die Gesundheitssysteme bereit sind, den hohen Preis zu zahlen, den die US-amerikanische Biotechfirma ,Vertex Pharmaceuticals‘ dafür veranschlagt: 311.000 US-Dollar.“ Allerdings bleibt unklar, für welche Menge des Medikaments bzw. für welchen Behandlungszeitraum diese Summe gilt. Deshalb werten wir das Kriterium nur knapp als „erfüllt“.

10. Der Beitrag vermeidet Krankheitsübertreibungen/-erfindungen (DISEASE MONGERING).

Die Erbkrankheit Mukoviszidose wird gut verständlich und eindringlich, aber ohne Übertreibungen beschrieben. Da es sich um eine schwere, bislang unheilbare Krankheit handelt, die den Alltag sehr einschränkt, sind deutliche Darstellungen erlaubt und werden nicht als angstschürend gewertet. („Weil auch die Verdauung und andere Organe von dem zähen Schleim gestört, regelrecht ‚verstopft‘ werden, lag die Lebenserwartung im vergangenen Jahrhundert noch unter 40 Jahren.“)

Allgemeinjournalistische Kriterien

1. Das THEMA ist aktuell, relevant oder ungewöhnlich.

Ein neues Medikament gegen eine bekannte, unheilbare Krankheit mit etwa 8.000 Betroffenen alleine in Deutschland – das ist eine Nachricht. Dass das Medikament selbst auch ungewöhnlich ist und zudem extrem teuer, erhöht den Nachrichtenwert. Als besonders lobenswert erachten wir, dass im Beitrag – im Vergleich zu vielen anderen Medienberichten – nicht allein die neue Therapie beschrieben wird. Denn es wird zudem deutlich, wie schlecht die Patienten noch heute an vielen Orten in Deutschland medizinisch versorgt sind – und dass allein eine neue Behandlung diesen Mangel nicht wettmachen kann.

2. Die journalistische Darstellung des Themas ist gelungen (VERSTÄNDLICHKEIT/VERMITTLUNG).

Der Text beginnt mit dem Versprechen eines Durchbruchs – also mit einem Begriff, den man im Medizinjournalismus eher vermeiden sollte. Immerhin könnte es sich aber bei dem Mittel tatsächlich um eine besondere medizinische Neuheit handeln, und der Text fängt die Leserinnen und Leser mit dem anschaulichen Vergleich zu einem normalem, aber hartnäckigem Husten ein, so dass sich nicht nur Mukoviszidose-Patienten angesprochen fühlen. Der Artikel ist gut strukturiert und meistenteils verständlich geschrieben. Allerdings wird das Wissen um die Krankheitsursache für Laien nicht sehr verständlich erklärt: „Es enthält die Information für den Bau eines Kanals in der Hülle von Zellen, durch den Chlorid-Ionen transportiert werden. Fehlt der Chlorid-Kanal oder ist er defekt aufgrund der Mutationen, kann der Körper nur zähflüssigen Schleim bilden.“ Daher werten wir nur knapp „ERFÜLLT“.

3. Die Fakten sind richtig dargestellt.

Die Details der Studie sind zwar äußerst knapp, aber nicht falsch wiedergegeben. Allerdings führt eine im Text erwähnte Zahl etwas in die Irre. Der Grund für den medizinischen Erfolg ist vermutlich vor allem der Umstand, dass bei fast 90 Prozent der Mukoviszidose-Patienten die gleiche Genmutation Auslöser der Krankheit ist und dort genau diese Wirkstoffkombination besonders wirksam ist. Dies wird zu Anfang des Textes erklärt. Später heißt es dagegen missverständlich, dass sich die Wirkstoffkombination „in den klinischen Studien als bei 90 Prozent der Patienten wirksam herausstellte“. Daher werten wir knapp „NICHT ERFÜLLT“.

Medizinjournalistische Kriterien: 5 von 10 erfüllt

Allgemeinjournalistische Kriterien: 2 von 3 erfüllt

Title

Kriterium erfüllt

Kriterium nicht erfüllt

Kriterium nicht anwendbar