Bewertet am 4. Juni 2019
Veröffentlicht von: Die Welt

Auf Intensivstationen geht es erstaunlich laut zu. Was für die Genesung erwachsener Patienten nicht förderlich ist, kann für Frühgeborene sogar schwerwiegende Folgen haben. Studien deuten darauf hin, dass der Lärm sie unter Stress setzt und ihre Entwicklung stört. Womöglich kann Musik dem entgegenwirken, berichtet Die Welt in Bezug auf eine aktuelle Studie und nutzt dafür weitgehend die Pressemitteilung, weitere Quellen neben der Originalstudie werden nicht herangezogen.

Zusammenfassung

Der Artikel widmet sich einem schwierigen Thema. Es geht um Frühchen, die in ihrer Entwicklung besonders sensibel reagieren, und um eine Therapie, deren Effekte schwer als kausal auszumachen sind, weil womöglich andere Faktoren eine Rolle spielen. Insofern ist es lobenswert, dass der Autor sich nicht gescheut hat, sich der Beitrag diesem Thema zu widmen. Allerdings geht der Beitrag kaum über die Pressemitteilung der Universität Genf hinaus. Es werden keine unabhängigen Experten zitiert, die Ergebnisse werden nicht eingeordnet – ob es bereits ähnliche Studien gab, bleibt unerwähnt. Auch wird nicht im Detail auf die Methodik und die Ergebnisse der Studie eingegangen, so dass nicht nachvollziehbar ist, wie gut die Interpretationen der Studienautoren durch die Ergebnisse gestützt sind. Die Methodik ist z.T. falsch dargestellt. Der Text ist gut und verständlich geschrieben. Alles in allem ein Text, der ein interessantes Thema aufgreift, aber weder das Vergehen der Wissenschaftler noch die Ergebnisse ausreichend genau beschreibt.

Title

Medizinjournalistische Kriterien

1. Der NUTZEN ist ausreichend und verständlich dargestellt.

Im Text wird lediglich beschrieben, dass die Gehirne frühgeborener Babys „Schäden davongetragen“ haben und auf Intensivstationen eigentlich zu viel Lärm herrscht. Anschließend wird der Nutzen der Musiktherapie sehr allgemein erklärt: Offensichtlich beruhigt die Musik die Frühchen und stimuliert die Vernetzung einzelner Hirnregionen. Der Nutzen wird jedoch nicht quantifiziert. Es wird nicht klar, bei wie vielen der beschallten Frühchen die besseren Vernetzungen im Gehirn beobachtet wurden. Daher werten wir „NICHT ERFÜLLT“.

2. RISIKEN und Nebenwirkungen werden angemessen berücksichtigt.

Es werden keine Risiken oder Nebenwirkungen im Text erwähnt. Zwar werden auch in der Publikation keine aufgeführt. Dennoch hätte die Frage gestellt werden sollen, ob die Beschallung der Kinder auch schädlich sein könnte. Daher werten wir „NICHT ERFÜLLT“.

3. Die Qualität der Evidenz (STUDIEN) wird richtig eingeordnet.

Der Textabschnitt, der sich mit der Messmethodik und dem eigentlichen Ergebnis beschäftigt, fällt ausgesprochen kurz aus. Dabei ist doch genau dieser Aspekt entscheidend. Nur so lässt sich beurteilen, ob sich die Schlussfolgerungen der Forscher wirklich aus den Daten und Messungen ableiten lassen. Wie zuverlässig sind diese Interpretationen? Gehen die Forscher vielleicht zu weit in ihren Schlussfolgerungen? Darüber hätten wir gern noch mehr gelesen. Die Methodik der Hirnuntersuchung ist nicht korrekt beschrieben (siehe allgemeinjournalistisches Kriterium 3), und vieles bleibt unklar – etwa, warum eigens Musik für die Frühgeborenen komponiert wurde, und ob diese wirklich einen anderen Effekt hat, als andere beruhigende Musikstücke. Daher werten wir „NICHT ERFÜLLT“.

4. Es werden weitere EXPERTEN/Quellen zitiert und es wird auf INTERESSENSKONFLIKTE hingewiesen.

Es werden keine unabhängigen Experten zitiert, die die Studienergebnisse einordnen. Auch fehlen Informationen zur Finanzierung.

5. Der Beitrag geht über die PRESSEMITTEILUNG hinaus.

Zu der vorgestellten Studie haben wir zwei Pressemitteilungen gefunden, eine der Universität Genf unige.ch/communication und eine der Fachzeitschrift PNAS, in der die Arbeit publiziert wurde eurekalert.org/pub_releases. Zwar wurde die plastische Einleitung des Beitrags offenbar eigenständig formuliert. Doch inhaltlich geht der Artikel nicht wesentlich über die Informationen hinaus, die den beiden Pressemitteilungen zu entnehmen sind. Daher werten wir „NICHT ERFÜLLT“.

