Bewertet am 1. September 2015
Veröffentlicht von: Frankfurter Allgemeine Zeitung
Die FAZ greift das Problem auf, dass das Aussterben wirbelloser Tiere von Wissenschaft und Öffentlichkeit wenig wahrgenommen wird. Der Beitrag beschreibt die Kritik, die Forscher der University of Hawaii an den „Roten Listen“ der Weltnaturschutzunion IUCN üben; die Kritisierten kommen indes nicht zu Wort.

Zusammenfassung

Der Artikel in der FAZ schildert die Ergebnisse zweier Untersuchungen einer Forschergruppe der University of Hawaii in Manoa und ihren Appell, der Gefährdung wirbelloser Tierarten größere Beachtung zu schenken. Die Forscher fanden, dass weit mehr Schneckenarten ausgestorben sind als bisher bekannt. Vorgehensweise und Argumentation der Wissenschaftler werden gut erklärt, ebenso deren Kritik an den „Roten Listen“ der Weltnaturschutzunion IUCN. Diese vernachlässigten demnach systematisch die größte Tiergruppe der Erde – die Wirbellosen, also z.B. Insekten, Krebse, Spinnen und Weichtiere. Als Grund nennen Forscher und Zeitungsartikel, dass für die meisten Wirbellosen zu wenig Daten vorlägen, um sie nach den Kriterien der Roten Listen begutachtet zu können.

In ihren Studien, die in den Zeitschriften „Conservation Biology“ und „PNAS“ erschienen, untersuchten die Forscher eine Familie von Landschnecken auf Hawaii und 200 verschiedene Landschneckenarten weltweit; dabei kamen sie zu dem Schluss, dass schon weit mehr Tierarten ausgestorben sind, als die IUCN angibt (siehe auch unser Gutachten vom 10.2.2015). Unklar bleibt indes, ob und inwiefern die Ergebnisse der zwei Studien zu Schnecken sich tatsächlich auf alle anderen Wirbellosen übertragen lassen. Der Beitrag schließt sich hier weitgehend der Darstellung der zitierten Forscher an, eine Einschätzung durch eine unabhängige Quelle fehlt. Über das Nachvollziehen der Fachpublikationen geht der Artikel kaum hinaus. Es wird Kritik am Vorgehen der IUCN beim Erstellen der Roten Listen geübt, ohne einen Vertreter dieser Organisation dazu zu befragen. Auch erfährt man nicht, dass innerhalb der IUCN diese Problematik schon länger diskutiert wird.

Title

Umweltjournalistische Kriterien

1. KEINE VERHARMLOSUNG/ PANIKMACHE: Umweltprobleme werden weder bagatellisiert noch übertrieben dargestellt.

Der Beitrag stellt das Problem dar, dass der Rückgang der Artenvielfalt offensichtlich unterschätzt wird, wenn man ausschließlich die Daten der Weltnaturschutzunion IUCN betrachtet. Der Artikel folgt hier der Darstellung der zugrunde liegenden Fachveröffentlichungen, dass die Gruppe der Wirbellosen, zu der ca. 99 Prozent aller Tierarten gehören, durch die Roten Listen der IUCN nicht angemessen erfasst wird. Die Argumente dazu sind größtenteils nachvollziehbar dargelegt, die Problematik wird nicht übertrieben. Sprachlich ist der Beitrag recht nüchtern gehalten und verzichtet auf Alarmismus. Auch macht der Artikel transparent, dass hier in erster Linie die Argumentation der Forscher wiedergegeben wird.
Allerdings werden einige Zahlen im Vergleich zur Fachveröffentlichung verkürzt wiedergegeben und die Aussage damit stark zugespitzt – siehe dazu Kriterium 2, Belege.

2. BELEGE/ EVIDENZ: Studien, Fakten und Zahlen werden so dargestellt, dass deren Aussagekraft deutlich wird.

Der Artikel nennt etliche Zahlen, die das Ausmaß des Artensterbens im Allgemeinen und die Lage der untersuchten Schneckenarten im Besonderen deutlich machen. Dabei sehen wir zwei Probleme: Zum einen spitzt der Beitrag die Forschungsergebnisse zu den Schnecken z.T. stark zu. So heißt es im Zeitungsartikel: „Die Wissenschaftler konnten nur noch 15 der 325 Arten aufspüren. 95 Prozent der Landschneckenfamilie sind damit mutmaßlich verschwunden.“ In der Studie heißt es dagegen sehr viel vorsichtiger, dass die Forscher für 179 Arten nicht genügend Hinweise für ihr weiteres Vorhandensein aber auch nicht für ihr Aussterben finden konnten. Solche Unsicherheiten werden im Artikel nicht genügend kenntlich gemacht.

