Bewertet am 17. Oktober 2019
Veröffentlicht von: Deutschlandfunk
Ein Gift der Tollkirsche soll es richten: Atropin-Tropfen sollen das Fortschreiten von Kurzsichtigkeit ausbremsen – angesichts der stark ansteigenden Anzahl kurzsichtiger Kinder wäre das eine hoffnungsvolle Aussicht. Auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Ophthalmologie haben Augenärzte den neuesten Stand dieses Forschungsansatzes vorgestellt, wie ein Beitrag des Deutschlandfunks auf weitgehend verständliche Art und Weise berichtet.

Zusammenfassung

Wenn Kinder kurzsichtig werden, ist das nicht allein ein kosmetisches Problem. Je früher die Kurzsichtigkeit (Myopie) einsetzt, desto ausgeprägter wird sie bis zum Erwachsenenalter sein. Mit der Folge, dass das Risiko für Netzhautablösung und grünen Star im Vergleich zu Normalsichtigen ansteigt. Daher hoffen Mediziner und Patienten auf die Wirkung von Atropin-Tropfen, die das Fortschreiten einer Kurzsichtigkeit bei Kindern bremsen soll. Ein Beitrag des Deutschlandfunks nimmt einen aktuellen Fachkongress zum Anlass, um über diesen Forschungsansatz zu berichten. Allerdings wird die Qualität der bisherigen Studien nicht eingeordnet, auch werden lediglich Experten befragt, die in einer Pressemitteilung zum Fachkongress ebenfalls zitiert werden. Damit landet ein ursprünglich als Positiv-Beispiel vorgeschlagener Beitrag in unserer Bewertung im Mittelfeld.

Title

Medizinjournalistische Kriterien

1. Der NUTZEN ist ausreichend und verständlich dargestellt.

Es wird klar, wie eine Kurzsichtigkeit entsteht und dass Atropin dagegen helfen kann. Auch wird die Größenordnung des Nutzens im Rahmen eines Zitats erläutert: „Das hilft relativ gut. Man kann damit das Fortschreiten der Kurzsichtigkeit um etwa 50 Prozent mindern. Das heißt, wenn ein Erwachsener vielleicht bei zehn Dioptrien ist und als Kind und Jugendlicher getropft hätte, dann wäre er vielleicht bei fünf statt zehn Dioptrien – und das ist natürlich ein beträchtlicher Gewinn.“ Es wäre allerdings schöner gewesen, diesen Nutzen nicht in Form eines Zitats, sondern anhand von Ergebnissen einer konkreten Studie oder Meta-Analyse zu erfahren, etwa einer diesjährigen Publikation aus Italien: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/31197953

2. RISIKEN und Nebenwirkungen werden angemessen berücksichtigt.

Im Beitrag wird mehrfach auf Nebenwirkungen eingegangen, auch mit Bezug auf die historische Entwicklung der Atropin-Behandlung. Hier allerdings wird etwas übertrieben, was den modernen Therapieansatz angeht: „Atropin gilt schon lange als Mittel gegen Kurzsichtigkeit, inzwischen haben Forscher auch die unerwünschten Nebenwirkungen beseitigt.“ Auch heißt es: „Sie verdünnten die Atropintropfen (…) genau so stark, dass die Nebenwirkungen nicht mehr störten.“ Das ist nicht ganz korrekt, weil ein kleiner Teil der Patienten durchaus unter Nebenwirkungen leidet, vor allem einer starken Blendung bei Sonnenlicht. Immerhin werden diese übertriebenen Aussagen im Laufe des Beitrag im Rahmen eines Zitats relativiert: „In der Konzentration von 0,01 Prozent, wie das jetzt von Augenärzten weltweit immer mehr eingesetzt wird, spielen diese Nebenwirkungen fast keine Rolle, sie liegen im Bereich von einem, maximal zwei Prozent bei unseren Patienten in Freiburg.“ Hier hätte man sich allerdings Informationen über in Studien ermittelte Nebenwirkungen gewünscht, anstelle sich allein auf die Aussagen eines einzelnen Experten über die Erfahrungen an seiner Klinik zu verlassen. Daher werten wir knapp „ERFÜLLT“.

3. Die Qualität der Evidenz (STUDIEN etc.) wird richtig eingeordnet.

Im Beitrag wird zwar erwähnt, dass es gute Studien zur Behandlung mit Atropin-Tropfen gibt. Aber der Leser kann überhaupt nicht nachvollziehen, um was für Untersuchungen es sich dabei handelt. Stattdessen heißt es: „Zwei asiatische Studien erbrachten solide wissenschaftliche Beweise, dass diese Therapie wirkt (…)“. Dabei bietet schon die Stellungnahme der Fachgesellschaft vom Dezember 2018 mehr Informationen über die Qualität der bislang erfolgten Untersuchungen: dog.org/wp-content/uploads. Und erst vor wenigen Wochen ist eine Meta-Analyse zum Thema erschienen (ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC6694061), die sich zwar auch positiv über die Atropin-Behandlung äußert, jedoch noch mehr qualitativ hochwertige Studien einfordert. Daher werten wir knapp „NICHT ERFÜLLT“.

