Der Artikel auf Zeit Online hat eine faszinierende Thematik aufgegriffen: Ob es wohl möglich ist, das Altern aufzuhalten oder gar umzukehren. Im Text wird eine neue Studie beschrieben, die allerdings bislang nur auf einem Kongress vorgestellt und nicht den üblichen Peer-Review-Prozess eines Fachjournals durchlaufen hat. Zwar wird dies im Artikel mehrfach erläutert, doch gleichzeitig ist von einer „Zeitenwende“ und einer möglichen „Revolution“ die Rede, was den Lesern und Leserinnen suggerieren könnte, dass es sich hier um einen bedeutenden wissenschaftlichen Durchbruch handelt.
Zusammenfassung
Der Beitrag greift einen uralten Wunsch der Menschheit auf – den Versuch, das Altern aufzuhalten oder gar umzukehren. Allerdings wird in diesem Text höchst ungesicherten Studienerkenntnissen viel Raum und Bedeutung beigemessen. Zwar werden einzelne Schwächen der Studie erläutert. Insgesamt schwankt der Text aber zwischen unverhohlener Begeisterung und der nötigen journalistischen Distanz hin und her. Es fehlt jegliche Einordnung, dass in den letzten Jahrzehnten schon häufiger ein solcher Jungbrunnen als kurz bevorstehend angekündigt wurde. Sicher wären die „Folgen einer solchen Therapie unabsehbar“, wie es im Beitrag heißt. Die Schlussfolgerung, allein deshalb lohne es sich, darüber zu berichten, teilen wir nicht. Vor einem eventuellen breiten Einsatz des Verfahrens stünden ja in jedem Fall größere, bessere Studien – hier ist also keine Eile geboten. Besser als ein solcher Schnellschuss von einer Konferenz wäre es aus unserer Sicht gewesen, die Publikation abzuwarten, unabhängige, auch kritische, Experten zu befragen und dann einen besser fundierten Beitrag zu verfassen.
Medizinjournalistische Kriterien
1. Der NUTZEN ist ausreichend und verständlich dargestellt.
Trotz langer Beschreibungen bleibt der Nutzen unklar und nicht quantifiziert. Es wird zwar der Effekt der Behandlung auf verschiedene messbare Faktoren beschrieben – mutmaßliches Thymuswachstum, verändertes Profil von Blutzellen und DNA-Methylierung als Biomarker. Auch heißt es: „Die Thymusvermessungen und Horvaths Altersbestimmungen sind statistisch hochsignifikant, was bei einer derart kleinen Gruppe auf einen starken Effekt hindeutet.“ Wie stark der Effekt aber sein soll (z.B. wie groß ist der Gewinn von Thymusgewebe?), bleibt unklar. Daraus wird eine Verjüngung um 2,5 Jahre postuliert, wobei nicht klar ist, wobei nicht klar wird, ob es sich dabei um einen Mittelwert handelt (mit breiter oder enger Streuung) oder wie dieser Wert statistisch zustande kommt. Ob die Versuchspersonen aber tatsächlich weniger Infekte oder andere altersbedingte Erkrankungen hatten oder gar später sterben werden als ohne die Behandlung, bleibt dabei offen. Mangels Kontrollgruppe und in einer so kleinen Studie lassen sich dazu wohl auch kaum belastbare Aussagen treffen. Zudem heißt es verwirrenderweise: „Kein Placeboeffekt allein wird einem Mann im sechsten oder siebten Lebensjahrzehnt einen neuen Thymus wachsen lassen“, was freilich nicht das Resultat der Studie ist.
