Bewertet am 24. Oktober 2019
Veröffentlicht von: Berliner Morgenpost

Es klingt ein wenig nach Magie – oder nach Hokuspokus: Eine Salbe lindert Schmerzen, selbst wenn sie gar keinen Wirkstoff enthält. Entscheidend dafür soll sein, dass die behandelnden Ärzte von der Wirkung des Präparats überzeugt sind. In einem Beitrag der Deutschen Presseagentur (dpa), wie ihn die Berliner Morgenpost aufgegriffen hat, wird über eine aktuell publizierte Studie berichtet, in der genau dieser Effekt beobachtet wurde. Leider ordnet der journalistische Artikel die Aussagen der Studienautoren jedoch nicht ein und versäumt es auch, dieses eigentlich lebensnahe Thema anschaulich und unterhaltsam aufzubereiten.

Zusammenfassung

Ein Scheinmedikament lindert die Schmerzen von Patienten, wenn Ärzte an die Wirksamkeit der an sich wirkungslosen Therapie glauben – und sich dieser Glaube in ihrem Gesichtsausdruck widerspiegelt. Das ist die Kernaussage eines journalistischen Beitrags, der über eine aktuell veröffentlichte Studie von Forschern des Dartmouth College in New Hampshire (USA) berichtet. Darin wird ein wichtiger Aspekt des Placebo-Effekts behandelt – ob und inwieweit Patienten auch dann eine Salbe als schmerzlindernd empfinden, wenn sie gar keinen Wirkstoff enthält, der Arzt aber selbst davon überzeugt ist. Ein spannendes Thema, zumal da die Forschung über die Bedeutung der Arzt-Patienten-Kommunikation derzeit großen Zuspruch erfährt. Ob die vorliegende Studie nun aber einen Meilenstein darstellt, wird im journalistischen Beitrag nicht herausgearbeitet; unabhängige Experten wurden nicht dazu befragt. Auch wurden wichtige Informationen weggelassen – etwa über die Stärke der ermittelten Wirkung. Stattdessen wurden offensichtlich nur die Publikation selbst, die dazugehörige Pressemitteilung und der Kommentar im Editorial der Fachzeitschrift als Quellen genutzt. Das reicht für eine differenzierte Berichterstattung in diesem Fall leider nicht aus.

Hinweis: Der Originalbeitrag ist online nicht mehr verfügbar.

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Medizinjournalistische Kriterien

1. Der NUTZEN ist ausreichend und verständlich dargestellt.

​In der im Artikel beschriebenen Studie wurde untersucht, wie stark sich die positive Überzeugung der in die Rolle der Ärzte geschlüpften Studenten auf die wahrgenommene Wirkung der Patienten auswirkt. Wie stark dieser Nutzen war, wird im journalistischen Beitrag nicht quantifiziert. Es wird nur postuliert, dass die Wahrnehmung der Effektivität bei Patienten „immens“ beeinflusst werden kann, eine Aussage, die zudem bei den geringen Unterschieden in Abbildung 1b (iii) der Publikation (siehe unten) nicht gerechtfertigt erscheint. Hier fällt die Reduktion der Schmerzwahrnehmung der Salbe mit angeblicher Wirkung (Thermedol) im Vergleich zur Kontrolle doch eher gering aus. Daher werten wir „NICHT ERFÜLLT“.

Grafik

 

2. RISIKEN und Nebenwirkungen werden angemessen berücksichtigt.

Risiken und Nebenwirkungen spielen bei dem beschriebenen Experiment direkt keine Rolle, man hätte aber auf die möglichen Folgen einer positiven Bewertung eines Scheinmedikaments eingehen können. Schließlich hat die Haltung des Arztes große Auswirkungen auf die Arzt-Patienten-Beziehung, mit dem Potenzial massiver Nebenwirkungen. Dies ist nicht zuletzt auch ein moralisch-ethisches Problem.

