Bewertet am 13. September 2019
Veröffentlicht von: Hamburger Morgenpost (online)

In dieser Woche haben wir ein Thema aufgegriffen, über das in den vergangenen Tagen viele deutsche Medien berichtet hatten: Ein Junge aus Großbritannien hat sich demnach über Jahre hinweg von Chips und Pommes, Schinken und Weißbrot ernährt. Er entwickelte (unter anderem) einen ausgeprägten Vitamin B12-Mangel, nun ist er fast blind. Diesen Fallbericht hat auch die Hamburger Morgenpost (online) zum Anlass für einen kurzen Artikel genommen, es allerdings versäumt, medizinische Zusammenhänge verständlich zu erklären. Leider finden sich auch Faktenfehler im Text. Die ungelenken Formulierungen lassen zudem vermuten, dass hier zumindest teilweise aus dem Englischen übersetzt wurde.

Zusammenfassung

In einem Beitrag der Hamburger Morgenpost (online) wird über einen Jugendlichen berichtet, der nach einer jahrelangen Mangelernährung ohne ausreichend viele Vitamine nahezu erblindet ist. Darüber hatten britische Ärzte in einem Fallbericht im Fachblatt Annals of Internal Medicine berichtet. Leider versäumt es der journalistische Artikel, die Leser mit den wichtigsten Informationen zum Krankheitsbild und seiner Therapie aufzuklären. Weder kommen Experten zu Wort, noch erfährt man etwas zur Studienlage. Es bleiben viele Fragen offen, einige Informationen sind irreführend. Die Art der Aufzählung fehlender Vitamine im Text lässt vermuten, dass vieles aus einem Online-Beitrag der britischen Tageszeitung Daily Mail stammen, auf den im deutschen Artikel auch Bezug genommen wird. Dort werden die gleichen Vitamine in derselben Reihenfolge genannt. Eine etwas missglückte Übersetzung erklärt auch, warum aus „in a decade“ im deutschen Text „jahrzehntelang“ wurde. Problematisch finden wir, dass manche Sätze eine Art Schuldzuschreibung erkennen lassen: „Nun muss er mit den fatalen Konsequenzen leben“ – als handle es sich um eine gerechte Strafe für die Fehlernährung, dass der Patient nun erblindet ist. Auch die Anmerkung „Trotz seiner furchtbaren Krankheit hat der Junge seine Ernährung noch nicht umgestellt“, suggeriert, dass hier jemand renitent an etwas festhalte, das ihm schadet. Das ist angesichts der vermuteten psychischen Erkrankung nicht nur falsch, sondern auch journalistisch unangemessen. Die Begutachtung bestätigt letztlich den ersten Eindruck: der Beitrag war uns als Negativ-Beispiel zur Bewertung vorgeschlagen worden.

Hinweis: Der Originalbeitrag ist online nicht mehr abrufbar. 

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Medizinjournalistische Kriterien

1. Der NUTZEN ist ausreichend und verständlich dargestellt.

Im vorliegenden journalistischen Beitrag wird kein Medikament oder Verfahren vorgestellt, das einen Nutzen haben soll. Stattdessen geht es um gesunde Ernährung und den Nutzen von Vitaminen. „Kein einziger Bissen“ Obst und Gemüse als alleinige, indirekte Beschreibung ist aber nicht ausreichend, um eine gesunde Ernährung (oder das Fehlen einer gesunden Ernährung) zu charakterisieren. So kann zum Beispiel auch eine bestimmte vegane Ernährung die beschriebenen Vitaminmangelerscheinungen hervorrufen.
Es fehlt ebenfalls der Hinweis, dass der Patient bereits wegen seiner Blutarmut und seines Vitaminmangels behandelt worden war. Unklar bleibt im Artikel auch, wie die Mangelernährung mit der geschilderten Ess-Störung zusammenhängt. Diese spezielle Form der Ess-Störung ARFID (avoident-restrictive food intake disorder, auf Deutsch: vermeidend/restriktive Ess-Störung), über die im medizinischen Fallbericht geschrieben wird, wird gar nicht explizit genannt. Der Nutzen einer auch im Hinblick auf Vitamine und Spurenelemente ausgewogenen Ernährung lässt sich so nicht erkennen. Selbst der Zeitfaktor bleibt unerwähnt, daher entsteht im journalistischen Beitrag der Eindruck, der Patient sei „nun“ quasi plötzlich erblindet. Das Ganze hatte aber jahrelangen Vorlauf, Therapien wurden nicht begonnen bzw. offenbar abgebrochen („lapsed“). Dadurch versteht der Leser nicht, dass eine Ernährungsumstellung und Vitamin-Supplementierungen bei einer ernährungsbedingten Erkrankung des Sehnervs eigentlich sehr gute Ergebnisse bringt, sogar dann noch, wenn bereits Schäden aufgetreten sind.