Zum anderen wird nicht erläutert, inwiefern die Ergebnisse der Schnecken-Studien auf andere Wirbellose zu übertragen sind. Es geht im journalistischen Beitrag unter, dass die Hauptargumentation der Forscher auf der Untersuchung einer nur auf Hawaii vorkommenden (endemischen) Familie von Landschnecken beruht. Solche Tierarten, die in geografischer Isolation leben, sind in anderer Weise gefährdet sind als weitverbreitete Organismen. (Im Originalpaper kommt dies durchaus zur Sprache.) Der Artikel geht nicht auf die naheliegende Frage ein, ob Landschnecken ohne weiteres als repräsentativ für die gesamte Gruppe der Wirbellosen gelten können. „Auch andere wirbellose Tierarten wie Insekten seien zu einem ähnlich hohen Anteil ausgestorben wie die Landschnecken. Beide Tiergruppen hätten vergleichbare Ansprüche an ihren Lebensraum und ein ähnlich begrenztes Verbreitungsgebiet“, heißt es im Artikel. Dies scheint uns kaum glaubhaft – ist doch kaum eine Tiergruppe so weiträumig verbreitet wie die Insekten.

3. EXPERTEN/ QUELLENTRANSPARENZ: Quellen werden benannt, Interessenkonflikte deutlich gemacht.

Der Beitrag beruft sich vor allem auf auf die Autoren eines Fachaufsatzes in „Conservation Biology“, insbesondere auf die federführende Wissenschaftlerin Claire Régnier. Dass die statistische Untersuchung des „subjektiven Ansatzes“ (Experten schätzen die Gefährdungsstufe einer Art) in einem zweiten Fachaufsatz (in PNAS) publiziert ist, wird nur indirekt deutlich. Beide Quellen stammen aus dem gleichen Forscherteam.
Es wird außerdem klar, dass die Naturschutzorganisation IUCN mit den Roten Listen einen anderen Ansatz verfolgt, der zumindest kursorisch beschrieben ist. Allerdings hätten wir es sinnvoll gefunden, auch hier eine konkrete Quelle heranzuziehen bzw. einen Vertreter dieser Organisation zu befragen (siehe Kriterium 4). Die IUCN als Organisation, die eine wichtige Rolle in der Weltnaturschutzpolitik spielt, gleichwohl aber nicht allen Leserinnen und Leser bekannt sein dürfte, wird nicht genauer eingeordnet.
Interessenskonflikte thematisiert der Artikel nicht, solche sind für uns aber auch nicht erkennbar. Wir werten „knapp erfüllt“.

4. PRO UND CONTRA: Die wesentlichen Standpunkte werden angemessen dargestellt.

Der Artikel gibt den Standpunkt von Régnier und KollegInnen wieder und spitzt deren Argumentation weiter zu. Demnach scheint deren Methodik besser geeignet, das Aussterben der Arten zu messen, als das Vorgehen der IUCN. Leserinnen und Leser erfahren nicht, dass die Bewertungskriterien für die Führung der Roten Listen der IUCN in einem langen Diskussionsprozess zwischen Regierungen, Umwelt-NGOs und Wissenschaftlern erarbeitet worden sind. Auch thematisiert der Beitrag nicht, dass seit Jahren bei den IUCN-Kongressen darüber diskutiert wird, wie wirbellose Arten besser in den Listen repräsentiert werden können. Hier wäre die Stellungnahme eines Repräsentanten der IUCN zu dieser Kritik nötig, oder zumindest eine entsprechende Quelle. Dann wäre womöglich auch zur Sprache gekommen, dass das Rote-Liste-Werk der IUCN durchaus differenzierter ist, und dass es z.B. auch Rote Listen für Habitatstypen gibt. Diese erfassen zumindest indirekt auch die Gefährdung wirbellose Tiere, da diese meist in erster Linie durch die Bedrohung ihres Lebensraumes gefährdet sind.

5. Der Beitrag geht über die PRESSEMITTEILUNG/ das Pressematerial hinaus.

Der Artikel geht eindeutig über die Pressemitteilung der University of Hawaii in Manoa hinaus, er enthält weitere Informationen aus den Fachpublikationen. Die federführende Autorin und ihre Kollegen werden auch direkt und indirekt mit Äußerungen zitiert, die so nicht in den Publikationen stehen; daher ist zu vermuten, dass Kontakt zu den Wissenschaftlern aufgenommen wurde.

6. Der Beitrag macht klar, wie ALT oder NEU ein Umweltproblem, eine Umwelttechnik, ein Regulierungsvorschlag o.ä. ist.

Es wird deutlich, dass der Beitrag über aktuelle Studien zu einem seit langem bestehenden Problem berichtet – die Erfassung von wirbellosen Arten in verschiedenen Lebensräumen. Der Artikel führt aus, dass es die Roten Listen bedrohter Arten seit 50 Jahren gibt und impliziert zumindest, dass das Problem der unterschätzten Gefährdung wirbelloser Arten durch die spezifischen Gefährdungskriterien praktisch von Beginn an bestanden hat. Klare Informationen dazu, wie lange das Thema schon verhandelt wird, sind dem Text aber nicht zu entnehmen. Deshalb werten wir „knapp erfüllt.“

7. Der Beitrag nennt - wo möglich - LÖSUNGSHORIZONTE und HANDLUNGSOPTIONEN.

Die Autorin zeigt eine Handlungsoptionen auf, die auch die Wissenschaftler in ihren Fachartikeln anbieten: Neben den in wissenschaftlichen Zeitschriften oder Gutachten publizierten Informationen sollen auch bisher ungenutzte, teils informelle Quellen des Wissens über wirbellose Arten ausgewertet werden, wie z.B. Sammlungen/Aufzeichnungen naturhistorischer Museen und nicht publiziertes Expertenwissen über einzelne Arten und Tiergruppen. Allerdings wird die Frage, wie zuverlässig diese Methodik wäre, nur kurz angesprochen (im Vergleich von Expertenwissen mit Computersimulationen) und nicht mit anderen Fachleuten diskutiert.