6. Der Beitrag macht klar, wie NEU der Ansatz wirklich ist.

Es heißt: „Die Ärzte versuchen deshalb seit sechs Jahren, diesem Stress mit anderen, sanfteren Geräuschen entgegenzusteuern.“ Am Schluss des Textes findet sich der Hinweis, dass die ersten Kinder, die mit Musik behandelt wurden, inzwischen sechs Jahre alt sind und bald wieder untersucht werden sollen. Es wird also deutlich, wie lange die Mediziner bereits daran arbeiten. Ob andere Forscher bereits die Effekte einer Musiktherapie an Frühchen untersucht haben, bleibt allerdings offen. Man hätte auch Bezug darauf nehmen können, dass es schon länger Ansätze gibt, Musik in der Behandlung von Früchen einzusetzen (z.B. idw-online.de, eurekalert.org/pub_releases). Daher nur knapp „ERFÜLLT“.

7. Es werden ALTERNATIVE Behandlungsarten/Produkte/Tests vorgestellt.

Es werden keine weiteren Verfahren genannt, mit denen man den Hirn-Reifungsprozess der Kinder in den ersten Wochen auf Intensivstation fördern könnte.

8. Es wird klar, ob oder wann ein(e) Therapie/Produkt/Test VERFÜGBAR ist.

Es wird im Text nicht darauf eingegangen, ob diese Art der Musiktherapie bereits zur Verfügung steht.

9. Der Beitrag geht (angemessen) auf die KOSTEN ein.

Dieses Kriterium ist für diesen Beitrag nicht anwendbar, weil sich die Frage nach den Kosten beim Abspielen von Musik über Kopfhörer primär nicht stellt.

10. Der Beitrag vermeidet Krankheitsübertreibungen/-erfindungen (DISEASE MONGERING).

Die Situation des Frühgeborenen wird mehrfach dramatisiert, was eigentlich unnötig ist: „Frühchen sind winzige, zarte Wesen, noch nicht für die Welt gerüstet, sie müssen in Inkubatoren wachsen, weil sie zu wenig Zeit im Mutterleib verbracht haben.“ Oder auch hier: „Die Gehirne dieser Kinder haben Schäden davongetragen, und dazu habe auch der Stress der Station, die ihr Leben gerettet hat, beigetragen.“ Doch ist dies als journalistische Zuspitzung aus unserer Sicht noch akzeptabel, daher werten wir knapp „ERFÜLLT“.

Allgemeinjournalistische Kriterien

1. Das THEMA ist aktuell, relevant oder ungewöhnlich.

Wie Frühgeborene besser versorgt und in ihrer Entwicklung gefördert werden können, ist ein wichtiges Thema.  Zudem ist die Studie aktuell in einem renommierten Fachblatt erschienen.

2.Die journalistische Umsetzung des Themas ist gelungen? (VERSTÄNDLICHKEIT/VERMITTLUNG)

Der Text hat keine klare Struktur: Es heißt zu Beginn, dass die Babys es mögen, Musik zu hören, dann folgen etwas umständliche Erklärungen zur grundlegenden Situation und zur eigentlichen Studie. Erst gegen Ende des Artikels wird das Thema auf die bessere Vernetzung der Hirnregionen gelenkt. Schade ist auch, dass der Text manchmal grob vereinfacht. Aus „The most affected network is the salience network which detects information and evaluates its relevance at a specific time, and then makes the link with the other brain networks that must act. This network is essential, both for learning and performing cognitive tasks as well as in social relationships or emotional management,” says Lara Lordier.“ fasst der Autor sehr allgemein zusammen:  „In den Gehirnen der Frühchen, die regelmäßig die Musik gehört hatten, waren einzelne Regionen besser miteinander vernetzt, ergab die Auswertung der Bilder.“ Die in der Überschrift aufgeworfene Frage, warum Flötenklang angeblich die Lieblingsmusik ist, wird im Text nicht beantwortet.

3. Die Fakten sind richtig dargestellt.

Im Artikel heißt es, die Gehirne seien mittels Computertomografie untersucht worden  – das wäre also mit Röntengestrahlen. Tatsächlich wurde laut Studie (und auch in der Pressemitteilung korrekt benannt) die funktionale Magnetresonanztomographie eingesetzt. Ein völlig anderes Verfahren, das nicht mit Röntengestrahlen arbeitet. Wegen dieses Faktenfehler, werten wir „NICHT ERFÜLLT“. Auch das Gesamtergebnis haben wir deshalb um einen Stern abgewertet.

Im Text heißt es außerdem, dass die Untersuchung an 39 Bay durchgeführt wurde. Doch fällt beim Lesen der Pressemitteilung von PNAS (eurekalert.org/pub_releases) bereits auf, dass es am Ende doch weniger Kinder waren, die durchgängig untersucht werden konnten.

Medizinjournalistische Kriterien: 2 von 9 erfüllt

Allgemeinjournalistische Kriterien: 2 von 3 erfüllt

Title

Kriterium erfüllt

Kriterium nicht erfüllt

Kriterium nicht anwendbar