2. RISIKEN und Nebenwirkungen werden angemessen berücksichtigt.

Als Risiken sind in diesem Beitrag die Folgen einer falschen Ernährung auf dem Boden einer Ess-Störung zu sehen. Es reicht nicht hier zu erwähnen, was der Patient gegessen hat und was nicht: so wird die Risikoverquickung von psychischer Problematik und Nährstoffmangel nicht deutlich. Zudem kann man auch ohne Pommes, Würstchen, Chips und Sandwiches solche Mängelzustände erleiden. Es geht darum, dass der Mangel an ganz bestimmten Vitaminen und Spurenelementen dadurch erzeugt wird, dass man sehr einseitig isst. Dieses einseitige Essen kann auf einer Ess-Störung basieren, aber auch auf einer ganz besonderen Diät, oder aufgrund von Aufnahmestörungen im Magen-Darmtrakt. Solange dieser Zusammenhang nicht erläutert wird, bleiben die Risiken einer solchen Fehlernährung für die Leser unklar.

3. Die Qualität der Evidenz (STUDIEN etc.) wird richtig eingeordnet.

Insgesamt handelt es sich bei medizinischen Fallberichten um eine niedrige Evidenzstufe. Wird nur ein Patient betrachtet, kann man damit nicht automatisch auf einen allgemeingültigen Zusammenhang schließen. Wie gut die Studienlange insgesamt zum Einfluss von einem Nährstoffmangel auf den Sehnerv und das Auge ist, bleibt in dem Artikel unbeantwortet.
So gibt es zum Beispiel ähnliche Mangelerscheinungen bei Alkoholikern und Rauchern (daher wurde diese Erkrankung auch „tobacco-alcohol-amblyopia“ genannt). Außerdem sind Veganer gefährdet, wenn sie die fehlenden Vitamine nicht richtig supplementieren. Gleiches gilt für Patienten nach einem bariatrischen Eingriff, zum Beispiel einer Teilresektion des Magens zur Reduktion einer ausgeprägten Fettleibigkeit. Und schließlich sind auch Menschen gefährdet, die über Sonden oder andere Infusionen ernährt werden müssen.

4. Es werden weitere EXPERTEN/Quellen zitiert und es wird auf INTERESSENSKONFLIKTE hingewiesen.

Kein einziger Experte wird im journalistischen Artikel genannt. Niemand ordnet die Aussagen und Vorwürfe des Jungen oder der Mutter fachlich ein. Als Quelle wird lediglich die britische Tageszeitung Daily Mail genannt. Dabei wurde der medizinische Fallbericht ursprünglich in den Annals of Internal Medicine publiziert, einem Fachjournal.

5. Der Beitrag geht über die PRESSEMITTEILUNG hinaus.

Der Beitrag enthält weit weniger Informationen als die Pressemitteilungen, sowohl zum Krankheitsverlauf als auch zu den medizinischen und zeitlichen Details. Der Artikel zitiert darüber hinaus aus der Daily Mail, und ergänzt die Problematisierung der sozialen Isolierung. Dies wiederum hat die Daily Mail aus einer anderen Zeitung (der Times) zitiert. Hier handelt es sich offensichtlich nicht um eine weitergehende Recherche, auch wenn dort – im Gegensatz zur Pressemitteilung – der Patient und seine Mutter zu Wort kommen. Stattdessen lässt der Text vermuten, dass die Informationen zumindest teilweise den anderen Zeitungen entnommen wurden.

6. Der Beitrag macht klar, wie NEU der Ansatz/das Mittel wirklich ist.

Es wird im journalistischen Beitrag nicht deutlich, dass die Erkrankung des Sehnervs bereits lang bekannt und auch die Therapie seit vielen Jahren etabliert ist.

7. Es werden ALTERNATIVE Behandlungsarten/Produkte/Tests vorgestellt.

Es wird nicht klar, dass nicht allein Junk-Food solche Mangelzustände hervorrufen kann, sondern auch bestimmte Erkrankungen, der Zustand nach speziellen Operationen oder eine vegane Ernährung. Folglich versteht der Leser nicht, dass es verschiedene Möglichkeiten gibt, diese Mängel zu beheben. Vor allem wird nicht klar, dass es sich womöglich um eine psychotherapeutisch anzugehende Essstörung handelt, die einer ganz anderen Therapie bedarf als lediglich die Umstellung des Essens oder einer Supplementierung.