3. Die Qualität der Evidenz (STUDIEN etc.) wird richtig eingeordnet.

Es wird klar, dass es sich um eine experimentelle Studie handelt. Auch der Versuchsaufbau wird ausführlich beschrieben und die genaue Zahl von 194 Probanden genannt, wenngleich diese auf drei unterschiedliche Versuche aufgeteilt wurden. Auf die Qualität der Studie wird allerdings nicht eingegangen. Wie bedeutsam sind die Resultate? Welchen Stellenwert haben sie in Bezug auf die bisherigen Erkenntnisse in diesem Forschungsbereich? Lüftet die Studie wirklich „den Schleier“ über einer offenen Frage, „zumindest ein wenig“, wie es im Kommentar der Fachzeitschrift „Human Nature Behavior“ heißt? Das erklärt der journalistische Beitrag leider nicht. Daher werten wir knapp „NICHT ERFÜLLT“.

4. Es werden weitere EXPERTEN/Quellen zitiert und es wird auf INTERESSENSKONFLIKTE hingewiesen.

Es wurden für den journalistischen Beitrag keine unabhängigen Experten befragt. Zitate aus einem Kommentar/Editorial derselben Ausgabe der Fachzeitschrift können ausreichen, wenn sich ein solcher Kommentar tatsächlich kritisch über eine im gleichen Heft publizierte Studie äußert. Das ist hier jedoch nur sehr bedingt der Fall. Daher werten wir „NICHT ERFÜLLT“.

5. Der Beitrag geht über die PRESSEMITTEILUNG hinaus.

Im Artikel wird zwar kein eigens herangezogener Experte zitiert, aber ein Forscher, der in der gleichen Fachzeitschrift einen Kommentar verfasst hat, äußert sich zu der besprochenen Studie. Damit bleibt die Recherche auf die Fachzeitschrift beschränkt, geht aber über die Pressemitteilung hinaus.

6. Der Beitrag macht klar, wie NEU der Ansatz/das Mittel wirklich ist.

Der Beitrag macht nicht ausreichend deutlich, was das Neue an der Studie ist – nämlich die Messung von Gesichtsausdrücken, die womöglich den Placebo-Effekt übertragen. Dass hingegen Ärzteerwartungen auf Patienten übertragen werden, ist seit langem bekannt und auch ein wichtiger Grund für die Doppelverblindung von klinischen Studien: Dabei wissen weder die behandelnden Mediziner noch die Probanden, welcher Studienteilnehmer eine wirksame Therapie erhält und welcher ein Scheinpräparat, um Verzerrungen aufgrund dieser Erwartungen zu vermeiden. Die Autoren der aktuell erschienen Fachpublikation zitieren selbst eine Studie aus dem Jahr 1985 aus dem Fachjournal The Lancet, die genau das ergeben hat: „Clinicians‘ expectations influence placebo analgesia“ (Die Erwartungen von Klinikärzten beeinflussen die Schmerzbetäubung mit Placebos). Diese zeitliche und inhaltliche Einordnung fehlt leider im journalistischen Beitrag; nur am Schluss ist andeutungsweise davon die Rede, wenn es um „Untersuchungen der Mechanismen“ geht, „die einer der ältesten und wirksamsten medizinischen Behandlungen zugrunde liegen: den Heilern selbst“. Daher werten wir knapp „NICHT ERFÜLLT“.

7. Es werden ALTERNATIVE Behandlungsarten/Produkte/Tests vorgestellt.

Es geht hier zwar nicht formal um eine Alternative zu einem Arzneimittel oder einer Behandlung, dennoch hätte im Artikel kurz erwähnt werden müssen, dass bei Schmerz üblicherweise Medikamente zum Einsatz kommen (Paracetamol etwa, Aspirin oder nichtsteroidale Antirheumatika (zum Beispiel Ibuprofen), bis hin zu Opioiden bei sehr ausgeprägten Beschwerden), die zum Teil schwere Nebenwirkungen haben. Auch psychosomatische Therapien werden ergänzend angeboten, allerdings mit begrenztem Erfolg. Und schließlich wären im journalistischen Beitrag noch andere Möglichkeiten als die in der Studie verwendeten Arzt-Patienten-Kommunikation zu nennen gewesen: Was wäre die Alternative dazu, dass selbst eins von zwei Placebos besser wirkt, weil der Arzt daran glaubt? Wäre es vielleicht ein Mediziner, der überzeugend auftritt, obwohl er gar nicht selbst an die Behandlung glaubt? Wäre das moralisch überhaupt vertretbar? Was passiert, wenn die Erwartungen von Arzt und Patient an die Therapie nicht die gleichen sind? All diese spannenden Fragen greift der Artikel nicht auf.