2. RISIKEN und Nebenwirkungen werden angemessen berücksichtigt.
Nebenwirkungen werden thematisiert. Es heißt: „Metformin und vor allem hGH können schwere und gefährliche Nebenwirkungen haben.“ Weiter ist zu lesen: „Während hGH das Thymusgewebe zum Wachsen anregen soll, dienen die beiden Letzteren vor allem dazu, seine Nebenwirkungen zu blockieren – zu hohe Insulinspiegel und Diabetes.“ Und schließlich: „Nebenwirkungen: keine nennenswerten.“ Einschränkend heißt es zum Ende des Artikels noch: „Unklar ist auch, (…) ob es nicht doch später oder bei wiederholter Behandlung zu Nebenwirkungen kommt.“ Aufgrund der Länge des Artikels hätte man sich allerdings eine ausführlichere Darstellung möglicher konkreter, schwerwiegender Nebenwirkungen wünschen können.
3. Die Qualität der Evidenz (STUDIEN) wird richtig eingeordnet.
Der Beitrag weist zumindest darauf hin, dass es sich um eine sehr kleine Studie ohne Kontrollgruppe handelt, deren Ergebnisse möglicherweise bei einer Überprüfung durch eine größere Studie „kollabieren“ könnten. Vorsicht sei geboten. „Gründe für Skepsis gibt es genug: Wie eingangs erwähnt, ist die Studie mit nur neun Freiwilligen sehr klein und hat die Begutachtung durch Fachwissenschaftler noch nicht bestanden. Außerdem gab es keine mit Placebo behandelte Kontrollgruppe, was allerdings in einer frühen Testphase nicht ungewöhnlich ist.“ Dennoch wird für Laien nicht ausreichend deutlich, dass in einer solchen Studie gar keine wirkliche Lebensverlängerung beobachtet werden kann. Der Satz „Die neun Männer hatten zweieinhalb Jahre Lebenszeit gewonnen“ beschreibt einen angeblichen Effekt, der so gar nicht messbar ist. Daher werten wir nur knapp „ERFÜLLT“.
4. Es werden weitere EXPERTEN/Quellen zitiert und es wird auf INTERESSENSKONFLIKTE hingewiesen.
Der Interessenskonflikt – die Wissenschaftler betreiben eine Firma und suchen Risikokapital – wird benannt. Es fehlt jedoch eine kritische Einschätzung der Ergebnisse durch einen oder besser mehrere unabhängigen Experten. Neben den Studienautoren wird lediglich kurz der „Verjüngungsforscher“ Aubrey Grey angeführt, der die Ergebnisse „beeindruckend“ und „hochmotivierend“ nennt, ansonsten aber keine inhaltliche Einschätzung liefert. Hier fehlt auch der Hinweis, dass Grey als Forscher höchst umstrittenen ist. Seit vielen Jahren prophezeit er, dass Menschen bald unsterblich sein werden (siehe z.B. hier).
5. Der Beitrag geht über die PRESSEMITTEILUNG hinaus.
Keine Pressemitteilung vorhanden.
6. Der Beitrag macht klar, wie NEU der Ansatz wirklich ist.
Die vorgestellten Ergebnisse werden als neu, ja gar als „Revolution“ bezeichnet. Ob mit den genannten Mitteln schon länger experimentiert wird, oder ob dieser Ansatz allein von den genannten Forschern verfolgt wird, erfahren Leserinnen und Leser nicht. Metformin beispielsweise wird auch in anderen Anti-Aging-Studien getestet (pharmazeutische-zeitung.de/ausgabe-072018), über DHEA wurde schon 1995 diskutiert. (focus.de/gesundheit/news)
7. Es werden ALTERNATIVE Behandlungsarten/Produkte/Tests vorgestellt.
Zwar wird im Beitrag allgemein auf Alternativen eingegangen: „Eine ganze Reihe von Medikamenten und Verfahren werden erprobt, die das Altern bremsen, aufhalten oder sogar umkehren könnten“. Es werden aber keine anderen Mitteln und Verfahren vorgestellt, die immer wieder einmal als medizinischer Jungbrunnen angepriesen wurden. Daher werten wir knapp „NICHT ERFÜLLT“.