8. Die RÄUMLICHE DIMENSION (lokal/ regional /global) wird dargestellt.

Aus dem Artikel geht klar hervor, dass es sich sowohl beim „sechsten Massensterben der Erdgeschichte“ als auch bei der unterschätzten Gefährdung wirbelloser Arten um ein globales Problem handelt. Bei den vorgestellten Studien wird deutlich, dass es in einem Fall um Hawaii als speziellen Lebensraum geht; in der zweiten Studie sind 200 Schneckenarten aus aller Welt ausgewählt worden, um die Methode zu erproben. Das wird in dem Text ausreichend deutlich.

9. Die ZEITLICHE DIMENSION (Nachhaltigkeit) wird dargestellt.

Am Anfang des Artikels wird allgemein festgestellt, dass das Artensterben auf der Erde sich „seit mehreren Jahrhunderten“ dramatisch beschleunige. Woher diese Angabe stammt, bleibt unklar. Auch erfährt man nicht, welche Zeiträume die Forscher bei ihrer Datenerhebung zu Schnecken auf Hawaii miteinander verglichen haben, obwohl dies in dem Fachaufsatz in „Conservation Biology“ ausführlich dargelegt ist. In der PNAS-Publikation wird darauf hingewiesen, dass seit den 1980er Jahren darüber diskutiert wird, ob sich die Erde in einem weiteren dramatischen „Aussterbeereignis“ befindet – auch diese Information fehlt im journalistischen Beitrag. Der Zeitraum, auf den die Rote Liste sich bezieht (ausgestorbene Arten seit 1600), wird ebenfalls nicht genannt.

10. Der politische/ wirtschaftliche/ soziale/ kulturelle KONTEXT (z.B. KOSTEN) wird einbezogen.

Dass der Verlust von Arten ökonomische, soziale, ökologische und kulturelle Verluste mit sich bringt, ist in dem Beitrag nicht erwähnt. Auch kommt nicht zur Sprache, dass der Hauptgrund des gegenwärtigen Artensterbens die Zerstörung von Lebensräumen durch den Menschen ist (nicht nur das Einschleppen fremder Tierarten). Wer von dieser Habitatszerstörung profitiert und sie vorantreibt, wird nicht thematisiert. Der Beitrag spricht auch nicht an, welche internationalen und nationalen umweltpolitischen Maßnahmen für einen effektiveren Artenschutz nötig wären, und welche Bestrebungen es dafür gibt.

Allgemeinjournalistische Kriterien

1. Das THEMA ist aktuell, relevant oder originell. (THEMENAUSWAHL)

Das Thema ist angesichts des weltweit fortschreitenden Artensterbens dauerhaft relevant, aktuell wird es durch die beiden kürzlich erschienenen Fachpublikationen. Die Vernachlässigung der wirbellosen Tiere bei der Untersuchung des Artensterbens ist außerdem ein selten behandelter Aspekt.

2. Die journalistische Darstellung des Themas ist gelungen. (VERSTÄNDLICHKEIT/VERMITTLUNG)

Der Artikel liest sich leicht; er hat eine These, einen roten Faden, ist verständlich geschrieben und klar aufgebaut. Es gelingt, die Vorgehensweise der Wissenschaftler und ihre Schlussfolgerungen nachvollziehbar zu erklären (Einschränkungen siehe umweltjournalistisches Kriterium 2, Belege) . Passagenweise ist der Artikel ein wenig spröde, da der Text weitgehend auf einer allgemeinen Ebene bleibt und kaum anschauliche Beispiele bringt (z.B. welche Tiere in der Öffentlichkeit als besonders schützenswert wahrgenommen werden, und welche nicht).

3. Die Fakten sind richtig dargestellt. (FAKTENTREUE)

Der Text enthält einige Ungenauigkeiten. So heißt es im Beitrag, dass laut IUCN lediglich 0,05 Prozent aller Arten ausgestorben seien, laut Studie sind es 0,04 Prozent. Letzteres ergibt sich auch aus den im Artikel genannten Zahlen. Wir werten daher „knapp erfüllt“.

Umweltjournalistische Kriterien: 6 von 10 erfüllt

Allgemeinjournalistische Kriterien: 3 von 3 erfüllt

Title

Kriterium erfüllt

Kriterium nicht erfüllt

Kriterium nicht anwendbar