4. Es werden weitere EXPERTEN/Quellen zitiert und es wird auf INTERESSENSKONFLIKTE hingewiesen.

Es werden lediglich zwei Augenärzte zitiert, die die Atropin-Therapie selbst in ihren Kliniken einsetzen. Unabhängige Augenärzte werden dagegen nicht befragt. Daher werten wir „NICHT ERFÜLLT“.

5. Der Beitrag geht über die PRESSEMITTEILUNG hinaus.

Der Beitrag zitiert die beiden Experten, die auch in der Pressemitteilung erwähnt werden. Die Informationen gehen nur geringfügig über die Pressemitteilung hinaus, teilweise bietet diese sogar mehr Hintergründe als der journalistische Beitrag. Daher nur knapp „ERFÜLLT“.

6. Der Beitrag macht klar, wie NEU der Ansatz/das Mittel wirklich ist.

Es wird klar, dass Atropin mit seiner Wirkung gegen das Fortschreiten der Kurzsichtigkeit schon lange bekannt ist. Auch dass die Anwendung in niedriger Konzentration als Tropfen gegen Kurzsichtigkeit erst seit wenige Jahren als Therapie angeboten wird, wird deutlich.

7. Es werden ALTERNATIVE Behandlungsarten/Produkte/Tests vorgestellt.

Auf Alternativen zur Atropin-Behandlung wird im zwar Beitrag eingegangen: „Man soll nicht im Dunkeln unter der Bettdecke lesen, das ist in der Tat wohl so, die Nahtätigkeit ist nicht gut. Und man soll möglichst viel draußen sein“. Allerdings gibt es bereits spezielle Kontaktlinsen und Brillengläser, die ebenfalls in Studien eine – wenn auch geringere – Wirkung gezeigt haben (z.B.: https://www.aaojournal.org/article/S0161-6420(15)01356-1/pdf)
Die werden hier leider nicht erwähnt. Dabei führt die Stellungnahme der Fachgesellschaft beide Therapieansätze auf – und auf diese Stellungnahme wird in der Pressemitteilung des Fachkongresses zum Thema explizit hingewiesen. Daher werten wir knapp „NICHT ERFÜLLT“.

8. Es wird klar, ob oder wann ein(e) Therapie/Produkt/Test VERFÜGBAR ist.

Man kann sich aus dem Text erschließen, dass die Tropfen beim Augenarzt zu bekommen sind.

9. Der Beitrag geht (angemessen) auf die KOSTEN ein.

Im Beitrag wird erwähnt, dass die Krankenkassen die Kosten der Therapie nicht erstatten. Auch der Begriff „off-label use“ wird erwähnt, aber nicht erklärt – dass nämlich die Behandlung von Kurzsichtigkeit mit Atropin in Deutschland bisher nicht zugelassen ist. Hier wäre es noch interessant gewesen zu wissen, wie hoch die Kosten genau sind, daher werten wir knapp „NICHT ERFÜLLT“.

10. Der Beitrag vermeidet Krankheitsübertreibungen/-erfindungen (DISEASE MONGERING).

Es wird erwähnt, dass Kurzsichtigkeit das Risiko für Augenerkrankungen wie Netzhautablösung erhöht. Übertrieben wird dabei nicht.

Allgemeinjournalistische Kriterien

1. Das THEMA ist aktuell, relevant oder ungewöhnlich.

Es handelt sich um eine relativ neue Behandlungsform, die womöglich langfristige Augenschäden bei kurzsichtigen Menschen verhindern kann. Ein Jahreskongress ist kein zwingender, aber ein durchaus legitimer Anlass, das Thema aktuell aufzugreifen.

2. Die journalistische Darstellung des Themas ist gelungen (VERSTÄNDLICHKEIT/VERMITTLUNG).

Ein gut verständlicher, logisch aufgebauter Beitrag. Schade nur, dass der Begriff „off-label-use“ nicht erklärt wird (siehe oben, Kriterium 9).

3. Die Fakten sind richtig dargestellt.

Zum bisherigen Einsatz von Atropin wird Folgendes erwähnt: „(…) die Atropin-Tropfen, die bisher nur nach Operationen, Verletzungen und Entzündungen am Auge eingesetzt wurden“. Laut der Gelben Liste – einem großen Arzneimittelverzeichnis in Deutschland – wird Atropin aber unter anderem auch bei Hornhautentzündungen, Akkommodationsspasmen, bei Weitsichtigkeit sowie vor diagnostischen Eingriffen zur Netzhautuntersuchung eingesetzt. Auch bleibt unerwähnt, dass die Therapie bei etwa zehn Prozent der Kinder nicht anschlägt, was zwar kein Fehler ist, aber einen leicht verzerrten Eindruck der Therapieergebnisse vermittelt. Daher werten wir knapp „NICHT ERFÜLLT“.

Medizinjournalistische Kriterien: 6 von 10 erfüllt

Allgemeinjournalistische Kriterien: 2 von 3 erfüllt

Title

Kriterium erfüllt

Kriterium nicht erfüllt

Kriterium nicht anwendbar