8. Es wird klar, ob oder wann ein(e) Therapie/Produkt/Test VERFÜGBAR ist.

Die Kommunikation zwischen Arzt und Patient findet zwar täglich statt, in Praxen wie in Krankenhäusern. Das dürfte den Lesern des journalistischen Beitrags bekannt sein. Ob und ggf. in welchen Fällen Ärzte allerdings bereits absichtlich positiv kommunizieren, um den Erfolg einer Therapie zu verbessern, wird nicht deutlich. Darum werten wir „NICHT ERFÜLLT“.

9. Der Beitrag geht (angemessen) auf die KOSTEN ein.

Es ist für jeden offensichtlich, dass im Rahmen der Arzt-Patienten-Kommunikation primär keine besonderen Kosten entstehen. Für Prognosen zum Beispiel zu potenziellen Kosteneinsparungen durch den Ansatz ist es angesichts des noch sehr experimentellen Charakters zu früh. Daher müssen Kosten im journalistischen Beitrag nicht explizit erwähnt werden. Daher werten wir das Kriterium als „ERFÜLLT“.

10. Der Beitrag vermeidet Krankheitsübertreibungen/-erfindungen (DISEASE MONGERING).

Es geht im journalistischen Beitrag um grundsätzliche Wirkungsmechanismen einer Therapie. Krankheitsübertreibungen sind im Artikel nicht zu finden.

Allgemeinjournalistische Kriterien

1. Das THEMA ist aktuell, relevant oder ungewöhnlich.

Die Kommunikation zwischen Ärzten und Patienten ist ein wichtiges Thema, dem inzwischen auch im Medizinstudium mehr Aufmerksamkeit zuteil wird. Frühere Studien zu Placebo-Effekten haben zwar bereits die Auswirkungen guter oder schlechter Kommunikation gezeigt (siehe auch Kriterium 6). Den aktuell im Oktober veröffentlichten Fachartikel zum Anlass für eine Berichterstattung zu nehmen, ist dennoch angesichts der Relevanz des Themas gerechtfertigt, zumal da der Studienaufbau mit dem Einsatz von Kameras innovativ und originell erscheint.

2. Die journalistische Darstellung des Themas ist gelungen (VERSTÄNDLICHKEIT/VERMITTLUNG).

Als Leser stolpert man mehrfach über sprachlich sperrige Formulierungen, zum Beispiel ungelenke Übersetzungen aus der Fachpublikation, etwa den Satz „Wie kommunizieren effektive Ärzte, vielleicht im Vergleich zu weniger effektiven?“ (Gemeint sind wohl „echte“ Ärzte, da in der Studie Studierende die Rollen von Ärzten und Patienten einnahmen.) Ebenso findet man in Hinblick auf den Kommentar zur Studie im selben Fachjournal die irritierende Formulierung, die Studie sei „elegant und stark“. Gerade bei einem so lebensnahen Thema hätten sich viele Möglichkeiten ergeben, die Sachverhalte auf eingängigere Weise zu vermitteln. Daher werten wir knapp „NICHT ERFÜLLT“.

3. Die Fakten sind richtig dargestellt.

Es heißt im Text: „Kameras auf den Köpfen der Patienten gaben Hinweise auf die Ursache des Effekts: Die Aufnahmen ließen kleinste Veränderungen im Gesichtsausdruck der behandelnden ‚Ärzte´ erkennen.“ Das ist falsch. In Wahrheit waren die Kameras so angebracht, dass sie auf den Köpfen der Ärzte die Gesichter der Ärzte filmten und auf den Köpfen der Patienten eben diese Patienten. Zudem kommen die Studienautoren nicht aus Darmouth, sondern aus Dartmouth, was wir jedoch als Flüchtigkeitsfehler werten.

Medizinjournalistische Kriterien: 3 von 10 erfüllt

Allgemeinjournalistische Kriterien: 1 von 3 erfüllt

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Kriterium erfüllt

Kriterium nicht erfüllt

Kriterium nicht anwendbar