8. Es wird klar, ob oder wann ein(e) Therapie/Produkt/Test VERFÜGBAR ist.
Zwar wird im Beitrag allgemein auf Alternativen eingegangen: „Eine ganze Reihe von Medikamenten und Verfahren werden erprobt, die das Altern bremsen, aufhalten oder sogar umkehren könnten“. Es werden aber keine anderen Mitteln und Verfahren vorgestellt, die immer wieder einmal als medizinischer Jungbrunnen angepriesen wurden. Daher werten wir knapp „NICHT ERFÜLLT“.
9. Der Beitrag geht (angemessen) auf die KOSTEN ein.
Kosten des Ansatzes sind nicht thematisiert worden. Das wäre aufgrund der Länge des Beitrags und der Tatsache, dass die Wirkstoffe verfügbar sind und auch, dass in der beschriebenen Verjüngungsszene oftmals mit teuren Nahrungsergänzungsmitteln hantiert wird, angebracht gewesen.
10. Der Beitrag vermeidet Krankheitsübertreibungen/-erfindungen (DISEASE MONGERING).
Der Artikel (wie auch die Studie) misst dem sogenannten biologischen Alter eine große Bedeutung zu, das durch Laborparameter gemessen wird (DNAmGrimAge-Clock): „Das biologische Alter ist, wenn man so will, das richtige Alter eines Menschen.“ Weiter heißt es: „Wer das biologische Alter nutzt, kann viel präziser vorhersagen, ob ein Mensch eine altersbedingte Krankheit bekommen oder gar in Kürze sterben wird.“ Aufgrund der Tatsache, dass die Bedeutung dieser Ansätze nicht hinreichend belegt ist, werten wir diese unkritische Darstellung als Disease Mongering.
Allgemeinjournalistische Kriterien
1. Das THEMA ist aktuell, relevant oder ungewöhnlich.
Die Resultate und der Ansatz sind ungewöhnlich, der Kongress ein aktueller Anlass und das Thema Altern ist ein sehr relevantes. Andererseits wurde die Studie noch nicht in einem Fachjournal veröffentlicht und fällt so klein aus, dass man sich auch gegen ein Thematisieren hätten entscheiden können. Für die Veröffentlichung spricht, dass die Redaktion die Studie zumindest einsehen konnte. Ohne diese Möglichkeit hätten wir eine Veröffentlichung für nicht angebracht gehalten. Alles in allem werten wir daher knapp „ERFÜLLT“.
2. Die journalistische Umsetzung des Themas ist gelungen? (VERSTÄNDLICHKEIT/VERMITTLUNG)
Der Beitrag ist schön geschrieben, gut verständlich und teils mitreißend. Gleichwohl irritiert das Schwanken zwischen der fachlich gut begründeten Skepsis und einer immer wieder durchbrechenden Begeisterung mit vollmundigen Formulierungen wie „Revolution“, „das ewige Gesetz des Lebens außer Kraft setzen“, „Wer braucht noch Götter, wenn der Tod gestorben ist“, oder auch, es ließe sich „das wahre Alter“ eines Menschen bestimmen (wie wäre das definiert?). Diese von Superlativen geprägte Sprache vermittelt vor allem den Eindruck, dass hier revolutionäre und sehr bedeutende Forschung gemacht wurde – etwas, das die Studie keineswegs halten kann. Aufgrund dieses verwirrenden Widerspruchs zwischen Darstellung und Details werten wir knapp „NICHT ERFÜLLT“.
3. Die Fakten sind richtig dargestellt?
Die Formulierung, die Versuchspersonen hätten „zweieinhalb Jahre Lebenszeit gewonnen“, ist nicht haltbar. Der Versuch lief überhaupt nur über einen Zeitraum von zwölf Monaten, eine Vergleichsgruppe gab es nicht, und es wurden lediglich Biomarker gemessen, die mit der Lebensdauer assoziiert sind. Ob eine Veränderung der Marker aber das Leben der Teilnehmer tatsächlich verlängern wird, ist völlig unklar.