8. Es wird klar, ob oder wann ein(e) Therapie/Produkt/Test VERFÜGBAR ist.

Im Text heißt es lediglich: „Er kriegt jetzt eine Behandlung speziell für Menschen mit Essstörung. Außerdem nimmt er Nahrungsergänzungsmittel und Vitamintabletten.“ Nicht klar wird, ob es sich dabei um eine stationäre Therapie handelt, ob es sich um freiverkäufliche Vitaminpräparate (etwa aus der Drogerie) handelt oder er Infusionen bekommt. Im Fallbericht wird das dagegen sehr wohl erwähnt: „He was treated with vitamin B12 injections and dietary advice.“ Daher werten wir knapp NICHT ERFÜLLT.

9. Der Beitrag geht (angemessen) auf die KOSTEN ein.

Für die Leserinnen und Leser wäre es interessant gewesen zu wissen, mit welchen Kosten eine Vitaminsupplementierung verbunden sind. Dies wird jedoch im Text nicht erwähnt.

10. Der Beitrag vermeidet Krankheitsübertreibungen/-erfindungen (DISEASE MONGERING).

Der journalistische Artikel erweckt den Eindruck, dass Kinder und Jugendliche allein von Junk Food blind werden könnten. Tatsächlich muss ein extremer Vitaminmangel vorliegen, bevor es zu Krankheitserscheinungen kommt. Zudem ist ein Vitamin-Mangel eigentlich gut durch Supplementierung zu beheben, was im Falle des im Fallbericht beschriebenen Patienten jedoch offensichtlich nicht oder nur ungenügend erfolgt ist. Im Artikel wird der Zusammenhang zwischen Fehlernährung und Erblindung folglich übertrieben dargestellt, Eltern unnötig beunruhigt.

Allgemeinjournalistische Kriterien

1. Das THEMA ist aktuell, relevant oder ungewöhnlich.

Angesichts der großen Verbreitung von Fast-Food auch unter Kindern und Jugendlichen ist das Thema relevant und aktuell. Zudem ist es eine sehr seltene Konstellation, dass allein durch Fehlernährung eine solche Erkrankung hervorgerufen wird. Der Anlass für eine journalistische Berichterstattung ist also durchaus gegeben.

2. Die journalistische Darstellung des Themas ist gelungen (VERSTÄNDLICHKEIT/VERMITTLUNG).

Der Artikel vermeidet Fachwörter, bis auf den Begriff „Optikusatrophie“ (eine degenerative Erkrankung des Sehnervs), verständlich ist er leider trotzdem nicht. Dafür fehlt es im Text an verschiedenen Ecken an Informationen. Viele Fragen bleiben offen, weder das Krankheitsbild selbst noch die Therapie werden ausreichend erklärt. Zudem wirkt die Sprache zumindest teilweise wie eine nicht ganz gelungene Übersetzung aus dem Englischen. Positiv ist, dass sowohl der betroffene Jugendliche wie auch die Mutter zu Wort kommen.

3. Die Fakten sind richtig dargestellt.

Im journalistischen Beitrag sind einige Angaben nicht korrekt. Schon die zeitlichen Angaben im Text stimmen nicht: Wenn jemand „jahrzehntelang“ ein bestimmtes Essverhalten zeigt, kann er zu Beginn der ersten Krankheitserscheinungen nicht erst 15 Jahre alt sein, wie es im medizinischen Fallbericht zu lesen ist. Diese Altersangabe und damit der Beginn der ersten Krankheitssymptome wird im journalistischen Text ganz unterschlagen, auch wird nicht erwähnt, dass der Junge eine Vitaminsupplementierung erhielt, diese aber offenbar abbrach. Zudem sind die dargestellten Zusammenhänge zur Augenerkrankung und die Liste der Vitaminmängel falsch, schon in der Pressemitteilung sind andere und mehr Substanzen genannt. So kann ein Vitamin-D-Mangel nicht zu einer Degeneration des Sehnervs führen. Auch wird Kupfer als Vitamin genannt, was nicht korrekt ist.

Medizinjournalistische Kriterien: 0 von 10 erfüllt

Allgemeinjournalistische Kriterien: 1 von 3 erfüllt

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Kriterium erfüllt

Kriterium nicht erfüllt

Kriterium nicht anwendbar